Gerichtsurteil gegen die Sicherungsverwahrung

Simulierte Sicherheit

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hält die deutsche Praxis der nachträglichen Sicherungsverwahrung für nicht statthaft. Die wütende Reaktion aus Deutschland passt zur antiliberalen Tradition hierzulande.

Ein Gerichtsurteil bringt die Gemüter immer dann in Wallung, wenn darin der Anschluss an das verloren geht, was allgemein als recht und billig verstanden wird, wenn das Urteil als Angriff auf das individuelle oder kollektive Wohlergehen gilt. Der Groll richtet sich dann gegen verstaubte Richter, die weltfremden Regeln folgten und den eigentlichen Nöten längst entrückt seien. In gewisser Weise verhält es sich so auch mit der Bundesrepublik Deutschland im Falle ihrer jüngsten Niederlage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR).
Bereits im Dezember 2009 erklärte der EGMR die deutsche Praxis der nachträglichen Sicherungsverwahrung für unvereinbar mit der europäischen Menschenrechtskonvention und sprach einem klagenden »Gewaltverbrecher« (Focus) wegen der somit unrechtmäßigen Inhaftierung einen Schadensersatz in Höhe von 50 000 Euro zu. Die BRD rief daraufhin die nächste Instanz, die Große Kammer des EGMR, an. Am 11. Mai wurde jedoch das Rechtsmittel der BRD vorab zurückgewiesen und das Urteil damit rechtskräftig. Das Gericht wollte sich nicht weiter mit den Einwänden der BRD befassen.
Obwohl das Urteil vom Dezember in einer Kammer von sieben Richtern einstimmig und nach immerhin knapp sechsjähriger Verfahrensdauer gefällt wurde, sieht die bayerische Justizministerin Beate Merk (CSU) mit der Zurückweisung ihr Recht auf ein faires Verfahren verletzt. Es könne nicht sein, »dass eine Handvoll Richter eine derart weitreichende Entscheidung im Vorbeigehen« treffe. Ähnlich gekränkt zeigte sich der saarländische Innenminister Stephan Toscani (CDU). Er bezeichnete das Urteil als »unerträglich«. Denn jetzt kämen Kriminelle in Freiheit, die eine Gefahr für die Bevölkerung darstellten.

Hintergrund dieser Richterschelte ist, dass eine populistische Kriminalpolitik nunmehr ihres polizeistaatlichen Lieblingsspielzeugs beraubt werden dürfte. In Deutschland kann bereits die »einfache« Sicherungsverwahrung dann angeordnet werden, wenn in Taten, die zu einer Aburteilung führten, ein »Hang« zu weiteren schweren Taten hinreichend zum Ausdruck kommt. Der Täter wird dann zunächst wegen seiner eigentlichen Schuld zu einer Freiheitsstrafe verurteilt und wegen seines angeblichen Hangs zu künftigen Taten zusätzlich zur präventiven, anschließenden Verwahrung. Ein und dieselbe Handlung wird so zu zweierlei Freiheitsentzug herangezogen. Die Tat ist dann beides: Ausweis des freien Willens, der die Schuld begründet, und Ausdruck des Hangs, des charakterlichen Defekts, von dem der Täter beherrscht werde. So dient die Sicherungsverwahrung zugleich auch zwei Ideologien: der Vergeltung und der Sicherung. Eher verleugnend denn billigend wird dabei der offenkundige Widerspruch in Kauf genommen: Wie kann jemand frei und zugleich von einem Hang beherrscht sein?
Die Sicherungsverwahrung ist Ausdruck des sogenannten »Täterstrafrechts«, wie es unter anderem 1933 mit dem »Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher« eingeführt wurde und das nicht die Taten selbst, sondern den Charakter von Tätern in den Vordergrund stellt. Während die DDR die Sicherungsverwahrung als Beispiel faschistischer Gesetzgebung wieder abschaffte, wurde sie in der BRD stetig verschärft – bis hin zur Einführung der Sicherungsverwahrung auch für Jugendliche. Im Jahr 1998 weitete selbst die rot-grüne Bundesregierung den Anwendungsbereich der Sicherungsverwahrung gegenüber der nationalsozialistischen Gesetzgebung aus und gab die bisherige Höchstgrenze von zehn Jahren auf. Die schließlich 2004 eingeführte nachträgliche Sicherungsverwahrung kann sogar in dem Zeitraum bis zum Ende der Strafhaft angeordnet werden, wenn die – wie auch immer zu bestimmende – Gefährlichkeit erst im Laufe des Strafvollzugs hervortritt. Auf diese Weise müssen Täter bestimmter Strafhandlungen bis zu ihrer eigentlichen Haftentlassung damit rechnen, dass sie – etwa wegen der Verweigerung einer Therapie oder beharrlicher Renitenz – amts- und nervenärztlich als gefährlich eingestuft werden und auf unbestimmte Zeit in Haft verbleiben.

