Eine Begegnung mit einem indischen Dalit-Aktivisten

Immer nach unten treten

In Indien ist das Kastenwesen seit 1950 abgeschafft. Trotzdem ist es nach wie vor in der Gesellschaft allgegenwärtig. Sogenannte Unberührbare und indigene Gruppen werden systematisch diskriminiert und ausgebeutet. Nicht einmal das elementare Recht auf Nahrung wird garantiert. Das wollen NGO durch Lobbyarbeit ändern.

Shahrukh Khan ist in Indien ein Nationalheld. An allen Ecken Hyderabads strahlt der größte Bollywood-Star des Landes von Plakaten, die für seinen neuesten Streifen werben. Helle Haut, strahlend weiße Zähne, Waschbrettbauch. So sehen Helden in Indien aus.
Der Mann in dem kleinen Büro in der Innenstadt Hyderabads wirkt fast wie ein Gegenbild: die Augen stets ein wenig zugekniffen, um die Lippen ein konstantes Lächeln, Schnurrbart, Bauchansatz und gemütlicher Gang. Dem romantischen Bild des Kämpfers für die Armen und Schwachen entspricht David Sudhakar definitiv nicht.
Im Jahr 1959 wird er in einer Militärkaserne in Himachal Pradesh, im hohen Norden Indiens, geboren. Das Leben des »Unberührbaren«, des Dalit David Sudhakar, fängt jedoch erst acht Jahre später an. Zu welcher Kaste er gehört, weiß Sudhakar vorerst nicht. Bis zu seinem siebten Lebensjahr wächst er mit seinem fünf Jahre älteren Bruder und den Eltern in einer Militärkaserne auf. Sein Vater patroulliert als einfacher Soldat an der pakistanischen Grenze, bis er sich zur Polizei versetzen lässt. Sudhakars Familie zieht zurück zu den Großeltern nach Andhra Pradesh, im Süden des Landes. Auch dort wohnen Davids Eltern mit ihren Söhnen weitgehend isoliert vom Rest der Gesellschaft, diesmal in einer Polizei-Kolonie. Beide Kinder besuchen die Schule auf dem Campus und verlassen kaum die große Siedlung. »Ich wuchs behütet in einer Oase auf. Bis ich die Realität kennenlernte. Diesen schlechten Witz, der sich Demokratie nennt«, erzählt David bei einer Tasse Milchtee in seinem kleinen Büro in Hyderabad.

Auf den Schreibtischen stapeln sich Ordner und Zeitungsartikel, Plakate einer Kampagne für die Rechte von Tempelprostituierten (Jungle World, 16/09) liegen auf dem Boden. Aus dem behüteten Kind ist ein politischer Aktivist geworden. Meist spricht er leise und bedacht, und schon nach wenigen Minuten wird klar: Dieser Mann ist Realist. Aber auch: In ihm brennt ein Feuer.
»In dem Dorf meiner Großeltern war es wie in den meisten Dörfern. Wir Dalits durften die Brunnen im Dorf nicht benutzen, die Unberührbaren besaßen kein Land und mussten als Tagelöhner die Äcker der Höherkastigen bestellen. Statt Lohn gab es meist Essen direkt auf die Hand. Teller waren den ›Unreinen‹ nicht gestattet.«
Offiziell ist die »Unberührbarkeit« samt ihrer sozialen Implikationen in Indien seit 1950 abgeschafft. Die Realität sieht jedoch anders aus. Vor allem in den Dörfern, wo über 70 Prozent der 1,1 Milliarden Inderinnen und Inder leben, werden die verschiedenen Spielarten des sozialen Ausschlusses, der Diskriminierung und der Ausbeutung von sogenannten Unberührbaren und Niedrigkastigen nach wie vor praktiziert. David berichtet darüber, wie sich das im Alltag manifestiert: Dalit-Kinder, die im Klassenzimmer abseits der anderen Schüler sitzen. Unberührbare, die sich nicht zu den Tempeln trauen, denen Arbeiten verboten werden, die nicht den traditionellen Berufen der Dalits entsprechen. Unberührbare, die sich ihre Sandalen ausziehen, wenn sie an den Häusern von Höherkastigen vorbeilaufen. »Das Tragische ist, dass die meisten Dalits nicht aufbegehren, sondern sich fügen. Sie fühlen sich tatsächlich ›unrein‹, als wären sie weniger wert.« Auf dem kleinen Tisch vor ihm liegen verschiedene Dokumentationen und Berichte über die Situation der Dalits, über Mangelernährung in Indien und geschlechtsspezifische Diskriminierung. David hat diese Reports im Auftrag diverser NGO mitverfasst. Seit über 20 Jahren arbeitet er als freier Gutachter für NGO und wird fast immer für redaktionelle Aufgaben und Recherchearbeiten engagiert. Früher schrieb er auch im Auftrag staatlicher Stellen, »aber die Regierung verlangte immer positive Resultate ihrer Evaluationen. Und ich wollte einfach keine Lügen zu Papier bringen«, begründet David seinen Entschluss, nur noch für nicht-staatliche Stellen zu arbeiten. Derzeit schreibt und recherchiert er regelmäßig für die internationalen NGO Action Aid und Fian (Food Information and Action Network).
»Der Bedarf an kompetenten Gutachtern ist gerade größer als das Angebot. Ich muss immer wieder Anfragen von Organisationen ablehnen. Schon jetzt arbeite ich täglich an drei, vier verschiedenen Projekten und an mehreren Berichten gleichzeitig.« Aber immer nur an einer Sache zu arbeiten, meint er lächelnd, »das wäre mir auch zu langweilig«.
Ganz oben auf dem Stapel der diversen Publikationen liegt der »Dalit Human Rights Monitor 2003–2006, Andhra Pradesh«, den Sudhakar zum Großteil geschrieben hat. Darin finden sich Dokumentationen der alltäglichen Diskriminierung und Ausgrenzung von Dalits, die sich nicht spektakulär lesen, deren Wirkung auf die Betroffenen aber erahnbar sind. Der Report enthält aber auch Berichte, die Assoziationen zum Ostkongo wecken. Das Ausmaß sexueller Gewalt gegen Dalit-Mädchen und -Frauen und die Selbstherrlichkeit der Täter, die aus ihrer Kaste das Recht ableiten, über den Körper anderer Menschen zu bestimmen, hinterlassen Fassungslosigkeit.

