Ein historischer Abriss des Extremismus- und Totalitarismusbegriffs

Der entstellende Zugriff der Masse

Sozialdemokraten sprechen bis heute gern von »rotlackierten Faschisten«, dabei trugen sie selbst zur Genese des nationalsozialistischen Denkens bei. Das ist heute vergessen, denn »extremistische« Haltungen fallen in der Perspektive des Extremismusbegriffs nicht auf, solange sie sich im Einklang mit dem geltenden nationalen Konsens befinden. Ein historischer Abriss des Extremismus- und Totalitarismusbegriffs.

Als Berlins Innensenator Ehrhart Körting im vergangenen Winter angesichts brennender Autos in Berlin der linken Szene vorwarf, in ihren Reihen befänden sich »rotlackierte Faschisten«, erhoben sich die Feuilletons zu stürmischem Beifall. Endlich hatte ein Politiker zündelnde Krawallkids und Versicherungsbetrüger als Gefahr für den Weltfrieden erkannt und dabei sogar eine große sozialdemokratische Tradition bemüht.
Die Rede von »rotlackierten Faschisten« geht auf den langjährigen SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher zurück und wurde im Kalten Krieg zum geflügelten Wort. Dabei hätte zumindest Schumacher es besser wissen können. Immerhin hatte er beim sozialdemokratischen Nationalökonomen Johann Plenge promoviert, der im Ersten Weltkrieg zu den Schöpfern der Idee vom »Deutschen Sozialismus« gehörte. Plenge sah sich in den Jahren nach 1933 am Ziel seiner Träume und reklamierte vehement die Urheberschaft an der Konzeption des Nationalsozialismus für sich. Durchaus zu Recht, denn er hatte den Gedanken der Klassensolidarität gegen einen sozial verfassten Nationalismus eingetauscht. Merkwürdigerwei­se blieben weder er noch seine Parteigänger innerhalb der SPD als Stichwortgeber des verhängnisvollen Konzeptes in Erinnerung.
Über dieses Intermezzo sozialdemokratischer Massenintegration in die Nation und seine volksgemeinschaftlichen Folgen schwieg man nach der deutschen Niederlage 1945. Dabei hätte man hier der Veränderung sowohl der fortschrittlichen wie der konservativen Denkform auf die Spur kommen können, die wesentlich zu dem historischen Dilemma beigetragen hatte, in das man geraten war. Denn in den volksgemeinschaftlichen Ideologien liegt der Schlüssel scheinbarer Übergänge von Links nach Rechts. Durch ihre Integration in die Nation zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte die Sozialdemokratie wesentlich ihr politisches Profil eingebüßt, während sich die Rechte den Massen öffnen konnte.
Das Ende des bürgerlichen Zeitalters hatte einige Verwirrungen in die Politik gebracht. Die klaren Fronten des 19. Jahrhunderts gerieten durcheinander, wovon auch die »Partei des Fortschritts« betroffen war. Die Nation, seit Napoleon in linkshegelianischer Lesart Mittel zur Souveränität des Volkes, war bereits vom politischen Gegner okkupiert worden. Die Antwort auf den bürgerlichen Nationalismus waren der proletarische Internationalismus und die Arbeiterbewegung. Doch begann auch die »Reaktion« ihre einstmalige Todfeindin, die Volksmasse, auf die eigene Seite zu ziehen. Das Amalgam von Nationalismus und Massenmobilisierung erwies sich als tödlich für progressive Kräfte. Kaum hatte man sich der adligen Herrscherhäuser entledigt oder deren Macht zumindest eingeschränkt, trat ein neuer, charismatischer Herrschaftstypus auf den Plan: Der faschistische Führer enterbte den gerade eingesetzten eigentlichen Souverän, das Volk. Benito Mussolini, ehemals einflussreicher sozialistischer Journalist, schien den Weg gefunden zu haben, die Kräfte des Fortschritts für eine Politik der Reaktion nutzbar zu machen.

