Über leere Begriffe und politische Inhalte

Extremer als die Polizei erlaubt

Der Begriff des Extremismus sagt rein gar nichts über politisch Inhalte aus. Um die aber geht es. Statt zu fragen, was »extremistisch« sei, sollte man fragen, was emanzipatorisch ist und was reaktionär. Seitens der Linken gibt es beides. Seitens der Rechten aber nicht. Das macht den Unterschied.

Ein Begriff, der nichts Relevantes über seinen Gegenstand aussagt, ist untauglich. Diese Binsenweisheit trifft auf den Begriff des »Extremismus« vollkommen zu. Der Begriff lässt sich nur heranziehen, wenn man ihn in Bezug zu etwas setzt, in diesem Falle zu den »Rändern« des politischen Spektrums. Die Idee vom »linken und rechten Rand« der politischen Landschaft – die sich, so spinnen manche die Idee fort, angeblich »berühren« können – hat nur Sinn, wenn man sie auf die Vorstellung einer Mitte oder eines Zentrums bezieht: Es handelt sich um die vom jeweiligen Zentrum aus am weitesten entfernten Orte.
Bezogen auf linke Aktivisten, Organisationen oder Inhalte hat dieser Begriff schlicht keinerlei Aussagekraft. Unter dem Gesichtspunkt ihrer »Entfernung zur politischen Mitte« betrachtet, erscheinen der stalinistische Kader und der Anarchosyndikalist, die libertäre Kommunistin, der trotzkistische Intellektuelle und die militante Antiimperialistin, die radikale Basisgewerkschafterin oder der Maoist der siebziger Jahre als ungefähr gleich. Alle würden sie im Verfassungsschutzbericht in der Rubrik »Linksextremismus« auftauchen, zusammen mit RAF-Anhängern, Parteikommunisten, DDR-Nostalgikern und Autonomen, wenngleich in verschiedenen Unterkapiteln.
Was ist dadurch über ihr Gesellschaftsmodell und dessen Beurteilung, etwa unter dem Gesichtspunkt der individuellen und kollektiven Emanzipation, ausgesagt? Schlichtweg überhaupt nichts. Wie etwa Alexa Anders (Jungle World 19/2010) oder Sarah Uhlmann (15/2010) in ihren Beiträgen richtig feststellen, dient das Stigmat des »Linksextremismus« – das einer polizeilichen Logik entspricht – in Deutschland rein ordnungspolitischen Zwecken. Es geht darum, festzuschreiben, wer gerade noch so links ist, »wie es die Polizei erlaubt«, und wer »zu weit links steht«.
Deswegen kann auf die Suggestivfrage, die Hannes Giessler (20/2010) rhetorisch aufwirft – »Warum wehren sich Linke, die militant sein, den Staat bekämpfen und die herrschende Gesellschaft abschaffen wollen, dagegen, als Extremisten bezeichnet zu werden?« – eine einfache Antwort gegeben werden. Sie lautet: Weil sie keine Lust haben, sich mit einem stigmatisierenden Kampfbegriff, dessen Aussagekraft bei Null liegt, beschimpfen zu lassen. Der Rest von Giesslers Ausführungen über Linke erschöpft sich in Häme.
Ob autoritär oder antiautoritär, sektenhaft oder mit ausgeprägtem Realitätssinn ausgestattet, einer historisch gescheiterten Tradition verhaftet oder auf eine bessere Zukunft hin orientiert: All das ist bei dieser Etikettierung einerlei. Deswegen ist sie belanglos. Die so bezeichneten Strömungen streben seit Jahrzehnten auseinander, mindestens ebenso sehr, wie dies heute in der deutschsprachigen Linken für die verfeindeten Blöcke der »Antiimperialisten« und der »Antideutschen« gilt – mit der Besonderheit, dass beide Strömungen in der Weltordnung nach 1989 für Bestrebungen offen sind, die aus der Linken heraus in rechte Gefilde führen. Einen Teil der Antiimperialisten zieht es zum Nationalismus hin, einen Teil der Antideutschen zum Neokonservatismus und zur militarisierten Außenpolitik.
Stellvertretend für die Antiimperialisten sei die Kölner antiimperialistische Gruppe »Arbeiterfotografie« genannt, die etwa einen Jörg Haider als Opfer finsterer westlicher Geheimdienstmachenschaften betrachtet und Kritik am iranischen Regime abwehrt. Stellvertretend für die Antideutschen die Website Lizas Welt, auf der in jüngster Zeit etwa eine Ministerin von Silvio Ber­lusconi und der neue britische Premier David Cameron als Hoffnungsträger dargestellt werden. Aus außenpolitischen Gründen. Doch die Bewertung einer politischen Kraft oder Regierung als der Emanzipation dienlich oder eben nicht hängt notwendig von ihrem jeweiligen innenpolitischen Kontext ab. Ein emanzipatorischer Charakter lässt sich nicht aus den eigenen außenpolitischen Obsessionen ableiten, ebenso wenig, wie es jemals rein außenpolitisch motivierte Revolutionen geben konnte. Wer an Berlusconis Kabinettstisch Platz nimmt, sitzt dort mit eingefleischten Rassisten der Lega Nord und mit sogenannten Postfaschisten zusammen.