Warum wehren sich die Dalits nicht entschiedener? Wie können solche Verhältnisse akzeptiert werden? Indien, die größte Demokratie der Welt, die aufsteigende IT-Macht, die rauschenden Bilder Bollywoods. All das erscheint Lichtjahre entfernt von den düsteren Zuständen hinter der bunten Fassade des Landes.
»Europäer und US-Amerikaner sind geschockt, wenn sie das Ausmaß der Kastendiskriminierung erkennen und all die Unternährten und Bettler sehen. Aber das ist eben Indien. Und die allermeisten Menschen finden sich damit ab«, meint Sudhakar lakonisch. Auch er traute sich lange nicht in bessere Restaurants und Hotels. Seine dunkle Hautfarbe, seine äußere Erscheinung geben ihn als Dalit zu erkennen. Falls die Sozialisation nicht gerade in einer abgeschotteten Kolonie stattfindet, gehört das intuitive Zuordnen bestimmter Attribute wie Hautfarbe, Aussprache, Mimik und Gestik zu einer der Kastenkategorien zu den notwendigen Lernerfahrungen einer indischen Kindheit. Nach wie vor werden die meisten Ehen in Indien von den Eltern arrangiert, und die Suche nach einem geeigneten Partner findet wie selbstverständlich in der eigenen Kaste statt. Zwar werden diese Barrieren innerhalb der gebildeten Mittelschicht zunehmend abgebaut, der Großteil der Gesellschaft folgt aber nach wie vor der Logik des Kastensystems, wenn es um Elementares wie Essen, Ehe und Bestattung geht. Eine der sozialen Funktionen des Kastensystems war und ist die Aufteilung produktiver und reproduktiver Tätigkeiten unter den verschiedenen Gruppen. Je niedriger die Kaste, desto »unreiner« die ihr zugeordnete Tätigkeit. Einmal in eine Kaste geboren, ist es dem Individuum nicht möglich, gesellschaftlich aufzusteigen. Auch die Heirat mit einem Höherkastigen sorgt nur für dessen Ab-, nicht für den eigenen Aufstieg. In Indien selbst ist das Kastensystem regional sehr unterschiedlich ausgeprägt und nicht auf Hindus beschränkt. Auch in den christlichen und muslimischen Gemeinden, ebenso wie unter den Sikhs, existieren Kategorien und Praktiken, die klar dem Kastensystem entlehnt sind. So unterschiedlich die einzelnen Spielarten ausfallen, das Grundprinzip bleibt dasselbe: Lass dich treten und tritt nach unten.

