Propaganda-Seeschlacht um die Gaza-Soli-Flotte

Unter falscher Flagge

Von den vermeintlichen Solidaritätsaktionen der »Freedom Flotilla« profitieren die islamistischen Herrscher des Gaza-Streifens. Doch wer der Hamas hilft, schadet den Palästinensern.

Weit fahren kann Mahmoud Sallah nicht, dennoch ist er stolz auf seinen neuen BMW. Allerdings musste er das Fahrzeug von einem Mechaniker zusammensetzen lassen, denn in einem Stück passte es nicht durch die Tunnel, die den Gaza-Streifen mit Ägypten verbinden. Die Blockade ­erhöht die Preise, doch wer genug Geld hat, muss auf nichts verzichten. »Wir sind angewiesen auf das System des freien Marktes«, sagte Zeyad Zaza, Wirtschaftsminister der Hamas. Die Islamisten kassieren mit, 10 000 Dollar kostet die Zulassung eines Neuwagens.
Seit ihrer Machtübernahme im Juni 2007 profitiert fast ausschließlich die Hamas von der Kriegswirtschaft. Sie organisiert den Schmuggel oder erhebt Abgaben, und sie kontrolliert die Verteilung der Hilfsgüter. Konkurrenz wird nicht geduldet, in der vergangenen Woche kritisierte der UN-Gesandte Robert Serry, dass die Hamas die Büros diverser NGO schloss und deren Material »beschlagnahmte«. In Jahrzehnten der Auseinandersetzung mit diebischen Warlords und korrupten Regierungen haben Hilfsorganisationen gelernt, dass nicht alles, was geliefert wird, auch den Bedürftigen zukommt. Geht es um Gaza, spielen solche Erkenntnisse jedoch keine Rolle.
Dass die Not der Bevölkerung zweitrangig war, hat das Free Gaza Movement allerdings offen zugegeben. »Bei dieser Mission geht es nicht darum, humanitäre Güter zu liefern, es geht darum, Israels Blockade zu brechen«, sagte Greta Berlin, eine Mitbegründering der Organisation. Warum es im Gaza-Streifen Mangelernährung gibt, obwohl die Menge der gelieferten Nahrungsmittel eigentlich ausreichen müsste, wird daher gar nicht erst gefragt. Da es auf die Hilfsgüter nicht ankam, fand man wohl auch nichts dabei, Medikamente zu liefern, deren Haltbarkeitsdatum mehr als ein Jahr abgelaufen war. Hätte dies die israelische Regierung getan, die im vorigen Jahr mehr als 10 000 Palästinenser aus dem Gaza-Streifen zur medizinischen Behandlung einreisen ließ, wäre das ein globaler Skandal gewesen.
Nachdem das zumindest von einer Fraktion der in der »Freedom Flotilla« Mitreisenden angestrebte Ziel, eine blutige Auseinandersetzung zu provozieren, erreicht worden war, spielte eine schnelle Verteilung der im Hafen von Ashdod lagernden Hilfsgüter keine Rolle mehr. Nicht kon­trollwütige Israelis blockierten den Transport, vielmehr stellte der Hamas-Sozialminister Ahmed al-Kurd drei Bedingungen, unter anderem verlangte er die Auslieferung sämtlicher an Bord befindlicher Güter.

