Links ist nicht gleich Rechts

Nie wieder Mitte!

Das Problem am Extremismusbegriff ist nicht allein seine mangelnde Erklärungskraft, sondern auch das ihm zu Grunde liegende Bild von Gesellschaft und Politik, das mit dem Begriff übernommen wird. Damit läuft die Linke Gefahr, sich von ihrem emanzipatorischen Anspruch zu verabschieden.

»Extremismus« und »Totalitarismus« sind politische Kampfbegriffe, die in ihrer instrumentellen Verwendung in erster Linie dem Staat dienen und zudem an Erklärungskraft zu wünschen übrig lassen. Während dies in keinem Debattenbeitrag grundlegend in Zweifel gezogen wird, scheint die Notwendigkeit einer Kritik an den Begriffen oder gar die Forderung einer konsequenten Absage an sie durchaus in Frage zu stehen.
Sebastian Voigt (Jungle World 14/2010) behauptet, »wer gegen jeden Extremismusbegriff argumentiert, homogenisiert unzulässig die politische Mitte und täuscht über gesellschaftliche Widersprüche hinweg«. Peter Jonas (17/2010) macht eine »antifaschistische Extremismusformel« aus, die »von einer qualitativen Bruchlinie innerhalb der Gesellschaft zwischen Zivilisation und Barbarei bzw. faschistischer und demokratischer Ideologie« ausgeht und deshalb »die Momente einer grundsätzlichen, also radikalen und damit antiautoritären Kritik am Kapitalismus zugunsten der vermeintlichen Entscheidung zwischen bürgerlich-kapitalistischen Normalvollzug oder Abgleiten in die faschistisch bzw. nationalsozialistische Barbarei erledigt«. Manfred Dahlmann (18/2010) sieht darin lediglich das übliche Gejammer der Linken, wenn ihr der Staat wieder einmal politisch den Kampf ansagt. Die Zuschreibung als Linksextremist sei vielmehr eine Schmeichelei, denn »der kapitalistische Staat wird (…) diejenigen, von denen er annimmt, dass sie sein Gewaltmonopol in Frage stellen, (…) Linksextremisten schimpfen; denn dieser Begriff ist der Realität, in der dieser Staat agiert, vollkommen adäquat.« In diesem Punkt ist Dahlmann Recht zu geben. Die Frage, die sich dann aber stellt, ist, warum eine Kritik der Extremismusformel gerade deshalb notwendig ist.

Die praktischen Konsequenzen der Extremismusformel lassen sich im politischen Alltag beobachten, wenn eine Gleichsetzung von Links und Rechts über formale Kategorien stattfindet, ohne die inhaltlichen Differenzen begreifen zu können, wenn linke Gesellschaftskritik kriminalisiert wird und wenn Neonazismus einerseits und gesellschaftlich verankerte Ideologien wie Antisemitismus oder Rassismus andererseits verharmlost werden.
Exemplarisch lassen sich hierfür die Reaktionen nach einem der letzten Auswärtsspiele des Roten Stern Leipzig in der nordsächsischen Provinz anführen, das nach antisemitischen Gesängen, rassistischen und homophoben Sprüchen abgebrochen wurde. »Die Auseinandersetzungen rund um das Spiel zeigen, dass der Fußball von rechten und linken gewaltbereiten Extremisten benutzt wird«, warnte der sächsische Innenminister Markus Ulbig (CDU). Und der Presseverantwortliche des SV Mügeln/Ablaß 09 gab den Rote-Stern-Fans den Rat: »Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen!« Schließlich hätten die Leipziger mit Sprechchören angefangen, in denen sie die Mügelner als Nazis beschimpften. In der antiextremistischen Lesart ist das antisemitische »U-Bahn-Lied« das Gleiche wie die Bezeichnung als Nazi – zwei Seiten einer Medaille eben. Übrig bleibt die verbale oder gewaltsame Auseinandersetzung, die als Problem, und zwar als Ordnungsproblem, wahrgenommen wird.
Übernimmt die Linke die Begrifflichkeiten des Extremismusansatzes, indem sie von »Rechts­extremismus« oder »extremer Rechten« spricht, reproduziert sie dessen Bild von Politik und Gesellschaft und verabschiedet sich von einer Politik, die über das Bestehende hinaus gelangen will. Mit dem Totalitarismus- und Extremismusbegriff ist keine Kritik an Staat, Nation und Kapital zu haben, stellt Peter Nowak (16/2010) in seinem Beitrag richtig fest. Beiden geht es in ihrer instrumentellen Verwendung um die Kriminalisierung gesellschaftlicher Alternativen und die Aufrechterhaltung des Status quo. Sarah Uhlmann (15/2010) betont, dass die »Extremismusformel (…) hier mit einem staatsfetischistischen Demokratieverständnis (korreliert)«. Es geht also weder um einen »Taschenspielertrick« (Dahlmann) noch um eine »antifaschistische Extremismusformel« (Jonas). Vielmehr soll die eingeforderte Absage ein Verständnis von Politik und Gesellschaft in Erinnerung rufen, in dem nicht »die Selbstbestimmung des Menschen, die Notwendigkeit politischer Konflikte und ein utopisches Moment zugunsten eines staatlichen Kontrollbedürfnisses und autoritärer Ordnungsvorstellungen aufgegeben werden«. (Uhlmann)

