Die Fotografien Marianne Breslauers

Hunger nach Bildern

Höhere Tochter oder Neue Frau: Ob Marianne Breslauer durch Paris oder Berlin streifte, nach Spanien oder Palästina fuhr, die Kamera war immer dabei. Berühmt aber wurde sie für die Aufnahmen, die sie im Kreis ihrer Freundinnen machte, und vor allem für die Inszenierung der lesbischen Schriftstellerin Annemarie Schwarzenbach. Nun sind ihre Fotografien in Berlin zu sehen.

Merkwürdig, wenn Sie ein Junge wären, dann müssten Sie doch als ungewöhnlich hübsch gelten.« Das sagte Thomas Mann Anfang der dreißiger Jahre zu Annemarie Schwarzenbach, einer Schweizer Industriellentochter, Schriftstellerin und Freundin seiner Kinder Klaus und Erika. Tatsächlich wurde die androgyne Schönheit der bekennenden Lesbe legendär. Für die Nachwelt festgehalten hat sie Schwarzenbachs Freundin Marianne Breslauer, die mit ihren Fotografien den Typus der burschikosen Frau berühmt gemacht hat.
Wie Annemarie Schwarzenbach, Erika Mann und Rut Landshoff verkörperte auch Marianne Breslauer den heute gemeinhin mit der Weimarer Republik assoziierten Typ der »Neuen Frau«: Sie kamen aus privilegierten Elternhäusern, waren jung, gebildet und bereit, die Chancen, die sich ihnen in einer Zeit gesellschaftlicher Umbrüche boten, auch zu nutzen.
Marianne Breslauer wurde 1909 als Tochter des renommierten Architekten Alfred Breslauer und Dorothea Lessings in Berlin geboren. Aus Bewunderung für die Gesellschaftsreporterin Frieda Riess entschloss sie sich, ebenfalls Fotografin zu werden, und absolvierte ihre Ausbildung an der »Schule für Frauenberufe« im Lette-Haus in Berlin. Mit ihrer Spiegelreflexkamera fotografierte sie bald ihre Freundinnen, aber auch Menschen aus ihrer nahen Umgebung, und zwar immer so, wie sie sich selber am liebsten sahen. Auf einer Palästina-Reise im Jahr 1931 und während ihrer zahlreichen Paris-Aufenthalte entstanden neben Porträts auch viele Momentaufnahmen, die sich der Bildsprache der damaligen Zeit bedienen und ungewöhnliche Perspektiven und harte Kontraste verwenden.
Sie selbst wollte sich nicht als Künstlerin verstanden wissen. In ihren Erinnerungen »Bilder meines Lebens« schreibt sie: »Interessiert hat mich, einfach nur in Paris herumzustreifen und ganz normale Leute zu fotografieren, Alltagsszenen, unbeachtete Momente, Nebensächlichkeiten. Das taten damals bekanntlich noch andere, Kertész zum Beispiel, der sicher ein viel besserer Fotograf war als ich, oder Brassaï, Germaine Krull usw. Diese Art von Fotografie lag damals in der Luft, und ich glaube, dass ich all dies recht früh gespürt habe.«
Die Fotografie war im Berlin der dreißiger Jahre zu einer Domäne der Frauen geworden. Fotoateliers, die von Frauen geführt wurden, schossen wie Pilze aus dem Boden. Eines ist das von Elsbeth Heddenhausen geleitete Atelier des Ullstein Verlags, wo Breslauer nach der Ausbildung ihre erste Anstellung fand und vor allem ihren Umgang mit der Fototechnik perfektionierte. Hatte sie als Kind einen »Hunger nach Bildern« verspürt, wie sie in ihrer Biografie erzählt, so hatte sie von der Auftragsfotografie bald genug. »Das Thema Weihnachtsgeschenke, für das ich einmal Fotos zu machen hatte, lag mir noch««, schreibt sie in dem für sie typischen unbefangenen Ton, »doch beim Thema ›Es zeigt der Mensch ein gut Gesicht beim Essen‹ habe ich gestreikt. Damals, im Winter 30/31, zeigte in den Kneipen und Imbissstuben niemand ein ›gut Gesicht beim Essen‹; es war die schlimmste, ärmste Zeit, und die Menschen schlangen allenfalls ein Paar Aschinger-Würstchen hinunter – wenn sie sich das überhaupt leisten konnten. Dergleichen konnte ich beim besten Willen nicht fotografieren, es hätte den Leuten den letzten Rest Würde genommen.«
Die Freiheiten, die sich junge Frauen wie Marianne Breslauer nahmen, waren Freiheiten, die sie sich nicht hatten erkämpfen müssen. Emanzipiertes Auftreten mit Zigarettenspitze und Bubikopf konnte, wenn man die Tochter von Thomas Mann war oder einer der reichsten Familien der Schweiz entstammte, als kapriziöse Geste der Jugend gewertet und toleriert werden. Auch Marianne Breslauers Karriere entfaltete sich vor dem Hintergrund eines großbürgerlichen Elternhauses mit Grunewald-Villa und zahlreichen Bediensteten. Ihr Aufenthalt in Paris als Schülerin von Man Ray kostete die Mutter nur einen Brief. Auch die Anstellung bei Ullstein ging auf die Beziehungen zurück, die der Vater für die Tochter hatte spielen lassen. Sie selbst kultivierte eine Art naives Bewusstsein ihrer privilegierten Position als wohlhabender Spross in einer von Klassengegensätzen geprägten Gesellschaft.