Das Bündnis von Nazideutschland und der Sowjet­union 1939 gegen Polen schien die bei Mussolini angelegte Nähe von Links und Rechts zu bestätigen. Merkwürdigerweise kam niemand auf die Idee zu glauben, das anschließende Bündnis der Sowjetunion mit den Westmächten verwandele die Diktatur Stalins in eine bürgerliche Demokratie. Dennoch wurde nach 1945 die Theorie von der Konvergenz der Extreme entwickelt. Die Totalitarismustheorie war ein doppeltes Angebot an die Deutschen im Westen: Sie konnten sich ihrer braunen Vergangenheit entledigen und deren Erbe nunmehr auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs ausmachen. Waren die Deutschen erst von der Gleichheit der ideologischen Phänomene Faschismus und Kommunismus überzeugt, konnte der antikommunistische Reflex der Nazizeit sogar noch zur Entnazifizierung genutzt werden. So wurden aus den Angehörigen der Herrenrasse und gescheiterten Aspiranten auf die Weltherrschaft die »Eingeborenen von Trizonesien«, die kein Wässerchen trüben konnten und jeden »Extremismus« mieden. Als Anleihe bei Carl Joachim Friedrich, Zbigniew Brzezinski und auch Hannah Arendt wirkte die Konzeption von den »politischen Extremen«, die sich im Kampf mit der Demokratie befänden, nicht nur stabilisierend, sondern wurde in den Rang einer offiziellen Lehre erhoben.
Dabei übersah man geflissentlich, dass in der jungen Bundesrepublik äußerst verschiedene »Extreme« existierten. Einerseits lief, wer sich gegen die Wiederbewaffnung aussprach oder an Fragen der NS-Vergangenheit rührte, schnell in Gefahr, als Agent Moskaus zu gelten. Andererseits setzten sich viele Karrieren fort, die noch im »Tausendjährigen Reich« begonnen hatten. Als »ex­tremistisch« galt nur, wer sich gegen den Mainstream stellte. Innerhalb der Blockkonfrontation gab sich jedoch auch die äußerste Rechte staatstragend, selbst die 1964 gegründete NPD hielt sich noch bis zum Ende des Kalten Krieges mit umstürzlerischen Parolen zurück. Diese systemimmanente Rolle der Rechten im Einklang mit der antiextremistischen Doktrin der Bundesrepublik war unter anderem daran zu erkennen, wer sich über Jahrzehnte als Extremismusexperte betätigen konnte. Die Bundeszentrale für politische Bildung bot in ihren Publikationen mit Hans Helmut Knütter, Günter Rohrmoser oder Klaus Rainer Röhl Autoren auf, deren rechte Positionierung praktisch nicht auffiel, da sie der offiziellen geschichtspolitischen Linie entsprach. In der Zeit der bürgerlich-konservativen Deutungshoheit der späten Bonner Republik war der Extremismus­begriff also vornehmlich ein Instrument zur Bekämpfung der Linken.

