Über den Dokumentarfilm »Postcard to Daddy«

Keine Versöhnung

In seinem Dokumentarfilm »Postcard to Daddy« arbeitet Michael Stock die eigene Missbrauchsgeschichte auf.

Der Filmemacher Michael Stock ist seiner eigenen Missbrauchsgeschichte auf der Spur. Als er acht Jahre alt ist, vergeht sich sein Vater zum ersten Mal an ihm und missbraucht ihn dann regelmäßig. Er hört erst damit auf, als der Sohn 16 ist. Diesen Wahnsinn hat Stock zu einer Filmreportage verarbeitet, die zugleich eine öffentliche Familientherapie geworden ist. »Postcard to Daddy« heißt der Dokumentarfilm, in dem Stock seinen Bruder Christian, die Schwester Anja und die Mutter Margret interviewt. Zu ihnen hat er ein gutes Verhältnis. Von den damaligen Vorkommnissen wollen sie nichts gewusst haben. Bruder Christian: »Vielleicht ein bisschen Rückenkraulen und Raufen.« Schwester Anja sagt: »Ich bin doch selbst Mutter. Man merkt doch, wenn Kindern etwas unangenehm wird.«
In dieser Familie ist etwas aufgewühlt worden, die Angehörigen verlieren nachträglich ihre Gewissheiten. »Postcard to Daddy« ist ein ungewöhnlicher Film. Kurz vor seiner Fertigstellung will Michael ihn seinem Vater zeigen. Wie der Vater den Film erlebt, darüber will er mit ihm sprechen. Ebenfalls vor der Kamera. Mit dem Vater im Bild wird der Film komplett sein, glaubt Stock.
Einen Spielfilm hatte er ursprünglich machen wollen, aber er hat das Geld nicht auftreiben können, sagt Stock. Nun werden die Familienmitglieder zu den Hauptfiguren seines Werkes. Ein Dokumentarfilm muss nicht weniger spannend sein als ein Spielfilm. Stock kommt mit dem neuen Format gut zurecht.
Wie alles angefangen hat, davon berichtet Stock selbst. »Ich glaube, mit acht Jahren hat man noch keine Moral oder auch kein Schamgefühl, was Sexualität betrifft«, beschreibt er das kindliche Erleben des väterlichen Vertrauensbruchs. »Das war in allererster Linie mit Neugier verbunden.«
Und wenn es anders wäre – das Kind kann sich keinen Bruch mit den Eltern erlauben. Zum einen ist es ihnen ausgeliefert, zum anderen garantieren sie nach außen Schutz und Sicherheit. Und so schildert er auch die durchaus positiven Züge des Familienlebens: wie der Vater ein Segelboot kaufte und die Kinder aufs Meer mitnahm, wie er überhaupt ein liebevoller Mensch sein konnte. Das ist wohl das Unverständlichste.
Und die Mutter will nichts mitbekommen haben? Nein, sagt sie. Sie sei oft unterwegs gewesen, habe sich »politisch engagiert«, war in NGO aktiv. Nun arbeitet sie als Familientherapeutin – mit Opfern sexueller Gewalt.
Fünfundzwanzig Jahre ist es mittlerweile her, dass Stock missbraucht wurde und ein neues Leben begonnen hat, fernab vom Zuhause in Süddeutschland. In der schwulen Subkultur Westberlins lebt er seine eigene Art von Sucht aus, hat viele intime Kontakte. »Sexualität ohne Spaß« nennt er das. Mit seiner Promiskuität folgt er einem inneren Muster, gefällt sich in seiner eigenen immerwährenden Verfügbarkeit. Nur in der Hemmungslosigkeit glaubt er Zuneigung zu finden.
Mit der ihm eigenen Leistungsbereitschaft bringt er es weit. Er landet im Filmgeschäft, seine Fähigkeit auszuhalten kommt ihm vor allem dann zugute, wenn es darum geht, Finanzierungen auszuhandeln. Denn auf Geld muss man in der Filmbranche warten und nochmals warten. 1993 dreht er den No-Budget-Film »Prinz in Hölleland« – eine phantastische Reise durch die Berliner Drogenszene rund um den U-Bahnhof Kottbusser Tor.