Dass auch Tarnkleidung an Bord war, mag dem schlechten Geschmack der Spender geschuldet sein. Eine nennenswerte Stärkung der islamistischen Kampfkraft hätte ihre Verteilung nicht zur Folge gehabt, doch angesichts von mehr als 3 700 Raketen, die vom Gaza-Streifen aus abgeschossen wurden, ist es verständlich, dass die israelische Regierung kontrollieren will, was der Hamas geliefert wird. Fraglich ist allerdings, ob die Blockade eine Aufrüstung der Islamisten verhindert, denn wer Autos durch die Tunnel schmuggelt, dürfte sich auf diesem Weg auch mit militärischem Material versorgen können.
Am Montag erschoss die israelische Marine vor der Küste von Gaza vier bewaffnete Palästinenser in Taucheranzügen, die offenbar einen Anschlag geplant hatten. Auch Raketen werden weiterhin vereinzelt abgefeuert. Die Zahl der Angriffe ist jedoch vergleichsweise gering, und dies scheint nicht allein eine Folge der militärischen Schwächung der Hamas durch die israelische Militärintervention im Gaza-Streifen vor anderthalb Jahren zu sein. Die Islamisten haben offenbar erkannt, dass andere Strategien derzeit mehr Erfolg versprechen.
Die Hamas will als Verhandlungspartner und legitime Regierung des Gaza-Streifens anerkannt werden, ohne dafür Zugeständnisse zu machen. In ihrem Herrschaftsgebiet duldet sie nicht einmal mehr die nationalreligiösen Konkurrenten von der Fatah, doch in der Außenpolitik ist sie zu Bündnissen auch mit säkularen Gruppen bereit. Sie kann von der Entpolitisierung der Palästina-Solidaritätsbewegung profitieren. In früheren Zeiten hat man in der Linken wenigstens noch eifrig diskutiert, ob etwa die Frauenpolitik der PFLP feministischen Standards entspricht, auch wenn am Ende doch immer diese oder jene nationalistische Organisation unterstützt wurde. Mittlerweile haben sich die kritischen Internationalisten verabschiedet, die verbliebene Bewegung kennt nur noch ein Kollektiv namens »die Palästinenser« und dessen Feind, Israel oder auch »die Juden«. Verstärkung kam aus liberalen Kreisen, etwa von britischen Akademikern, die sich für einen Boykott Israels einsetzen.
Die Zusammenarbeit zwischen diesem »Netzwerk der Entlegitimierung« und dem »Netzwerk des Widerstands«, islamistischen oder arabisch-nationalistischen Organisationen und Staaten, wird vom israelischen Reut Institute als existenzielle Bedrohung gewertet (Jungle World, 7/10). Während das »Netzwerk des Widerstands« alles tue, um eine Zwei-Staaten-Lösung zu verhindern, widme sich das »Netzwerk der Entlegitimierung« propagandistischen Angriffen gegen Israel, die das Existenzrecht des Staates in Frage stellen.
Die Kampagne ist recht erfolgreich, unter anderem gelang es, einige Mythen zu verbreiten. Hartnäckig hält sich etwa die Legende, der Westen habe den Wahlsieg der Hamas nicht anerkannt. Doch der damalige US-Präsident George W. Bush sagte Ende Januar 2006, die Palästinenser seien »nicht glücklich mit dem Status quo« gewesen und hätten »eine ehrliche Regierung« verlangt. Die haben sie allerdings nicht bekommen, gegenüber dem Palestinian Center for Policy and Survey gaben im März 42 Prozent der Befragten an, sie würden nun die Fatah wählen. Nur noch 28 Prozent ziehen die Herrschaft der Hamas vor, obwohl die von der Fatah angekündigten Re­formen ausblieben. Auf die westliche Finanzhilfe kann die Hamas allerdings nicht zurückgreifen, weil sie die Osloer Verträge, auf deren Grundlage gezahlt wird, nicht anerkennt.
Implizit und nicht selten auch explizit wird die Hamas als demokratisch legitimierte Organisation betrachtet. Doch ihre Herrschaft über den Gaza-Streifen verdankt sie einem Putsch gegen die Fatah, bei dem im Juni 2007 über 100 Menschen getötet und mehrere Gefangene ermordet wurden.

