Baskenland zwischen Linksnationalismus und Repression

Back to the Woods

Der Eta-Aktivist Jon Anza kam unter mysteriösen Umständen ums Leben. Sind erneut parastaatliche Todessschwadrone am Werk? Eine Reportage über den baskischen Alltag zwischen Linksnationalismus und Repression.

»Was habt Ihr mit Jon gemacht?« Auf Plakaten an Schaufenstern, Transparenten an Balkons, Graffiti an Häuserwänden kann man derzeit in vielen Ecken des Baskenlands diese Frage lesen. Sie bewegt die linksnationalistische baskische Bewegung wie keine andere.
Jon Anza war ein Aktivist der baskischen Guerilla Eta. Er ist im April vergangenen Jahres auf dem Weg zu einem Treffen spurlos verschwunden. Seitdem prangte sein Konterfei von vielen Wänden und Plakaten, sogar Suchtrupps wurden organisiert, vergebens. Im März dieses Jahres wurde gemeldet, seine Leiche befinde sich in einem Krankenhauses im französischen Toulouse. Fast ein Jahr soll sie dort unidentifiziert gelegen haben. Offiziellen Angaben zufolge ist Jon Anza an den Folgen einer Gehirntumor-Operation gestorben. Für die baskischen Linksnationalisten hingegen ist klar: Der Etarra wurde ermordet.
Ein Monat nach dem Auftauchen der Leiche demonstrieren mehrere tausend Menschen im kleinen französisch-baskischen Fischerort Saint Jean de Luz (Donibane Lohizune), der Geburtsstadt Jon Anzas. »Wir wollen die Wahrheit!« ist auf dem Fronttransparent zu lesen, hinter dem sich ein Meer aus baskischen Fahnen anreiht. »Mörder!« und »Das baskische Volk vergibt nicht!« wird gerufen, vereinzelt sind auch Parolen für die Eta zu hören. Ansonsten wirkt die Demonstration eher wie ein Sonntagsspaziergang mit viel Folklore. Auch die französische Polizei hält sich zurück und beschränkt sich darauf, den Verkehr zu regeln. Nach zwei Stunden sind fast alle Straßen des kleinen Ortes abgelaufen. »Alles Kommunisten!« schimpft ein älterer Mann, der in einem Café am Rande der Demonstration sitzt, auf Französisch vor sich hin. Auf einige Teilnehmer mag diese Einschätzung zutreffen, die Demonstration hat jedoch keine eindeutige politische Ausrichtung.
Auf der Abschlusskundgebung, die den gesamten Marktplatz einnimmt, werden der spanische und der französische Staat für den Tod von Jon Anza verantwortlich gemacht, die offizielle Version der Behörde sei eine »Lüge« und eine »Manipulation«. Zum Schluss wird »Eusko Gudariak«, die Hymne des baskischen Soldaten, angestimmt, und hunderte Fäuste werden in die Luft gereckt.
Selbst wenn man nicht der Meinung ist, das Baskenland sei ein vom »faschistischen Spanien besetztes Land«, lassen die mysteriösen Umstände von Anzas Tod tatsächlich Zweifel aufkommen. Der Etarra habe sein Hotel in Toulouse »in verwirrtem Eindruck« verlassen, teilten die französischen Behörden mit, elf Tage später sei er in unmittelbarer Nähe bewusstlos aufgefunden worden. Zwei Wochen später starb er im Krankenhaus, ohne zuvor aus dem Koma aufgewacht zu sein. In der Zwischenzeit war sein Ausweis im Fundbüro abgegeben worden, wo ihm jedoch niemand Beachtung schenkte. Darüber, wer den Ausweis gefunden hat und wo, gebe es keine Angaben mehr, hieß es. An dem Tag, als die französische Justiz im Mai vergangenen Jahres Ermittlungen wegen Anzas Verschwindens einleitete, tauchten in einem Hotel in Toulouse zwei Pistolen auf. Beamte der spanischen Guardia Civil hätten sie bei ihrer Abreise dort zurückgelassen, meldete die französische Polizei. Haben die spanischen Beamten an diesem Tag überstürzt ihr Hotel verlassen, und wenn ja, warum? Die Frage eines der Redner auf der Demonstration klingt etwas direkter: »Wollen sie uns vielleicht verarschen?«
