Der große Sparplan für Europa

Die Risiko-Sparer

Fast alle Regierungen der Euro-Staaten haben harte Sparmaßnahmen angekündigt. Lohnsenkungen sollen die Länder Südeuropas wieder wettbewerbsfähig machen, aber in Sachen Niedriglöhne und Exporte hat Deutschland die Nase noch immer vorn. Wenn jetzt alle Euro-Länder nach deutschem Vorbild sparen – wer kauft den Deutschen noch ihre Produkte ab?

Die Fahnder kamen in Schnellbooten und schlugen überraschend zu. In einer spektakulären Aktion konfiszierte die italienische Finanzpolizei vergangene Woche die Luxusjacht des ehemaligen Formel-1-Managers Flavio Briatore wegen angeblicher Steuerschulden. »Der Vorfall vor der Küste von La Spezia verstört die globale Superjachtszene«, berichtete die Financial Times Deutschland aufgeregt. Anwälte raten ihren internationalen Klienten bereits, sich gut zu überlegen, ob sie sich in italienische Gewässer wagen wollen.
Dass sich die »Szene« nun ausgerechnet im Land von Silvio Berlusconi sorgen muss, zeigt, wie panisch die europäischen Finanzämter mittlerweile nach zusätzlichen Einnahmen suchen. So vergleichen italienische Beamte mit Hilfe von Luftaufnahmen die Steuererklärungen mit den tatsächlichen Wohnverhältnissen. Wer einen Swimming-Pool besitzt, aber angeblich nur einen Durchschnittslohn verdient, kann mit einem Besuch der Fahnder rechnen. Und wer in Griechenland einen Steuerhinterzieher denunziert, soll zehn Prozent der geschuldeten oder zumindest der eintreibbaren Summe erhalten.
Seit sich die staatliche Neuverschuldung infolge der Finanzkrise verdreifacht hat, versuchen die Regierungen der Euro-Staaten mit allen Mitteln, die Defizite zu reduzieren. Doch die spektakuläre Jagd nach potentiellen Steuersündern reicht bei weitem nicht aus, um das Problem zu lösen. Sie dient vielmehr dazu, den angekündigten harten Sparbeschlüssen einen Anschein von sozialer Ausgewogenheit zu verleihen. Denn im Wesentlichen sind es die Bezieher mittlerer Einkommen und die sozialen Unterschichten, die für die Krise zahlen müssen.
Die meisten Staaten haben enorme Kürzungen in ihren Haushalten beschlossen, wobei sich die Maßnahmen ähneln. Die Gehälter der Beamten werden reduziert, Stellen im öffentlichen Dienst nicht mehr neu besetzt, Sozialleistungen gestrichen, das Rentenalter heraufgesetzt. In Italien möchte Ministerpräsident Berlusconi in den kommenden Jahren 24 Milliarden Euro einsparen und streicht deswegen die Transferzahlungen an die Kommunen und Gemeinden radikal zusammen. Zugleich will man die staatlichen Einnahmen steigern. Griechenland erhöht die Mehrwertsteuer, Portugal führt eine »Krisensteuer« ein. Spanien, das in den nächsten Jahren 65 Milliarden Euro einsparen will, plant eine spezielle Abgabe für Millionäre. In Frankreich denkt man über eine »Solidaritätsabgabe« für hohe Einkommen und Kapitaleinkünfte nach.

Mit den bisher getroffenen Maßnahmen könnten zwar einige Löcher gestopft werden, »doch um Wachstum zu generieren, benötigt man langfristige Reformen, auch wenn sie schwieriger und kostspieliger sind«, verriet Lorenzo Bini Smaghi, Vorstandsmitglied der Europäischen Zentralbank (EZB), kürzlich der Zeitung ABC. Seiner Meinung nach sollte Spanien die Löhne nicht mehr an die Inflation koppeln und somit die Wettbewerbsfähigkeit verbessern. Nur auf diese Weise könne das Land langfristig sein gewaltiges Handelsdefizit abbauen. Ein Rat, der vermutlich auch für andere Euroländer gilt. Als heimliches Vorbild könnte dabei Lettland dienen. Die baltische Republik, die nicht zur Euro-Zone gehört, geriet wegen der Finanzkrise vor zwei Jahren an den Rand des Staatsbankrotts. Gegen harte Auflagen erhielt das Land einen Notfallkredit vom Internationalen Währungsfonds. Viele tausend Angestellte im öffentlichen Dienst verloren daraufhin ihren Job, vor allem Polizisten und Finanzbeamte. Schulen wurden geschlossen, Krankenhäuser zusammengelegt, Ministerien aufgelöst und nahezu alle Gehälter um bis zu 30 Prozent gekürzt. Im vergangenen Jahr ging die Wirtschaftsleistung des Landes daraufhin um fast ein Fünftel zurück – ein in Friedenszeiten fast einmaliger Vorgang.
Die Entwicklung in Lettland zeigt drastisch, vor welchem Dilemma die südeuropäischen Staaten stehen. Um die Schulden dauerhaft senken zu können, sind die Länder auf ein höheres Wirtschaftswachstum angewiesen. Das aber ist nicht zu erwarten. Die Sparprogramme belasten die Binnenkonjunktur erheblich. Und auch die Exportleistung der Länder ist schwach, seit Jahren verlieren sie Marktanteile. Ursprünglich hatte die EZB das Ziel ausgegeben, dass die Lohnsteigerungen in der Euro-Zone rund zwei Prozent über der Inflationsrate liegen sollen. In fast allen Ländern hat man sich daran gehalten, nur in Deutschland lag die Quote stets darunter.
Die Konsequenzen daraus hat der US-amerikanische Nobelpreisträger für Wirtschaft, Paul Krugman, beschrieben. Seinen Berechnungen zufolge müssen die Löhne in Griechenland oder Spanien bis zu 30 Prozent sinken, damit sie wieder mit deutschen Unternehmen konkurrieren können. Sparen, Steuern erhöhen und Löhne senken: Unter diesen Umständen ist ein Aufschwung mehr als unwahrscheinlich. Dennoch gibt es nach Ansicht der deutschen Regierung keine Alternative zu diesem rigiden Kurs. Finanzminister Wolfgang Schäuble würde der Euro-Zone am liebsten sogar eine Schuldenbremse verordnen, wie sie bereits in der deutschen Verfassung festgeschrieben wurde.

