Der Rücktritt von Horst Köhler und die Debatte um die Nachfolge

Wandelnde Staatsräson

Am Rücktritt Horst Köhlers vom Amt des Bundespräsidenten zeigt sich die Krise demokratischer Repräsentation. Der parteipolitische Wettstreit um seine Nachfolge ist bestimmt von der Frage, wer den besseren »Versöhner« darstellen könnte.

Lena gewinnt den Grand Prix, und Horst tritt zurück. Die Gleichzeitigkeit von Hoch- und Tiefgefühlen schien das Gemüt der deutschen Untertanen zu überlasten. So konnte man in den Tagen unmittelbar nach Horst Köhlers Rücktrittserklärung den Eindruck gewinnen, eine gerade mit sich und der Welt zufriedene Nation stürze aus allen Wolken in eine tiefe Staatskrise. Dass die Rücktrittserklärung auf den Tag der triumphalen Heimreise Lena Meyer-Landruts folgte, ist natürlich Zufall, aber paradoxerweise ein zwingend notwendiger. Beide Ereignisse – den Grand-Prix-Gewinn und den Rücktritt – im Zusammenhang verstehen zu wollen, ist keineswegs so kokett und abwegig, wie es den Anschein hat.
Ein Rückblick: Der klassische Star war seinem Publikum immer einen Schritt voraus, er »stand« für etwas, war ein Vorbild, an dem man sich aufrichtete, jemand, der voranschritt, kurzum: die Verkörperung gesellschaftlicher Avantgarde. Die Frage, wofür Lena eigentlich »steht«, erscheint dagegen abwegig. Lena verkörpert einen neuen Typus des Stars, der ganz das Produkt einer narzisstischen Masse ist. Aus den Tiefen von You­tube UND Myspace, aber auch aus dem unendlichen Trash der Casting-Shows zerrt diese Masse sich ihre Stars heraus und pusht deren Ruhm binnen weniger Wochen ins Unermessliche. Nach einem halben Jahr ist wieder alles vorbei. Diese Stars verkörpern den absoluten, also den idealen Durchschnitt der gesellschaftlichen Bedürfnisse. Sie sind keine Vorbilder mehr, sondern bestä­tigen das Bild, das die Masse von sich selbst hat. Sie sind reines Derivat, ein Ableitungsprodukt.

Die Rolle des Bundespräsidenten entspricht dagegen der des klassischen Stars. Er verkörpert jenes Maß an Charisma, das nachkriegsgeschichtlich legitimiert war: ein Staatsoberhaupt ohne Fanatismus und mit sehr eingeschränkter Weisungsbefugnis, ein ideeller Wegweiser, aber im gesellschaftlichen und politischen Leben nicht übermäßig präsent. Horst Köhler beklagte den mangelnden Respekt vor seinem Amt, einen Umstand, dem er selbst Vorschub leistete, als er sich mit seinen Äußerungen, die als Plädoyer für eine Kanonenbootpolitik verstanden wurden, offenkundig politisch positionierte und hinabstieg aus dem überparteilichen Reich der reinen Repräsentation der Gesamtnation. Im Prinzip trat er wie ein normaler, parteigebundener Politiker auf.
Köhlers Dilemma dabei war, dass sein Amt eigentlich schon längst wegrationalisiert worden war. Bereits Gerhard Schröder sah sich als Kanzler aller Deutschen. Für Angela Merkel, die wohl am liebsten immer noch einer Großen Koalition vorsäße, gilt das erst recht. Kanzler sind heute Moderatoren, Vermittler, Versteher. Die parteipolitische Lagermentalität eines Helmut Kohl ist schon lange passé. Die neuen Kanzler nehmen dem Bundespräsident den Raum zum Repräsentieren. Es passt also wunderbar zusammen, wenn binnen 24 Stunden der eine Star gefeiert wird – als Anhängsel einer von sich selbst berauschten und zugleich kulturindustriell domestizierten Masse –, während der andere Star es nicht mehr schafft, seine Vorbildrolle mit dem Gebot der tages- und parteipolitischen Unabhängigkeit zu vereinbaren. Man könnte meinen, ganz offiziell löse das eine Modell der Repräsentation das andere ab. Auf der einen Seite ein Spektakel, das selbst dann unheimlich locker und vor allem unernst sein will, wenn wie wild Deutschland-Flaggen geschwenkt werden; auf der anderen Seite gedämpftes Charisma, mit dem niemand mehr etwas anfangen kann, das irgendwie anachronistisch wirkt.