Für Sudhakar waren die Berichte über die Black-Power-Bewegung in den USA der Wendepunkt in seinem Leben: »Diese Leute waren stolz auf ihre schwarze Haut, sie waren rebellisch und fordernd. Das hat mich für immer verändert.« Heute existiert in Indien eine breite Bewegung für die Rechte von Unberührbaren, die von Teilen der hindunationalistischen BJP bis zur maoistischen Guerilla reicht. Bedeutend ist aber, dass es vor allem Dalits selbst sind, die für ihre Rechte eintreten. Dabei geht es jedoch nicht immer harmonisch zur Sache. Auch innerhalb der Dalit-Community existieren Hierarchien und unterschiedliche Sub­kategorien. Im Alltag äußert sich das allzu oft in der Reproduktion des Verhaltens von Höherkastigen: Es wird nach unten getreten. Und wer ganz unten in der Hierarchie steht, kann immer noch Frauen und Kinder treten.
Auf politischer Ebene kommen konkrete materielle Interessen hinzu. Aufgrund offizieller Klassifizierungen der unterschiedlichen sozialen Gruppen kommen deren Angehörige in den Genuss bestimmter sozialer Leistungen. Gegenwärtig wird zwischen backward castes (untere Kasten), scheduled castes (Dalits) und scheduled tribes (indigene Gruppen) unterschieden. Die Strategie der affirmative action soll den diskriminierten Gruppen den gesellschaftlichen Aufstieg ermöglichen.
Im Falle der indigenen Gruppen, der Adivasis, ist dies noch ein weiter Weg. Die meisten Indigenen leben in Armut, oft in einfachen Hütten auf dem Land oder in Slums in den Städten. Adivasis und Dalits stellen gemeinsam ein Viertel der Bevölkerung Indiens. Arme gibt es aber noch mehr: Knapp 80 Prozent der Bevölkerung müssen derzeit mit weniger als zwei Dollar am Tag auskommen. »Die Armut in Indien kann nur vom Staat effektiv bekämpft werden, NGO können im großen Maßstab nichts ändern«, meint Sudhakar. Deswegen habe er sich vor Jahren dazu entschieden, vom Staat die Erfüllung seiner Pflichten einzufordern. Mit diesem rights-based approach versuchen hunderte NGO, die Regierung mit dem Verweis auf Rechte eines jeden Staatsbürgers in die Pflicht zu nehmen. Dadurch werden sich Machtverhältnisse nicht grundlegend verändern. Doch angesichts der grassierenden Armut und der unzähligen Formen sozialer Diskriminierung wäre eine Umsetzung der liberalen indischen Gesetzgebung schon ein gewal­tiger Schritt nach vorne. Sudhakar weiß, dass sein Ansatz völlig auf den Staat und seinen Beamtenapparat bezogen ist und keine fundamentalen Veränderungen erreichen kann. Revoluti­onären Gruppen steht er offen, aber kritisch gegenüber. »Viele, auch die maoistische Guerilla, haben nicht primär die Verbesserung von Lebensbedingungen zum Ziel, sondern die Vergrößerung des Einflusses der jeweiligen politischen Gruppe.« Er aber wolle konkrete Veränderungen, jetzt und hier. Daher fordert er bestehende Rechte ein. Zum Beispiel das Recht auf Nahrung.