Die Machtübernahme war ein gewagtes Unternehmen, denn als Regierung war die Hamas nun eigentlich verantwortlich für das Wohlergehen der Bevölkerung. Es ist jedoch gelungen, zumindest bei großen Teilen der Weltöffentlichkeit den Eindruck zu erwecken, dass Israel die Bewohner des Gaza-Streifens aushungere und zu einer Änderung seiner Politik gezwungen werden müsse, während die Hamas als eine Gruppe gilt, mit der man verhandeln müsse, ohne Bedingungen zu stellen.
Das inszenierte Märtyrertum auf der »Mavi Marmara« war eine exemplarische Bestätigung der Thesen des Reut Institute und der bislang bedeutendste Coup der Netzwerke. Auch wenn die Vorfälle nicht vollständig geklärt sind, steht fest, dass die Männer, die mit potentiell tödlichen Waffen die Soldaten angriffen, sich vorbereitet hatten und sich über die Folgen keine Illusionen machen konnten. Obwohl sie auch andere Passagiere hintergangen und gefährdet haben, scheint niemand im »Netzwerk der Delegitimierung« gewillt zu sein, sich zu distanzieren. Ungeachtet aller Videodokumente, die belegen, dass die israelischen Soldaten nicht auf harmlose Peaceniks trafen, kann die Hamas einen Sieg feiern.
Die ägyptische Regierung hat den Grenzübergang zum Gaza-Streifen nun geöffnet, und das israelische Kabinett diskutiert darüber, ob die Blockade gelockert oder sogar gänzlich aufgehoben werden soll. Man kann das als eine längst überfällige Entwicklung betrachten, da die militärische Effizienz der Blockade zweifelhaft und die erhoffte politische Schwächung der Hamas nicht eingetreten ist. Doch zu diesem Zeitpunkt, unter dem Druck der »internationalen Gemeinschaft« in Gang gekommen, stärkt sie die Hamas ebenso wie das »Netzwerk der Delegitimierung«.

Ob es den Bewohnern des Gaza-Streifens nutzt, wenn der »freie Markt« sich auch jenseits der Tunnelimporte entfalten kann, ist fraglich. Eine ökonomische Chance, das war vor einigen Jahren auch den palästinensischen Experten klar, hat das Gebiet nur als Billiglohnreservoir für israelische und ausländische Unternehmer. Der Kon­troll­punkt von Erez im Norden des Gaza-Streifens, nun ein verfallendes betoniertes Ödland, wurde ursprünglich für den täglichen Übergang Tausender palästinensischer Arbeitskräfte gebaut, auch ein Gewerbegebiet wurde eingerichtet. Nach dem Beginn der al-Aqsa-Intifada verfolgte die israelische Regierung diese Pläne weiter, erst mit dem Putsch der Hamas scheiterten sie.
Wer mit der Hamas kooperiert, schwächt die Fatah, die einzige Partei, mit der ein Friedensabkommen möglich ist. Eine Versöhnung sei nur denkbar, wenn die Fatah anerkenne, dass der Friedensprozess »unwiderruflich vorbei« sei, erklärte die Hamas im vergangenen Jahr, und an dieser kompromisslosen Haltung hat sich nichts geändert. Mehr als 30 Prozent der Palästinenser glauben mittlerweile, dass Westbank und Gaza-Streifen getrennt bleiben werden.
Konfrontiert mit einer geschwächten Fatah-Führung, die verhandlungsbereit ist, aber in absehbarer Zeit nicht in der Lage sein wird, den Gaza-Streifen zurückzuerobern oder Wahlen zu erzwingen, und einer Hamas, die ungeachtet ihres Antisemitismus und der immer offen bekundeten Absicht, Israel zu vernichten, mehr und mehr als legitime Regierung betrachtet wird, wenden sich viele Israelis den rechten Parteien zu. Einmal mehr scheint ihnen ein starkes Militär die einzige Garantie ihrer Sicherheit zu sein.
Man kann darüber streiten, welche Rolle antisemitische Ressentiments, reaktionär-romantische Vorstellungen von unverdorbenen palästinensischen Bauern und heroischen Kämpfern, fehlgeleiteter Idealismus und schlichte Dummheit in der »Free Gaza«-Bewegung spielen. Für ihre strategische Funktion in den Plänen der Islamisten ist das von geringer Bedeutung. Vermeintliche Solidaritätsaktionen, die den Interessen der Hamas dienen, tragen dazu bei, die letzten Chancen auf eine Wiederaufnahme des Friedensprozesses zu zerstören. Insofern muss man von einer nicht allein antiisraelischen, sondern auch antipalästinensischen Bewegung sprechen.