Dass mit dem Abgang Köhlers nicht bloß nachvollzogen wird, was sowieso an der Zeit war, dafür spricht die öffentliche Bestürzung über seinen plötzlichen Rücktritt. Die Politik kann schließlich nicht so verfahren wie die Kulturindustrie. Diese orientiert sich, wie jede andere Industrie auch, einzig am Profit. Sie muss genau deswegen den Blick auf die gesamte Gesellschaft richten. Sie richtet die Gesellschaft so ein, dass Profit­schöpfung überhaupt möglich ist. Dafür nimmt die Demokratie einen zutiefst irrationalen Zug an. Denn eigentlich dürfte es das Amt des Bundespräsidenten gar nicht geben. Die symbolische Vaterfigur der Nation passt nicht zu einer durchrationalisierten, ganz auf die Exekution von angeblich wissenschaftlich unumstößlichen Verwaltungsmaßnahmen – also »Sachzwängen« – ausgerichteten Staatsmacht.
Wieso braucht dann eine aufgeklärte Gesellschaft ein Staatsoberhaupt ohne wirkliche Befugnisse? Weil es für den notwendigen emotionalen Überschuss in der Politik sorgt. Der Bundespräsident steht dafür, dass es in der Politik nicht nur um Verwaltungsakte, sondern auch um Respekt, Augenmaß, Gnade (die Köhler ehemaligen Angehörigen der RAF nie gewährte), um ein Nachdenken über den Tag hinaus geht.
Bekanntermaßen existiert die bürgerliche Gesellschaft zweimal: als Gesellschaft von gegeneinander konkurrierenden Privateigentümern und als Staat, der den ordentlichen Verlauf der Konkurrenz überhaupt erst garantiert, ihre selbstzerstörerischen Züge im Zaum hält und im Interesse der Nation auch schon mal gegen Einzelkapitale vorgeht. In dieser disharmonischen Harmonie von Staat und Gesellschaft erfüllt der Präsident eine Mittlerfunktion. Er ist die wandelnde Staatsräson und gleichzeitig über alle Parteigrenzen hinweg jemand, der die Stimmungen, die Ängste und Erwartungen in der Bevölkerung aufnimmt und sie in weihevolle Reden übersetzt: ein Versöhner.

Köhler gelang es nicht mehr, seine Rolle auszufüllen. Zum einen, weil die Bevölkerung dazu übergegangen ist, sich permanent selbst zu zelebrieren, womit wir wieder bei Lena und ihrem Mentor Stefan Raab sind. Zum anderen, weil auch die Parteipolitik zunehmend die Aufgabe der Vermittlung und Versöhnung übernimmt. In Zeiten der Krise, die längst chronisch geworden ist, rücken die Parteien enger zusammen und beschwören die Gemeinschaft der Demokraten. In den zahlreichen Konflikten der Bundesrepublik standen sich fast immer zwei systemische Lösungsversuche gegenüber – in Gestalt der SPD einerseits und der Unionsparteien andererseits. Eine der wenigen Ausnahme stellte die Schleyer-Entführung dar. Es ist kein Wunder, dass Helmut Schmidt (SPD) in jenen Wochen seinen präsidialen Habitus ausbildete, der ihn heute noch als heimlichen Bundespräsidenten auftreten lässt. Seit jedoch unter der rot-grünen Regierung die Militarisierung der deutschen Außenpolitik forciert wurde und sie mit der Agenda 2010 ein neoliberales Armutsprogramm aufgelegt hat, von dem Helmut Kohl noch die Finger gelassen hatte, sind die alten politischen »Lager« der Bundesrepublik Geschichte – und damit auch die klassische Rolle des Bundespräsidenten.
Der Wettstreit, wer der geeignete Nachfolger für Köhler werden könnte, leitet sich folglich aus dem einzig noch verbliebenen Inhalt der Parteienkonkurrenz ab – wer den besseren Versöhner abgibt. Mit Joachim Gauck, dem ehemaligen Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes, setzen SPD und Grüne sowohl die Konkurrenz von links als auch von rechts unter Druck. Die Linkspartei steht vor einer Blamage, denn stimmt sie gegen Gauck, gibt sie sich einmal mehr der Anti-Stasi-Hetze preis; votiert sie für ihn, verrät sie gewissermaßen ihre ureigene Identität. Das gilt aber auch für die Rechten, denn Gauck wurde bereits vor elf Jahren von der CSU als Bundespräsidentschaftskandidat ins Spiel gebracht. Jetzt dürfen Konservative und Liberale nicht mehr für ihren von der falschen Partei nominierten Mann stimmen.
Christian Wulff, amtierender Ministerpräsident von Niedersachsen und immer noch eines der bekanntesten Gesichter der neuen, urbanen, sich zur Zuwanderungsgesellschaft bekennenden Union, würde die liberale, weiche Linie Merkels fortsetzen. Der Mann, der einst als Konkurrent Merkels galt, sich aber nie ernsthaft imstande zeigte, ihre Nachfolge anzutreten, wäre ein Präsident ganz von ihren Gnaden. Würde Wulff gewählt, dann nicht, weil er als besonders staatsmännisch gälte, sondern weil es der aktuell dominierenden Parteilinie der CDU besser passt. Würde Wulff scheitern, weil vielleicht doch eine Reihe Konservativer Joachim Gauck wählten, dann wäre nicht nur Wulffs Karriere vorbei – auch Merkels Kanzlerschaft könnte jäh enden. Deutlich wird somit, dass der eigentliche Präsident Merkel heißt; die Besetzung des Staatsoberhauptes ist ein Schachzug ihrer Strategie des präsidialen Regierungsstils. Dadurch aber setzt sich die Krise der demokratischen Repräsentation bloß weiter fort: Indem der moralische Wert des Präsidentenamtes so offensichtlich von den Winkelzügen der Regierung abhängt, demontiert die Politik selbst ihre eigenen Institutionen.