Nicht erst seit dem Griechenland-Debakel führt sich die Regierung in Berlin als eine Art oberste europäische Finanzbehörde auf. In zahllosen Kommentaren wurde die Verschwendungssucht der dekadenten Südeuropäer gegeißelt, als sei die Krise ausschließlich durch moralisches Fehlverhalten verursacht: Verantwortungslose Politiker hätten mit geliehenem Geld um sich geworfen, damit die Bevölkerung ein möglichst angenehmes Leben führen konnte.
In ihrem selbstherrlichen Auftreten lassen die Deutschen dabei völlig außer Acht, dass es ohne Defizite auch keine Konjunktur mehr gibt. Insbesondere die deutsche Exportwirtschaft profitiert in hohem Maße von den Schulden der europäischen Nachbarn. Ein besonders bizarres Beispiel liefert die griechische Armee, die zur großen Freude deutscher Rüstungsunternehmen mehr Leopard-Panzer besitzt als selbst die Bundeswehr. Dabei bestehen die griechischen Grenzen überwiegend aus Küsten.
Die deutsche Regierung treibt ein riskantes Spiel. Mit ihrer monatelangen Weigerung, Griechenland zu unterstützen, hat sie den Zusammenbruch der Euro-Zone zumindest indirekt in Kauf genommen. In letzter Minute stimmte sie zwar dem Rettungspaket zu, aber nur unter der Bedingung, dass alle Regierungen sparen, bis es kracht. An den strukturellen Ursachen der Misere hingegen will sie nichts ändern. Kritik an den deutschen Exportüberschüssen und dem damit verbundenen extremen Ungleichgewicht in Europa weist sie strikt zurück. Und auch mit der Gefahr, dass die meisten Euro-Staaten in eine langwierige Rezession abgleiten, kann man offenbar in Berlin gut leben.
»Nun, zum schlechtestmöglichsten Moment, wendet sich Deutschland nationalistischen Illusionen zu«, kommentierte Ende vergangener Woche die New York Times. »Europas frühere ökonomische Erfolge werden als deutsche Erfolge angesehen. Für Europas aktuelle Schuldenprobleme sind hingegen alle verantwortlich, nur nicht Deutschland.« Das ungewöhnlich scharf formulierte Editorial unter dem Titel »Deutschland gegen Europa« erschien passenderweise am selben Tag, als der US-amerikanische Finanzminister Timothy Geithner in Berlin eintraf. Mit versteinerter Mine hört sich dort sein Amtskollege Wolfgang Schäuble dessen Vorwürfe an. Der strikte deutsche Sparkurs werde jeden wirtschaftlichen Aufschwung in Europa abwürgen und so auch die Weltwirtschaft gefährden. Viele lobende Worte fand Geithner hingegen für das Konjunkturprogramm der chinesischen Regierung. Der Konflikt ist nicht neu. Schon bei der Finanzkrise vor zwei Jahren lehnte Deutschland zunächst staatliche Wirtschaftsprogramme ab. Die USA drängten die Bundesregierung bereits damals, mehr Rücksicht auf die Konjunktur und das globale Wachstum zu nehmen.
Auch heute schert sich die Regierung in Berlin wenig um die Sorgen anderer Länder. Vielleicht hofft man dort tatsächlich, am Ende »gestärkt aus der Krise hervorzugehen«, wie es Bundeskanzlerin Angela Merkel einmal formulierte. Schließlich ziehen viele Anleger ihre Gelder aus den angeschlagenen Euro-Staaten ab und investieren sie im wirtschaftlich stärksten Land des Kontinents. Mittlerweile befinden sich die Renditen für deutsche Staatsanleihen auf einem historischen Tiefstand – noch nie war es für die Regierung in Berlin so günstig, Geld zu leihen. Je schlechter es um die Bonität von Griechenland oder Spanien steht, desto weniger muss Deutschland für seine eigenen Anleihen zahlen.
Zugleich profitieren deutsche Unternehmen von dem niedrigen Euro-Kurs, der deutsche Waren außerhalb Europas deutlich günstiger macht. Die riskante Strategie könnte sich rentieren, wenn es Deutschland gelingt, die Krise zu exportieren. Die Kosten zahlen dann die schwachen Eurostaaten, aber auch China und die USA. Gut möglich aber auch, dass die deutsche Rechnung nicht aufgeht. Wenn die Euro-Länder in einer langwierigen Rezession versinken, brechen auch die wichtigsten Exportmärkte ein. Und spätestens dann ist es wohl mit der deutschen Herrlichkeit vorbei.