Wirklichkeit wurde dieses Szenario für den nun gegen die BRD klagenden Gefangenen. Dieser wurde im November 1986 zunächst wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit Raub zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. Zugleich ordnete das Gericht dessen Sicherungsverwahrung an. Dabei stützte es sich auf ein Gutachten, das den Kläger als gefährlichen Straftäter einstufte und »feststellte«, dass sein Hang zur Gewalttätigkeit weitere schwere Körperverletzungsdelikte wahrscheinlich mache. Zum Zeitpunkt seiner Verurteilung betrug die Höchstdauer der Sicherungsverwahrung noch zehn Jahre, und der Kläger hätte spätestens nach 15 Jahren (fünf Jahre Strafe und zehn Jahre Sicherungsverwahrung) entlassen werden müssen. Im April 2001, also nach der gesetzlichen Aufhebung der zeitlichen Grenze für die Sicherungsverwahrung, ordnete jedoch ein Gericht die weitere Unterbringung auf unbestimmte Zeit an und begründete dies mit einem »Expertengutachten« und dem aggressiven Verhalten des Klägers in Haft. Der Kläger wurde somit erneut für seine bereits abgeurteilte Tat bestraft.
Das daraufhin angerufene Bundesverfassungsgericht billigte im Jahr 2004 dieses Vorgehen in beeindruckender begrifflicher Verrenkung. Die Sicherungsverwahrung sei, obschon der Gefangene im Gefängnis verbleibe, gar keine Strafe, sondern Mittel zur Sicherung und Besserung. Somit werde weder gegen das Verbot der Doppelbestrafung noch gegen das Rückwirkungsverbot verstoßen. Der EGMR indes hatte keinen Zweifel daran, dass es sich dabei um eine Strafe handele. In der deutschen Praxis sah der Gerichtshof einen Verstoß gegen die in der Europäischen Menschenrechtskonvention verankerten Verbote der rückwirkenden und der doppelten Bestrafung, da eine bereits abgeurteilte Tat für eine weitere Strafe herangezogen werde, zumal unter gesetzlichen Bestimmungen, die sich seit der eigentlichen Aburteilung verändert haben.

Das gegen die moderne Sagengestalt des therapieresistenten Gewaltverbrechers geschmiedete »Bündnis aus Mob und Elite« (Hannah Arendt), aus kulturindustrieller Verarbeitung von Krimina­lität und angeblich nüchterner Kriminalpolitik, erfährt durch das Urteil zumindest einen Dämpfer. Das Mandat an jene virile Elite, für Schutz zu sorgen, wird umso schriller vorgetragen und umso entschlossener angenommen, je brüchiger der tatsächliche Schutz gerät. Kaum ein anderer Bereich der Politik dient so sehr der Simulation von Handlungsfähigkeit wie jener der Kriminalpolitik, in kaum einem anderen Bereich wird die Einsicht in das Offensichtliche so beharrlich verweigert. Die Notwendigkeit, die Bevölkerung vor solchen »Bestien« zu schützen, erscheint als selbstevident, so dass die Erfahrung offensichtlicher Unstimmigkeiten verdrängt wird, als ob sich Gefährlichkeit mit hinreichender Sicherheit prognostizieren ließe, als ob das jahrelange Einsperren in ein Gefängnis etwas anderes sein könnte als Strafe.
Gegenüber anderen Staaten tut sich Deutschland bei all dem durch ein besonders autoritäres Programm hervor. Eine lange antiliberale Tradition trifft hier auf das Bedürfnis des alten Export- und neuen Niedriglohneuropameisters, die eigenen Reihen fest geschlossen zu halten. Eine neomerkantilistische Politik nach außen, die von der Verschuldung anderer Länder lebt und diese zugleich in autoritärer Geste geißelt, wird ergänzt vom polizeistaatlich-psychiatrischen Feldzug gegen Abweichung im Inneren.