Allein gegen den Helden. Kritik am »Gomorrha«-Autor Roberto Saviano

Allein gegen den Helden

Sein Buch »Gomorrha«, das Todesdrohungen der Camorra nach sich zog, machte Roberto Saviano in Italien zum bewunderten Kämpfer gegen die Mafia. Der Soziologe Dal Lago kritisiert nun das Buch und die mediale Heroisierung des Autors.

Von Karl Kraus stammt die Sentenz: »Man muss alle Schriftsteller zweimal lesen, die guten und die schlechten. Die einen wird man erkennen, die anderen entlarven.« Der Soziologe Alessandro Dal Lago hat sich an diese Maxime gehalten und Roberto Savianos Weltbestseller »Gomorrha. Reise in das Reich der Camorra« einer zweiten Lektüre unterzogen. Herausgekommen ist eine strenge literarische und soziologische Kritik, die Saviano, der international für seinen heroischen Kampf gegen das organisierte Verbrechen gefeiert wird, als »Papierhelden« entlarvt. Damit hat Dal Lago in den italienischen Medien einen Sturm der Entrüstung ausgelöst.
»Gomorrha« erschien in Italien im Frühjahr 2006, weltweite Beachtung erfuhr das Buch allerdings erst sechs Monate später. Nachdem der Autor auf einer Veranstaltung in Casal di Principe die ortsansässigen Mafia-Bosse namentlich angeklagt hatte, schworen ihm die im neapolitanischen Hinterland regierenden Casalesi-Clans Rache. Seit ihrer Todesdrohung steht Saviano unter Personenschutz und lebt an geheimen, ständig wechselnden Orten.
»Gomorrha« wurde in über 50 Ländern veröffentlicht und weltweit vier Millionen Mal verkauft. Saviano wird das Verdienst zugesprochen, die Rolle der Casalesi im internationalen Drogenhandel, in der illegalen Giftmüllentsorgung, aber auch ihre Verflechtungen mit legalen Wirtschaftszweigen wie der Bau- und Modeindustrie der Öffentlichkeit bekannt gemacht zu haben. »Gomorrha« hat das Bild von der neapolitanischen Mafia aber auch deshalb so nachhaltig geprägt, weil Matteo Garrone die spektakulärsten Episoden des Buches in einem 2008 entstandenen, gleichnamigen Film gekonnt in Szene gesetzt hat.
In Anbetracht der internationalen Popularität des Buches und der öffentlichen Rolle seines Autors erschien Alessandro Dal Lago, der an der Universität Genua Kultursoziologie lehrt, eine Untersuchung der um das »Phänomen Saviano-Gomorrha« entstandenen »Kommunikationsblase« überfällig. Auf knapp 150 Seiten analysiert er die erzählerischen und rhetorischen Stilmittel des Buches, ihre gesellschaftliche und mediale Wirkung sowie die Inszenierung des Autors als öffentliche, moralische Autorität (siehe Interview Seite 20).

Er kritisiert vor allem die ambivalente Erzählhaltung. Da ständig zwischen der Perspektive eines Ich-Erzählers und eines auktorialen Erzählers gewechselt werde, beide aber auf den leibhaftigen Autor verwiesen, sei der wahre Held des Buches Roberto Saviano. Wer die Wahrheit seines Berichts bezweifle, setze sich somit dem Verdacht aus, den Autor gleich seinen camorristischen Verfolgern als »infam« zu diskreditieren. Dagegen demon­striert Dal Lago an zahlreichen Beispielen, dass Saviano in seiner Beschreibung der »wahren« Zustände in Neapel nicht nur fiktive Elemente einsetzt, sondern auch effekthascherische Metaphern, die stereotype, populistische Bilder kolportieren.
Symptomatisch erscheint Dal Lago, dass Saviano im Titel die Camorra mit Gomorrha identifiziert. Er verweise dadurch ein konkretes, historisches Phänomen in ein diffuses, religiös konnotiertes Reich des Bösen. »Gomorrha« katapultiere das Publikum unmittelbar aus dem politischen Raum »an den moralischen Abgrund«. Gleichzeitig verlange die Beschreibung einer finsteren Unterwelt geradezu zwangsläufig nach einer Lichtgestalt, dem Anti-Mafia-Helden. Diese Rolle hat sich Saviano in seinem Buch einerseits selbst zugeschrieben, andererseits wurde sie ihm von der italienischen Gesellschaft übertragen. Für Dal Lago erklärt sich die parteiübergreifende Identifikation mit Saviano vor allem dadurch, dass an ihn der Kampf gegen die Mafia delegiert werden kann. Seine Artikel und seine exklusiven Fernsehauftritte seien weniger politische Anklagen als moralische Predigten. Er biete dem Publikum Trost: »Das Böse existiert und jemand bekämpft es: der Schriftsteller-Held – und wir, die ihn lesen, werden eins mit ihm. Wir sind alle Saviano.«

Saviano als »Papierhelden« zu bezeichnen, gilt deshalb nicht nur als Beleidigung des Autors, sondern auch seines Publikums. Entsprechend einhellig fiel das Urteil über Dal Lagos Kritik aus. Die von Parlamentspräsident Gianfranco Fini gegründete postfaschistische Stiftung Fare Futuro erklärte, ein Land brauche Helden, deren Beispiel es folgen könne. Luciano Violante, sein Amtsvorgänger von der Demokratischen Partei, beschimpfte Dal Lago als typischen linken »Ikonoklasten«, der es nicht ertrage, dass die Linke eine positive Identifikationsfigur von »außerordent­licher Bedeutung« habe.
Kurioserweise beklagte ausgerechnet Paolo Flores D’Arcais, Herausgeber der laizistisch ausgerichteten Zeitschrift MicroMega, die »Entweihung« Savianos. Er erklärte, das Buch Dal Lagos nicht lesen zu wollen, und rief seine Anhänger auf, es ihm nachzutun. Man solle seine kostbare Zeit nicht damit verschwenden und stattdessen lieber weiter Saviano lesen, der »sein Leben auch für uns riskiert«. Inzwischen hat sich die Direktion der Tageszeitung il manifesto, in deren Verlag Dal Lagos Kritik Ende Mai erschienen ist, von ihrem eigenen Autor distanziert.
Saviano selbst schweigt. Er überlässt seine Verteidigung bisher der Einheitsfront der italienischen Intellektuellen. Diese Umkehrung der Rollenverteilung wirkt wie eine Bestätigung der Thesen Dal Lagos, die bisher von keinem seiner Rezensenten ernsthaft diskutiert worden sind. In den Blogs fällt das Urteil über seine Kritik dagegen weniger einhellig aus. Vor allem in Neapel, wo nicht nur Staatsanwälte und Richter, sondern auch Unternehmer, die sich weigern, Schutzgeld zu bezahlen, und Journalistinnen, die über Camorra-Prozesse berichten, unter Personenschutz stehen, ist man die Heroisierung Savianos leid. Im Süden wird Dal Lagos Buch deshalb eher als willkommener Versuch aufgefasst, »Gomorrha« und die mediale Inszenierung seines Autors zu kritisieren, ohne den Diffamierungen der Camorra das Wort zu reden.