Von diesem Recht wissen die Yanadis zwar, satt macht es sie aber nicht. Eines der Dörfer dieser indigenen Gruppe im Süden Andhra Pradeshs besucht David mit einer Delegation der Fian. Hier leben die Menschen in Strohhütten, unfertige Fundamente für kleine Betonhäuser stehen deplaziert neben den Behausungen. »Nach dem Tsunami brachte uns die Regierung hierher und versprach uns, diese Häuser zu bauen. Passiert ist seither nichts«, berichtet der Dorfvorsteher der schwedischen Fian-Mitarbeiterin Lina. Gemeinsam mit Sudhakar besucht sie Gemeinden der Yanadis, um deren Situation zu dokumentieren und den Staat zum Handeln zu drängen. In der prallen Sonne sammeln sich die Dorfbewohner um die angereiste Delegation, die Kamera des schwedischen Fotografen klickt unablässig. Die Menschen hier sind arm, das steht außer Frage. Aber das Elend der Slumbewohner in den Städten, der Bettler und der Verstümmelten auf den Straßen indischer Metropolen wirkt erbärmlicher, dramatischer. »Mangelernährung ist einfach nicht sexy«, meint Lina bei einer Pause im Schatten einer Hütte. »Erst, wenn die Menschen anfangen zu sterben, kommen auch die Reporter. Vorher interessiert so ein Dorf einfach niemanden.« Die Fahrt geht weiter, in ein anderes Dorf der Yanadis. Unermüdlich übersetzt Sudhakar die Fragen der Fian-Delegierten. Auch hier das gleiche Bild: Die Menschen haben zu wenig zu essen, das staatliche Subventionssystem für Reis funktioniert nicht. Die zuständigen Beamten verlangen zuviel Bakschisch. Die Bewohner verbringen ihre Tage mit dem Sammeln von Beeren, die Männer gehen immer wieder fischen. Allerdings nur noch mit mäßigem Erfolg, der Fischbestand in den Flüssen schwindet zusehends. »Alkohol ist ein großes Problem«, meint Gurdala Nagarhu und fügt hinzu, dass »wir zum Glück meist kein Geld haben, um etwas davon zu kaufen«.
Der Tag endet mit einer Diskussion mit der ganzen Gemeinde. Die Yanadis sitzen auf dem staubigen Boden, die Gäste müssen auf Stühlen Platz nehmen. Das gehört sich so. Wo sieht sich die Gemeinde in 20 Jahren? Aufgeregtes Gemurmel und schließlich die Antwort des Dorfvorstehers: »Unsere Kinder sind unsere Hoffnung, sie brauchen Bildung und müssen neue Fähigkeiten erlernen. Unsere Art zu Leben hat keine Zukunft.«
Doch in diesem Dorf geht derzeit kein einziges Kind zur Schule. »Die Yanadis setzen große Hoffnungen in die NGO, die hier aktiv sind«, meint Sudhakar, erschöpft. »Aber ich finde es schlimm, dass sie so abhängig von uns sind.«

Zurück in Hyderabad arrangiert Sudhakar ein Treffen mit Straßenkehrerinnen in einem Dalit-Viertel der heranwachsenden Mega-City. Gemeinsam mit seiner Frau engagiert er sich seit mehreren Jahren auch für die Rechte der Putzkräfte der Stadt, ehrenamtlich. Ein kleines Häuschen in dem Slum dient als Büro der Gewerkschaft der Straßenkehrerinnen. Acht Frauen, alle Dalits, berichten von ihren Arbeitskämpfen, den alltäglichen Schikanen und Belästigungen durch die Vorgesetzten. »Seit den neunziger Jahren sind wir nicht mehr bei der Stadt, sondern bei einer Vertragsfirma angestellt, wir wurden outgesourct. Von unseren Löhnen behielt die Firma meist den Großteil ein und machte immer Druck, noch mehr zu arbeiten«, erzählt Sandhya Madigha. Mit Unterstützung der Kommunistischen Partei und einiger NGO begannen die Straßenkehrerinnen einen Streik. »Doch die kommunistischen Gewerkschaften knickten wie immer schnell ein und einigten sich mit der Firma«, fährt die resolute 50jährige aufgebracht fort. Also gründeten die Frauen eine eigene Gewerkschaft, setzten den Streik fort und sorgten für ausreichend öffent­liches Interesse, um ihre Forderungen durchsetzen zu können. Heute sind über 80 Prozent der Straßenkehrerinnen Hyderabads in der Gewerkschaft organisiert, der Lohn wird regelmäßig ausgezahlt.
Einige Wochen später sitzt Sudhakar in New Delhi im Foyer des Fünf-Sterne Hotels Hyatt. Hier findet ein kurzes Treffen mit einem Abgeordneten der Kongresspartei statt. Der Volksvertreter aus Andhra Pradesh wurde vom National Dalit Committee als potentieller Unterstützer eines neuen Gesetzes ausgemacht und angesprochen. Lobbyarbeit gehört zu den unbeliebten Tätigkeiten von Sudhakar, denn »eigentlich ist Schreiben und nicht Reden meine Stärke«. In einer Umgebung wie dieser fühlt sich der studierte Ökonom sichtlich unwohl. »Es sind die Blicke, das Ignorieren durch das Personal, die kleinen, kaum wahrnehmbaren Dinge, die mir sagen: Du bist anders.« Sudhakars Gang beim Verlassen des Prunkbaus hat sich sichtbar verändert. Mit eingezogenen Schultern und dem Blick auf den Boden passiert er die Lobby. Dort hängen die gleichen Filmplakate wie in Hyderabad. Sudhakar schlurft ins Freie, Shahrukh Khan strahlt.