Viele Teilnehmer fühlen sich an die dunkle Geschichte der spanischen Terrorismusbekämpfung erinnert. In den achtziger Jahren gingen die Grupos Antiterroristas de Liberación (GAL) im Auftrag des Innenministeriums brutal gegen die baskische Linke vor. Dutzende Morde, Folterungen und Entführungen gingen auf ihr Konto. Die Verbindungen der paramilitärischen Kommandos reichten bis zu Felipe González, dem dama­ligen Präsidenten von der sozialdemokratischen Psoe. Für die Izquierda Abertzale, die linke Unabhängigkeitsbewegung des Baskenlandes, ist klar: Der »schmutzige Krieg« von damals hat wieder begonnen. Wöchentlich kommt es zu Razzien, Festnahmen und Anklagen. Bei einer Razzia Mitte April wurden zehn ältere Aktivisten festgenommen, darunter Professoren, Gewerkschafter und einige Anwälte. Innenminister Alfredo Pérez Rubalcaba zufolge sind sie für die Kommunikation zwischen den inhaftierten Etarras und der Bewegung draußen zuständig gewesen, »Revolutionssteuern« und Anschlagspläne seien von ihnen weitergeleitet worden. Wie es im Falle von mutmaßlichen Eta-Mitgliedern üblich ist, verblieben sie die ersten fünf Tage incomunicados, ohne Anrecht auf Kontakte zu Anwälten oder anderen Personen.
Unter den Festgenommenen war auch Juan Mari Jauregi aus Egia, einem Stadtteil von Donostia-San Sebastián. »Das ganze Viertel war voll mit Bullen, die Hauptstraße war abgesperrt«, erzählt ein Bewohner. Das Viertel ist eher links geprägt, an vielen Wänden kleben Plakate zum Aberri Eguna (dem inoffiziellen baskischen Nationalfeiertag), auf Transparenten wird die Wahrheit über Anzas Tod verlangt oder die Verlegung der politischen Gefangenen ins Baskenland gefordert. Vor allem die Schaufenster der Banken dienen als Litfasssäule für die nationalistische Eigenwerbung. Für die Menschen hier ist Jauregi, Mitbegründer der Nachbarschaftsvereinigung und ehemaliger Gewerkschafter, vor allem ein sozial engagierter Nachbar. Für den spanischen Staat ist er ein Terrorist.
Es ist schwer herauszufinden, was stimmt. In der Tageszeitung Gara, dem Sprachrohr der linken Unabhängigkeitsbewegung, ist stets nur von Festnahmen »baskischer Bürger« die Rede, selbst wenn die Polizei, wie zuletzt am 21. Mai in Frankreich, einen mutmaßlichen Anführer der Eta verhaftet. Auf der anderen Seite steht die fragwürdige Terrorismus-Definition der spanischen Justiz. Selbst der nationale Gerichtshof hatte diese neulich in einem Urteil scharf kritisiert. Es herrsche die »enge und irreführende Auffassung, wonach alles, was mit der baskischen Sprache oder Kultur zu tun hat, von der Eta gefördert und/oder kontrolliert« werde, erklärten die Richter. Zudem bestätigten sie indirekt die Foltervorwürfe der Inhaftierten. Einen Tag später fand die oben erwähnte Razzia statt.
Der Konflikt um »nationale Identität« und Repression beherrscht im Baskenland die Politik und die Medien, doch im alltäglichen Leben tritt er weniger offen zutage als früher. Wer vor zehn Jahren am Bahnhof in Donostia ausstieg, blickte auf ein riesiges Transparent, das die komplette Fassade eines alten mehrstöckigen Hauses verdeckte. »Tourist remember: you are not in Spain, you are in Basque Country!« war darauf zu lesen. Heute sind ähnliche Sprüche und Solidaritätsbekundungen mit der Eta nur noch als verblasste Sprüherei auf Häuserwänden zu sehen. Die Zeiten, in denen sich Jugendliche der kale borroka (baskisch für Straßenkampf) abends auf dem zentralen Boulevard verabredeten, um sich Straßenschlachten mit der Polizei zu liefern oder Stadtbusse anzuhalten und sie – nachdem die Insassen vertrieben wurden – mit Molotow-Cocktails in Brand zu setzen, sind vorbei.