Mit dem Fall der Berliner Mauer erwachte nicht nur die offen nationalsozialistische, also systemfeindliche Rechte zu neuem Leben, es stand nun eine ganz andere Auseinandersetzung mit der DDR an als zuvor. Es galt nicht mehr, einen Feindstaat zu beschreiben, sondern eine abschließende Formel für das Vergangene zu finden. Durch Uwe Backes und Eckhard Jesse setzten Angehörige der Nachkriegsgeneration erneut die These der politischen Extreme als »Außen« der Demokratie durch. Geschichtspolitisch entsprach dem nun die Formel von »beiden deutschen Diktaturen«. Die so geschaffene Distanz manifestierte sich in Wolfgang Mattheuers Bronzeplastik »Der Jahrhundertschritt«, deren Aufstellung in Leipzig 1999 auch der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder beiwohnte. Dieser vertrat eine Generation, die zwar einerseits von eigener biografischer Belastung frei war und durch ihre hedonistische Prägung kaum im Verdacht stand, den Kardinaltugenden des faschistischen Zwangscharakters »Gehorsam, Treue, Tapferfkeit« nachzuhängen. Andererseits etablierte gerade sie die neue Zwanglosigkeit einer »tabufreien« Aneignung der Vergangenheit und konnte endlich den ersehnten Schlussstrich vollziehen.
Zum Symbol dafür wurde die Fotografie auf Schröders Schreibtisch, auf der sein an der Ostfront gefallener Vater in Wehrmachtsuniform zu sehen war. In der Wissenschaft kam es zu einer wahren Mode des Vergleichs von »Drittem Reich« und DDR im Namen der Totalitarismuskonzepts, ein Vorgehen, von dem Wolfgang Wippermann zu Recht schrieb, es sei noch nicht einmal von Ernst Nolte während des Historikerstreits vorgeschlagen worden. Die neue Entwicklung trieb bizarre Blüten, als 1998 das Dresdner Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung dem Hitler-Attentäter Georg Elser rückwirkend das Recht des Tyrannenmordes absprach. Im folgenden Streit verteidigte Uwe Backes als stellvertretender Institutsleiter diese Haltung. Das offensichtliche Problem mit neonazistischen Strukturen verhinderte noch eine Weile die endgültige Durchsetzung dieser Linie, nach dem Abflauen des »Aufstands der Anständigen« gehört es zum guten Ton, sich gegen »jeden Extremismus« zu stellen.
Wie aus diesem groben Abriss zu sehen ist, war die Frage, was auf der politischen Bühne eigentlich »extremistisch« ist, immer von den äußeren Faktoren abhängig. Mehrfach fielen inhaltlich »extreme« Haltungen nicht auf, da sie sich im Einklang mit dem nationalen Konsens befanden. Dies ist der blinde Fleck des »Extremismusmodells«. Ebenso verschob sich die Rede vom Totalitarismus. Zunächst war die Kritik an einem »totalitären System« auf den italienischen Faschismus gemünzt, später wurde sie – von Linken – auf den Stalinismus ausgeweitet. Die Möglichkeit zur Verwirklichung eines Systems allumfassender Herrschaft hatte der Fortschritt selbst geschaffen. Verwissenschaftlichung und Verwaltung waren Tendenzen der Moderne, die zusammen mit der ökonomischen Durchdringung der Gesellschaft nach und nach die Refugien beseitigten, in denen es möglich war, sich dem Zugriff der Macht zu entziehen. So konnte der staatsbürgerliche Gleichheitsgrundsatz ins Terroristische umschlagen. Freund oder Feind des nationalen Wohls, diese neue Form der Ungleichheit ließ sich mit modernen Mitteln durchsetzen.
Mit der Säkularisierung, so ein weiteres Argument, das etwa Erich Voegelin verfocht, hätten weltliche Konzepte von Staat und Nation sich der Transzendenz bemächtigt und seien als absolute Autorität an die Stelle Gottes getreten. Dies habe der totalitären Herrschaft von Faschismus und Kommunismus erst den Raum bereitet. Doch standen Säkularisierung, Terreur und levée en masse nicht einfach an der Wiege des Faschismus, sondern hatten als Zeichen eines epochalen Umbruchs jeder Politik neue Bedingungen diktiert. Daher sind Zwangsverhältnisse, Militarismus oder Führerkult auch Teil der linken und der bürgerlichen Geschichte. Der entstellende Zugriff der Masse auf den Einzelnen ist eine Signatur der Zeit, und es bedurfte auch in den westlich-libe­ralen Gesellschaften erst einer Phase außergewöhnlicher Prosperität, bis dem Individuum der Schutz vor diesem Zugriff zumindest als Anspruch garantiert werden konnte. Zur genaueren Bestimmung des politischen Gegners taugen daher die Begriffe »totalitär« und »extremistisch« nur wenig.