Die Filmausschnitte aus »Prinz von Hölleland« dienen in »Postcard to Daddy« als Überleitung zu dem Kapitel, das die Voraussetzungen seines heutigen Filmschaffens erzählt. Stock ist schwer gezeichnet, er ist aidskrank, hat mehrere Schlaganfälle überlebt. Der Tod ist allgegenwärtig. Nun versucht er sich an der Aufarbeitung seiner Kindheit, um sich im wahrsten Sinne des Wortes »auszusöhnen« – also Frieden zu finden mit seiner eigenen Geschichte, in der der Vater die Hauptrolle spielt, wo sie doch der Sohn spielen sollte. Nur wenn er selbst alles getan hat, um ein Gleichgewicht im Familiengefüge zu finden, dann ist es in Ordnung. Dann wird die ganze Familie Ruhe finden.
Denn die Erfahrung der Zudringlichkeit des eigenen Vaters, der frühe Verlust der spielerischen Unbefangenheit, der Angriff der nahestehenden Person prägen sein ganzen Lebens. Nun wünscht er sich ein Happy-End. »Mein Vater, was denkt er über die Konsequenzen?« fragt Stock. Sexueller Missbrauch ist eine Straftat.
Einen Großteil dieses filmischen Familien­albums nimmt eine Reise Stocks mit seiner Mutter ein. Eine Erholungsreise soll es werden; da sagt Michael, die Kamera im Anschlag: »Ich glaube, ich werde den Urlaubsfilm meinem Vater schicken.«
Mutter: »Wieso das denn?«
»Wenn der Vater nun sterben würde«, sagt Stock, »hätte ich das Gefühl, ich habe versäumt, ihm zu verzeihen.« Die Postcard für Daddy.
»Ich dachte, wir machen eine Gesundungsreise«, sagt die Mutter, »und jetzt kommen die ganzen alten Probleme hoch.«
Eine Reise zur Genesung wird dieses Filmprojekt aber nicht mehr. Radikale Ehrlichkeit attestiert ihm die Filmkritik. Krasse Härte wäre auch nicht falsch. Der mögliche Tod des Vaters? Michael Stock kämpft doch selbst als Todgeweihter um sein Leben und seine Geschichte.
»Postcard to Daddy« steuert auf das Finale zu: Die Kamera, das Werkzeug der Wahrheitsfindung, trifft auf den Vater. Wenn der Sohn den Vater nach Jahrzehnten mit den Ereignissen konfrontiert, bekommt man eine Ahnung davon, wie jemand totale Macht über den anderen erlangen kann, indem er ihn zum Objekt, zum reinen Gegenstand degradiert. Die Missbrauchsvorfälle zu besprechen »sei ihm kein Bedürfnis gewesen«, gibt der kranke alte Mann zu Protokoll. »Ich dachte, dir auch nicht«, antwortet er dem Regisseur, und: »Als Kind hast du mir nicht erzählt, dass du gelitten hast.«
Nun sehe er, dass das wohl anders sei, dennoch: »Ich habe wohl ein dickeres Fell als du. Mir geht das nicht so unter die Haut.«
Der Vater hat seine eigenen Probleme. »Ich brauchte selbst Jahre, um drüber wegzukommen, über anderes«, deutet er an. Um was es sich handelt, sagt er nicht. Die Frage steht im Raum: Was hat der Vater erlebt? Dasselbe wie Sohn Michael? War der Missbrauch des Sohnes eine Hilfe beim »Drüberwegkommen«? Und wenn der Sohn nicht schwul gewesen wäre? Wenn er eine Familie gegründet hätte, was wäre dann gewesen? Die eigenen Überlegungen dürfen die Leerstellen besetzen, der Film gibt keine Antwort, weil der Vater schweigt. Michael Stock schlägt vor, gemeinsam eine Therapie zu machen.
»Da war ich ziemlich oft«, antwortet der Vater. Weil er sein Leben lang Alkoholprobleme hatte. Die waren schwer in den Griff zu kriegen.
Nach der Trennung von Christians Mutter hat der Vater eine neue Familie gegründet. Es geht hier durchaus gruselig zu. Einfache Lösungen bietet der Film nicht an.
In »Postcard to Daddy« geben die Protagonisten alles. Stock hat eine Form gefunden, um ein Tabu-Thema zu verhandeln. Der Film läuft an zu einem Zeitpunkt, wo sich ganz Deutschland über wenig anderes als sexualisierte Gewalt unterhält. Stock gewinnt mit seinem Film Festivalpreise. Der Gang zum Vater konnte es nicht, aber vielleicht hilft die Flucht in die Öffentlichkeit, mit der zerstörten Vergangenheit zu versöhnen. Anders ging es nicht.

»Postcard to Daddy« (D 2010). Regie: Michael Stock.
Start: 27. Mai

Geändert: 02. Juni 2010