Der nationale Kampf der Izquierda Abertzale spielt sich heute vor allem auf den vielen kleineren Demonstrationen oder in den halbversteckten Tavernen ab, die in jeder Stadt zu finden sind. Früher konnte man sich in diesen Lokalen an Fotowänden einen Eta-Gefangenen aussuchen, auf den man seinen Schnaps trinken wollte. Seit aber das Zeigen der Fotos von Inhaftierten als »Unterstützung des Terrorismus« verfolgt wird, wurden diese Bilder in vielen Kneipen beschlagnahmt.
»Hier sind sie bereits zweimal vorbeigekommen«, erzählt die Bedienung eines Lokals im Stadtteil Deusto von Bilbao. Eine Strafe müssen die Betreiber aber nicht fürchten. »Es gibt kein Gesetz dagegen.« Trotzdem hängen hier seit der zwei­ten Razzia nur noch Namen und keine Fotos mehr an der Wand. Aus den Boxen kommt traditionelle baskische Musik, ein paar alternativ aussehende, zumeist jüngere Menschen trinken Kaffee und lesen Gara oder die rein baskischsprachige Berri. Die Tavernen dienen nicht nur als Szene-Treffpunkt, sondern auch als Wall gegen die offizielle Zweisprachigkeit, oder, wie man hier meint, gegen den spanischen »Sprachimperialimus«. Hier ist alles auf euskera. Die Sprache soll Identität schaffen, sie ist die Voraussetzung für die Zugehörigkeit zum Volk und der wichtigste ideologische Pfeiler des baskischen Nationalismus.

In den Städten kommt man in der Regel problemlos ohne Baskischkenntnisse über die Runden. Leider, denken offenbar die Nationalisten und vor allem die Sprachpuristen unter ihnen, wie an der Werbung einer baskischen Sprachschule zu sehen ist: Auf einem Foto ist ein junges, asiatisch aussehendes Touristenpärchen vor einem Brunnen zu sehen. »Ez edan« (kein Trinkwasser), warnt ein Schild über der Tränke, vor der sich der Junge bereits schmerzverkrümmt den Bauch hält. »Baskisch zu können ist nützlich«, lautet das hämische Motto der Kampagne.
»Gerade in alternativen Kneipen lassen sie dich nur arbeiten, wenn du euskaldun bist, wenn du baskisch sprichst«, erzählt Bene aus Italien, die als freie Modeschaffende arbeitet und sich ihr Geld nebenher als Bedienung verdient.
Dabei beherrscht gerade mal ein Viertel der baskischen Bevölkerung die äußerst komplizierte und sagenumwobene Sprache. Selbst in der Herriko Taberna im historischen Stadtkern von Donostia unterhält man sich hinter der Theke auf Spanisch. Aber auch hier sind die Aufrufe zu Demonstrationen, Konzert- und Antifa-Plakate ebenso wie die Schilder gegen Sexismus, Homo- und Transphobie auf Baskisch. Die Teilhabe am subkulturellen und politischen Leben der Linken ist den euskaldun vorbehalten.

Um den ganzen kämpferischen Charakter des Baskenlands zu Gesicht zu bekommen, muss man aus den Städten heraus. Wenn man ins Landesinnere fährt, trifft man auf viele kleine Ortschaften, die von hohen Bergen umgeben sind. Alles wirkt ein wenig verschlossen, die vereinzelten Häuser an den Hängen erinnern an die Schweizer Alpen, dabei ist man nur wenige Kilometer von der spanischen Atlantikküste entfernt. Hier ist die Heimat des baskischen Nationalismus, hier wird Tradition groß geschrieben. Und man spricht Baskisch.
Im Mythos waren die Basken schon immer ein Bergvolk. Unter dem Regime von Francisco Franco wurde die baskische Sprache verboten, und viele Menschen, die heute noch auf Land wohnen, bekamen illegalen Baskischunterricht in den Wäldern. Die Diktatur und der spanisch-baskische Konflikt prägen bis heute die Geschichte vieler Dörfer und das Selbstbild der Bewohner auf dem Land.