Die Extremismusformel als Schema von Rand und Mitte baut auf einem Verständnis von Gesellschaft als befriedete Konsensgesellschaft und von Politik als kontrollierende und verwaltende Ordnungspolitik auf. Auf der Suche danach, was die ominöse »Mitte« sein soll, zeigt sich, dass diese »Mitte« sich kaum aus sich selbst heraus, sondern lediglich in Abgrenzung von den Extremen bestimmen lässt. Die »gute Mitte« konstruiert sich in der Rede vom Extremismus selbst, ihr inhaltlicher Gehalt bleibt indes im Dunkeln.
Es muss um einen analytischen Zugang gehen, der die Gesellschaft nicht in ein dichotomes Modell presst und dadurch in der Lage ist, gesellschaftliche Widersprüche wahrzunehmen. Der Extremismusformel hingegen geht es um die Sortierung des politischen Spektrums nach gut und böse, richtig und falsch, sagbar und unsagbar, statt politische Positionen an ihren Inhalten zu messen. Der Bereich der »Mitte« stellt sich dabei als das per se Gute und Richtige dar. Er steht für Ausgleich und Gleichgewicht, für Harmonisierung und Überparteilichkeit, für Maß und Ordnung. Jede darüber hinausweisende Idee folgt in dieser Lesart partikularen Interessen ist ideologisch einseitig und führt zu Konflikten und Gewalt. »Die Mitte« hingegen löst den politischen Streit im harmonisierenden Konsens auf und befriedet politische, die »gemäßigte Ordnung« bedrohende Widersprüche.
Das Politische als offener, notwendig widersprüchlicher Aushandlungsprozess zur Frage, wie die Welt, in der wir leben, aussehen soll, wird in diesem Verständnis von Gesellschaft und Politik zum Verschwinden gebracht. Stattdessen geht es der Politik der »guten Mitte« ausschließlich um die Verwaltung des Bestehenden, Mäßigung und die Aufrechterhaltung der Ordnung. Die Rede vom Extremismus verstellt so nicht nur den Blick auf die Gesellschaft, sondern verunmöglicht gleichzeitig politische Auseinandersetzungen.
Diese Tendenzen zur Homogenität, zur Abgeschlossenheit und zur Erzeugung von Widerspruchsfreiheit innerhalb der Gesellschaft hat Manfred Dahlmann im Hinblick auf Hannah ­Arendts »doch viel anspruchsvolleren Totalitarismusbegriff« bereits angesprochen. Arendts Analyse totaler Herrschaft hat tatsächlich nichts zu tun mit den etablierten Totalitarismustheorien, die (zumindest in Sachsen) ganz selbstverständlich angehenden Politikwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern gelehrt werden. Angesichts der hegemonialen Verwendung des Totalitarismusbegriffs erscheint es daher fragwürdig, diesen ausgerechnet mit Hannah Arendt retten zu wollen. Während es jenen, die den Begriff des Totalitarismus heute benutzen, meist darum geht, die Gleichsetzung von Nationalsozialismus und real­existierendem Sozialismus zu rechtfertigen und damit sowohl die Spezifik des NS zu verwischen als auch den demokratischen Verfassungsstaat als einzig mögliche Alternative zu legitimieren, ging es Arendt in ihrer Analyse um das Verstehen: »Was war geschehen? Warum war es geschehen? Wie konnte es geschehen?« – weder also um eine Beschränkung auf formale Kategorien, noch um die Legitimation des Bestehenden. Gerade Letztgenanntes läuft Hannah Arendts politischer Theorie zuwider, vor deren Hintergrund auch ihre Überlegungen zur totalen Herrschaft zu lesen sind. Im Zentrum ihres Werks steht der Begriff des Politischen.

Das Politische oder auch das politische Handeln macht bei Arendt die grundsätzliche Möglichkeit aus, einen neuen Anfang setzen zu können. »Politik hat kein eindeutiges, normatives Ziel, denn nur weil wir nicht wissen, wie wir leben wollen, sondern dieses Ziel immer wieder neu bestimmen müssen, ist Politik überhaupt sinnvoll.« Voraussetzung für das Politische ist die Pluralität der Individuen, Homogenität hingegen dessen Verunmöglichung, weil das Politische im Prozess zwischen den Menschen stattfindet. Das Politische ist für Arendt gleichbedeutend mit Freiheit, als positive Freiheit. Diese zeichnet sich im Gegensatz zur negativen Freiheit nicht durch das Freisein von etwas, sondern durch das Freisein zu etwas aus. Es ist auch nicht die Freiheit, zwischen Vorgegebenem zu wählen, sondern die Freiheit, etwas nicht Vorgegebenes, Unbekanntes zu schaffen. Wird diese Spontaneität verdrängt, die doch grundlegend für das politische Handeln und die Freiheit ist, erstarrt Politik zu automatischen Prozessen. Und damit verschwindet das Politische selbst. Als Sinn von Politik bleiben dann die Gewährleistung von Sicherheit und die Verwaltung des Bestehenden.
Die Extremismusformel als Ausdruck eines Verständnisses von Politik als kontrollierende und verwaltende Ordnungspolitik und von Gesellschaft als befriedete Konsensgesellschaft verhindert das Politische – im Sinne Arendts das politische Handeln –, das sich die Freiheit nimmt, mit dem Bestehenden zu brechen und einen neuen Anfang zu machen. Insofern liefert die politische Theorie Arendts nicht nur Ansatzpunkte, dem Extremismusansatz zu widersprechen, sondern zeigt auf, warum dieses Widersprechen notwendig ist, will die radikale Linke nicht die emanzipatorische Perspektive einer freien Assoziation der Individuen aufgeben.

Die Autorin engagiert sich im Projekt a.l.i.a.s. Dresden, das den Aufruf der Inex unterstützt.