Dankbarkeit ist dann auch die Haltung, die die fast 90jährige in ihrer im vergangenen Jahr erschienenen Autobiografie gegenüber dem Leben einnimmt. Sie habe ein Leben führen können, das ganz der Kunst gewidmet war, an der Seite eines Mannes, der vollkommen zu ihr gepasst habe, und nicht zuletzt habe sie eine wunderbare Familie und großartige Freunde. Solchermaßen abgefedert war dieses Leben, dass das Anwachsen der nationalsozialistischen Bewegung nicht einmal in ihr Bewusstsein drang: Im Frühjahr 1933 fahren Marianne Breslauer und Annemarie Schwarzenbach gemeinsam nach Spanien, um dort Urlaub zu machen. Nach der Rückkehr nach Berlin bemerkt sie, dass sich die politische Situation verändert hat. Nach einem längeren Aufenthalt in der Schweiz geht sie im Sommer 1933 dennoch zurück nach Deutschland, sehr zum Unverständnis des ins Exil gegangenen Kreises um Erika Mann. Insbesondere die Schauspielerin Therese Giehse kri­tisiert ihre Rückkehr ins nationalsozialistische Deutschland.
Nur langsam wird der Familie Breslauer klar, in welcher Gefahr sie schwebt. Zwar hatten sich bereits die Großeltern von Marianne christlich taufen lassen, dennoch galten sie dem Regime als Juden. Nur knapp können die Eltern sich noch in die Schweiz flüchten. Lange Zeit, fast zu lange, hatten sie sich für die Emigration zu alt gefühlt und gehofft, dass der »Hitler-Spuk« bald vorübergehe.
In der Zwischenzeit hat die Tochter sich mit dem Verleger und Kunsthändler Walter Feilchenfeldt zusammengetan, das Fotografieren aufgegeben und begonnen, ihrem Freund im Kunsthandel zu assistieren. Der Handel floriert, weil Kunstwerke oftmals der einzige Besitz waren, der exilierten Juden nach der Abgeltung der Reichsfluchtsteuer blieb. Für die zweite Ehefrau des gemeinsamen Freundes Ernst Bloch, Carola, war das ein inakzeptables Geschäft mit der Not der Verfolgten, sie brach den Kontakt mit den beiden deshalb ab.
Mehrere Jahre lebte das Paar ohne festen Wohnsitz und war geschäftlich in Europa unterwegs, bis sie sich 1936 in Amsterdam niederließen und dort auch heirateten. In Berlin meldete sich Marianne Feilchenfeldt 1936 ordnungsgemäß polizeilich ab.
Die Fotografie macht nur einen kleinen Abschnitt im Lebens von Marianne Breslauer aus. Bekanntheit erreichte sie nicht mit ihren Fotos, sondern aufgrund der Tatsache, dass sie nach dem Tod ihres Mannes im Jahr 1953 die 1948 in Zürich gegründete Kunsthandlung übernahm und somit als erste Frau in der Schweiz und über die Schweiz hinaus in eine Männerdomäne einbrach. Aber sie selbst relativiert die Pionierarbeit, die sie damit geleistet hat, indem sie schreibt: »Es wird immer wieder gesagt, ich sei die erste selbständige Kunsthändlerin gewesen. Dies stimmt nur für die ersten Jahre nach Feilchens Tod. Schon 1966 trat mein Sohn Walter in die Firma ein, nachdem er in Zürich Nationalökonomie studiert und in London erste Erfahrungen im Kunsthandel gesammelt hatte.«
Auch ihre Fotos hielt Marianne Breslauer lange Zeit für wenig bemerkenswert. Noch als alte Frau wunderte sie sich über das Interesse, das die in den achtziger Jahren wiederentdeckten Bilder erfuhren. Es war vor allem die Lesben-Szene, die ihre Fotografien zu schätzen wusste, zur Verwunderung der Fotografin. »Besonders überrascht hat mich dabei«, schreibt Marianne Breslauer in ihrer Autobiografie, »dass vor allem die Porträts einer Frau gefragt waren, mit deren literarischer Wiederentdeckung ich eben­so wenig gerechnet hätte wie mit meiner fotografischen: Annemarie Schwarzenbach.«
Nicht zuletzt zeigen das fotografische Werk und die Biografie Marianne Breslauers, wie stark das als revolutionär propagierte Bild der »Neuen Frau« auf Inszenierung beruht. Mit ihrem eigenen Selbstbild, ihrem Denken und dem Leben hatte es vielleicht genauso wenig zu tun wie das Klischee von der höheren Tochter.

Marianne Breslauer: Bilder meines Lebens. Erinnerungen. Nimbus, Wädenswil 2010, 224 S., 26 Euro

Die Ausstellung »Marianne Breslauer – Unbeachtete Momente« in der Berlinischen Galerie mit etwa 130 Fotografien ist eine Übernahme von der Fotostiftung Schweiz. Sie ist die erste umfassende Retrospektive mit vielen bisher unbekannten Originalfotografien sowie Neuabzügen von Originalnegativen aus dem Nachlass der Fotografin. Berlinische Galerie, 10969 Berlin, Alte Jakobstraße 124-128. Bis 6. September.