Den chinesischen Unternehmen gehen die Wanderarbeiter aus

Die Mobilität schlägt zurück

Die chinesische Wirtschaft wächst trotz der Krise weiter. Dennoch gehen den Unternehmen, vor allem in Südchina, die Wanderarbeiter aus. Die jüngere Generation von Arbeitskräften ist nicht mehr bereit, jede Drecksarbeit zu niedrigen Löhnen anzunehmen.

Mitten in der Krise der Weltwirtschaft wird in China über einen Mangel an Wanderarbeitern diskutiert. Bisher boomt die chinesische Wirtschaft mit einem Wachstum von über acht Prozent weiter. Im Perlfluss-Delta, in dem die Weltmarkt­fabriken konzentriert sind, sollen über zwei Millionen Arbeitskräfte fehlen. Die Behörden in Shenzhen sprechen von einem Arbeitermangel von 900 000, in der Boomtown Wenzhou ist von 800 000 bis eine Million die Rede.
Noch im vergangenen Jahr verkündeten die chinesischen Medien die Entlassung von mehr als zehn Prozent der über 225 Millionen Wander­arbeiter wegen der Weltwirtschaftskrise. Derzeit wird hingegen von Lohnsteigerungen bis zu 30 Prozent berichtet, mit denen die Arbeitskräfte wieder in den Süden gelockt werden sollen.

Die Provinzregierung von Guangdong kündigte eine Erhöhung des Mindestlohns um über 20 Prozent an. In Shenzhen soll der Mindestlohn von 1 000 Yuan (115 Euro) um zehn Prozent erhöht worden sein. Firmen senden »Kopfjäger« ins Hinterland und zahlen hohe Prämien, wenn die Arbeiter sich verpflichten, den ganzen Monat ohne einen einzigen freien Tag durchzuarbeiten. Die Asia Times Online berichtete am 30. April sogar, dass tausende vietnamesische Arbeiter illegal ins Perlfluss-Delta kämen. Im Gegensatz zu ihren chinesischen Kollegen, die mit Überstunden auf bis zu 1 800 Yuan (207 Euro) im Monat kommen, seien die vietnamesischen Arbeiter bereit, unter dem Mindestlohn zu arbeiten.
Noch in den neunziger Jahren zeichneten die chinesischen Medien das Bild einer »Welle« von Wanderarbeitern, die die Städte überflute. Nun versuchen Wissenschaftler und Kader, den Mangel an Wanderarbeitern zu erklären. Ein zentrales Stichwort ist dabei die »neue Generation« von Wanderarbeitern, die in den achtziger Jahren geboren wurden und über bessere Schulbildung und Qualifikationen als ihre Väter und Mütter verfügen. Ein Artikel auf der Website der Kommunistischen Jugendliga argumentiert, dass diese neue Generation nicht mehr an Landarbeit und Dorfleben gewöhnt sei. Dieses werde nicht mehr als Rückzugsmöglichkeit gesehen, die junge Generation stelle dagegen Ansprüche auf bessere Bezahlung, Sozialleistungen und Arbeitslosenversicherung. Über 70 Prozent der jungen Männer und Frauen seien ledig und würden in der Stadt Teile ihres Lohns für Konsum ausgeben, statt ihn wie früher brav an die Eltern zurückzuschicken.
Diese »wählerischen« Wanderarbeiter im Alter zwischen 18 und 25 Jahren werden mit dem Schlagwort »Drei hoch und eins niedrig« charakterisiert: anspruchsvolle Erziehung, Hoffnungen und materielle Bedürfnisse, aber niedrige »Leidensfähigkeit« bei der Arbeit.