Sechs Kilometer von Donostia entfernt liegt das kleine, mittelalterlich wirkende Fischerdorf Pasai Donibane. Wenn man mit dem kleinen Schiff übersetzt, erkennt man bald das mit Transparenten zugehängte Haus in der Mitte des Marktplatzes. Bei dem Gebäude handelt es sich nicht um ein besetztes Haus, sondern um die Stadtverwaltung. Die »Gora ETA!«-Sprüche wurden an den meisten Wänden der kleinen Gassen notdürftig übermalt, die Forderungen nach Unabhängigkeit sind hingegen groß geschrieben und überall sichtbar. Der Weg an den Felsen entlang zum offenen Meer führt an einer kleinen Gedenktafel vorbei, unter abgelegten Blumen sind vier baskische Namen zu lesen. Unterhalb der Tafel sind die Umrisse von vier Körpern mit weißer Farbe auf die Steine am Wasser gemalt. 1984 hatte die Polizei hier Mitglieder der Comandos Autonomos Anticapitalistas in einen Hinterhalt gelockt und mit Maschinengewehren das Feuer eröffnet. Die linke Gruppe hatte einen Monat zuvor den Psoe-Funktionär Enrique Casas, einen der Hintermänner der GAL, erschossen.
Nach einer Weile im Baskenland hat man das Gefühl, dass sich hier nicht nur alles im Kreis, sondern vor allem um sich selbst dreht. Ein ritualisiertes Wechselspiel von Verboten und Neugründungen, Freisprüchen und Festnahmen, Attentaten und Repression, ein Ende davon ist nicht in Sicht. »Askatasuna!« (Freiheit) ist an viele Wände gesprüht. Die Forderung nach Gerechtigkeit für die Gefangenen wird mit der »Freiheit des Baskenlands« gleichgesetzt.
Auch in der neusten Kampagne der Izquierda Abertzale werden der »soziale Wandel«, der »demokratische Prozess« und die »Gerechtigkeit« thematisiert, gleichzeitig ist aber auch vom »nationalen Aufbau« und von »unserem Volk« die Rede.
Trotz der ritualisierten Forderung nach Unabhängigkeit und Sozialismus wird deutlich, worum es in erster Linie geht: um das gleichsam natürliche Anrecht des baskischen Volkes auf einen eigenen Staat, einfach aus dem Grund, weil man ein »Volk« sei. Ein »prä-indoeuropäisches Volk«, um genauer zu sein, welches seit der neo­lithischen Zeit existiere und zur »Wurzel der Menschheit« gehöre. Das kann man im 2004 erschienenen Standardwerk »Warum kämpfen wir Basken?« nachlesen. Der Verfasser, Fernando Alonso, versucht darin zu beweisen, dass die Basken das Urvolk schlechthin seien, die »Samen des modernen Europas«, eine autochtone Entwicklung des Cro-Magnon-Menschen. Studien hätten ergeben, dass 75 Prozent der europäischen Gene baskischen Ursprungs seien. Der Autor war Redakteur der inzwischen verbotenen linksna­tionalistischen Tageszeitung Egin, deren Nachfolge die Gara antrat, und wurde 1997 wegen Eta-Mitgliedschaft zu 39 Jahren Haft verurteilt.
Auch wenn man solche steilen Thesen selten zu lesen bekommt, prägt dieses völkische Selbstverständnis das Weltbild vieler Linksnationalisten. Das ethnische Kollektiv kommt immer vor dem Individuum. Fortschrittliche politische Forderungen, die über die Verlegung und Freilassung von politischen Gefangenen und einen baskischen Staat hinausgehen, werden kaum formuliert. Das einzig Konkrete ist die immer wiederkehrende positive Bezugnahme auf die »neuen« europäischen Staaten. Wohin dieser Kampf – abseits neuer Staatsgründungen – aber führen soll, wird offen gelassen.
Vor der Herriko Taberna in Donostia weht die irische Fahne neben der Ikkuriña, der Fahne des Baskenlandes. Ein Wandgemälde im Inneren des Lokals zeigt eine Gruppe von Menschen, die auf eine Militärsperre zulaufen. Es sind Joaldunak, sie tragen die traditionellen Kostüme, die von den baskischen Urstämmen bei ihren heidnischen Reinigungszeremonien getragen wurden. Nach einem Schritt in die Zukunft freier Menschen sieht das nicht aus. Eher nach einem Schritt zurück in die Wälder.