Mit dem Totalitarismusbegriff verhält es sich in der Praxis sehr ähnlich wie mit dem Extremismusbegriff. Theoretisch könnte man ihn benutzen, um Bestrebungen zu bezeichnen, die darauf zielen, einen »totalen Staat« zu errichten, der keinen Ausdruck abweichender Interessen innerhalb der Gesellschaft zulässt. Doch nach jahrzehntelanger bundesdeutscher Praxis, in welcher er oftmals als Synonym für »extremistisch« und für die Vorstellung von »rot gleich braun« benutzt wurde, ist der Begriff eben nicht »unschuldig«. Man kann versuchen, ihn vielleicht unter Rückgriff auf Hannah Arendt zu dekontaminieren, wobei mancher Apologet der liberalen bürgerlichen Demokratie dabei Überraschungen erleben könnte – der zweite von drei Bänden von Arendts Werk über »Die Ursprünge totaler Herrschaft« heißt »Der Imperialismus« und handelt unter anderem von westlichen, in ihrem Inneren demokratisch verfassten, aber massive Verbrechen verübenden Kolonialstaaten.
Innerhalb der Linken muss zwischen dem, was zum Ziel der Emanzipation beiträgt, und jenem, was dem entgegensteht, unterschieden werden. Im fundamentalen Gegensatz dazu gilt, dass bei der Rechten von vornherein keinerlei Ansätze zugunsten allgemeiner menschlicher Emanzipation vorhanden sind: Deren grundsätzliches Anliegen besteht darin, vermeintlich »natürliche« Hierarchien und Ungleichheiten ideologisch zu begründen und zu legitimieren, in der Gesellschaft vorhandene Ressentiments zu mobilisieren und diesen systematische Gestalt zu geben. Ein eigenständiger Kampf gegen diese jeglichem Emanzipationsstreben entgegenwirkenden Tendenzen ist deshalb notwendig und legitim.

Antifaschismus ist damit weder Luxus noch, wie Peter Jonas (Jungle World 17/2010) suggeriert, nur ein Trick zur Reinwaschung und Aufrechterhaltung der bürgerlichen Ordnung. Auch blockierten die kommunistischen Parteien Frankreichs und Italiens etwa die Bewegung von 1968 nicht, weil das Adjektiv »antifaschistisch« ihre Politik auszeichnete – wie Jonas suggeriert –, sondern erstens, weil der französische Generalstreik im Mai 68 der Kontrolle durch KP und CGT entglitt, und zweitens, weil die Partei dem sowjetischen Druck gehorchte. Die UdSSR wollte Präsident Charles de Gaulle aus außenpolitischen Gründen – etwa wegen seiner Differenzen zu den Atlantikern innerhalb der französischen Poltik – stützen. Der Antifaschismus erklärt in diesem Falle hingegen gar nichts.
Es gibt tatsächlich unterschiedliche Ansätze zur Erklärung dessen, was Antifaschismus sei. Der konservative Antifaschismus etwa vertritt die Auffassung, dass man auf der richtigen Seite stehe, wenn man sich nur philosemitisch positioniere und außenpolitisch für ein Bündnis mit den USA und dem Staat Israel eintrete. Auch viele frühere Altnazis erkauften sich mit dieser Haltung in der BRD seit den fünfziger Jahre eine Eintrittskarte in das »Konzert der zivilisierten Nationen«. Italiens »Postfaschisten« kopieren heute dieses Modell, weil Gianfranco Fini verstanden hat, dass etwa ein Israel-Besuch, wie er ihn 2003 absolvierte, das beste Mittel ist, nicht der Nähe zum historischen Faschismus verdächtigt zu werden. Und selbst die aus einer pro-deutschen Nazitradition stammenden belgisch-flämischen Faschisten des Vlaams Belang positionieren sich heute aus ähnlichen Gründen auf internationaler Ebene mehrheitlich zugunsten Israels. Die Kriterien des konservativen Antifaschismus sind also untauglich, weil viele modernisierte Rechtsextreme gelernt haben, dass nach 1945 offener Antisemitismus ihre Position schwächt.

Auch rechts aber gibt es Ausdifferenzierungen, weshalb es zu einfach wäre, wie Sarah Uhlmann vorschlägt, einfach von »Nazis« statt von der ex­tremen Rechten zu sprechen. Außer durch ihre historischen Ausgangspunkte unterscheiden sich verschiedene Elemente der extremen Rechten auch durch ihr Verhältnis zum konservativen Block. Einige der bei Wahlen erfolgreichen Parteien der extremen Rechten in Europa – wie in Italien oder Dänemark – konzentrieren sich auf die Rolle, den konservativen und wirtschaftsliberalen Kräften als komplementäre Hilfstruppe, als eine Art verschärfendes Korrektiv zur Seite zu stehen. Sofern es darum geht, gegen die zu treten, die ohnehin »ganz unten« in der sozialen Hackordnung stehen – Asylsuchende, Einwanderer, zumal »illegale«, oder »Sozialschmarotzer« –, können Parteien der bürgerlichen Rechten ihnen dabei im Rahmen eines Bündnisses Zugeständnisse machen.
Eine alternative Strategie für die extreme Rechte besteht indem Versuch, mit Hilfe von Rassismus, Antisemitismus und Verschwörungstheorien die »soziale Frage« in ihrem Sinne zu besetzen und die »Systemfrage« – mit der forderung nach einem Austausch der Eliten – aufzuwerfen. Parteien wie die NPD träumen von einer solchen »Revolution von rechts«, die jedoch im Gegensatz zur zuvor beschriebenen Strategie heute wohl nur geringe Durchsetzungschancen hat. Manche Kräfte der Rechten, wie der französische Front National, waren jahrelang zwischen beiden Strategien hin- und hergerissen.
Der Begriff der extremen Rechten – der anders als der Begriff des »Rechtsextremismus« das Substantiv »Rechte« in den Vordergrund stellt – drückt diese potentielle Nähe zur etablierten Rechten bei gleichzeitiger Unterscheidung von ihr treffend aus.