Chinesische Blogger schreiben aber auch teilweise Beiträge, die den Mangel an Wanderarbeitern als Sieg der »sozial Benachteiligten über die Reichen« feiern, die jetzt darüber jammern, dass die Arbeiter nicht mehr bereit sind, jede Drecksarbeit zu niedrigen Löhnen anzunehmen. Die Löhne steigen, obwohl die Arbeiter in China kein Streikrecht oder unabhängige Gewerkschaften haben. Die Unterstützer der Wanderarbeiter können sich deshalb eine gewisse Schadenfreude darüber nicht verkneifen, dass sich die Mobilität der Arbeitskraft nun gegen das Kapital selbst wendet und ein Exodus aus dem Perlfluss-Delta stattfindet. In den chinesischen »Blut-und Schweiß-Fabriken« starben allein 2009 über 83 000 Menschen durch mehr als 380 000 Arbeitsunfälle.
Chinese Labor Bulletin, eine NGO aus Hong Kong, warnt allerdings, dass man den Medien-Hype um den Mangel an Arbeitern nur bedingt Glauben schenken solle. Lohnsteigerungen von über 30 Prozent seien die Ausnahme, und in dem wichtigen Industriegebiet Dongguan, an dem sich eine Weltmarktfabrik an die andere reiht, seien Arbeitstage von elf Stunden bei einer Sechs-Tage-Woche immer noch die Regel. Offiziell liegt die städtische Arbeitslosigkeit nur bei 4,2 Prozent (2008), wird aber von der Asiatischen Entwicklungsbank mehr als doppelt so hoch geschätzt. Die ländliche Arbeitslosigkeit wird überhaupt nicht in Statistiken erfasst.
Der chinesische Soziologe Yang Siyuan bezeichnet die Mobilität der Wanderarbeiter als »chinesische Form des Streiks«. Schon Marx wies darauf hin, dass im Nordosten der USA die Löhne in der Industrie stiegen, weil Arbeiter den Exodus in den Westen antreten konnten. Zum chinesischen Neujahrsfest fahren die Wanderarbeiter in der Regel nach Hause und vergleichen ihre Erfahrungen, um zu entscheiden, in welche Region es im nächsten Jahr geht. Ausländische Manager jammern über die schlechte Personalplanung in den chinesischen Fabriken. Im Perlfluss-Delta entließen die Unternehmer aufgrund der Krise im vorigen Jahr einfach Millionen Arbeiter, ohne über eine Strategie zu verfügen, wie sie später wieder genügend Arbeitskräfte rekrutieren können.

Die neue Generation der Wanderarbeiter hat mehrere Möglichkeiten. Neben Peking und Shanghai ziehen auch Städte im Süden und Südwesten wie Wuhan, Chongqing oder Nanchang Arbeitskräfte an. Außerdem wurden durch das milliardenschwere Konjunkturprogramm der Regierung Arbeitsplätze im Straßenbau in Heimatnähe geschaffen. Die Bauern wurden durch Kredite für Häuserbau und Gründung von Kleinunternehmen ermuntert, in den Dörfern zu bleiben.
Das Zentralkomitee hat das wichtige Dokument »Nummer Eins« Anfang dieses Jahres ganz der Landwirtschaft und den Bauern gewidmet. Während die Situation in den Dörfern durch den Ausbau von Infrastruktur und Gesundheitswesen verbessert werden soll, spricht die Regierung davon, die neue Generation der Wanderarbeiter zu urbanisieren. Bis heute wurde das Haushaltsregister-System, das die Chinesen in Stadt- und Landbevölkerung einteilt, nicht grundlegend reformiert.
In China wird vor diesem Hintergrund nicht von Wanderarbeitern, sondern von »Bauern-Arbeitern« gesprochen. Menschen mit Agrar-Haushaltsregister haben Anspruch auf die Zuteilung von Nutzungsrecht für das staatliche Land in ihrem Dorf, aber in der Stadt haben sie keinen Zugang zu Sozialleistungen und kostenloser Bildung. Dieses System hielt die Löhne bisher niedrig, da dadurch das bäuerliche Proletariat auf dem Land eine Subsistenzgrundlage hat, der Staat keine Sozialleistungen bereitstellen muss und die Kapitalisten niedrigere Löhne zahlen können, als es die städtischen Lebenshaltungskosten erfordern würden. Weil viele Männer und Frauen der neuen Generation aber in den Städten leben wollen, haben sie auch höhere Ansprüche. Während Marx in der Phase der »ursprünglichen Akkumulation des Kapitals« die Enteignung des Gemeinschaftsbesitzes der Bauern als eine Voraussetzung für die Entstehung einer Klasse von freien Lohnarbeitern sah, argumentiert der marxistische Historiker Immanuel Wallerstein, dass gerade eine Halb-Proletarisierung von Bauern im Interesse des Kapitals oder des Staats liegen kann, weil die Bauern-Arbeiter selbst für ihre Subsistenz aufkommen müssen. Das ist sicher auch ein Grund, warum in China die Regierung das Land noch nicht privatisieren will. Wenn Millionen Bauern-Arbeiter als Folge von Privatisierung ihr Land billig kaufen würden, müssten Landlose, wenn sie arbeitslos werden, entweder hungern oder staatliche Sozialleistungen bekommen. Das Haushaltsregister-System kann daher nicht abgeschafft werden, ohne die Frage zu klären, wer dann Anspruch auf Land haben soll.
Die Debatte um die Bauern-Arbeiter könnte jedenfalls auch ein neues Licht auf die ständige Beschwörung der Mobilität durch Unternehmer und Regierungen in Europa werfen. Wenn die Arbeitskräfte zu mobil sind, wer soll dann noch in den »Blut- und Schweiß-Fabriken« arbeiten?