Achsenverschiebung? Wie Linke und Liberale die türkische Außenpolitik sehen

Dann klappt’s auch mit den Nachbarn

Wendet sich die Türkei von Europa ab? Darüber streiten derzeit auch die linken und liberalen Feuilletons in der Türkei.

Eksen kayması – Achsenverschiebung: Seit Tagen und Wochen geistert dieses Wort durch die Kolumnen und Feuilletons türkischer Tageszeitungen. Findet eine solche statt? Wohin verschiebt sich diese Achse? Und ganz besonders die Frage, die seit der Wahl der islamisch geprägten AKP zur Regierungspartei im Jahr 2002 wiederholt auftauchte, steht wieder im Mittelpunkt der Debatte: Verliert die Türkei »den Westen« aus den Augen und wird zunehmend ein islamistischer Staat?

Während dies von Kemalisten und Nationalisten reflexartig bejaht wird, vertreten viele linke und liberale Intellektuelle in der Türkei eine andere Meinung. Cengiz Aktar, der am 15. Dezember 2008 zusammen mit Ahmet Insel, Baskın Oran und Ali Bayramoglu die Kampagne »Wir entschuldigen uns bei den Armeniern« lancierte, schreibt: »Die türkische Regierung wendet das Gesicht der Türkei nicht gen Osten, denn wir sind sowieso schon ein Teil des Ostens. Wir werden auch nicht islamisiert, da der Großteil unter uns sowieso dem Islam angehört.« Die Gefahr, behauptet er, liege eher im Schwarz-Weiß-Denken, mit dem die jetzige Diskussion geführt werde. Man sollte auch nicht vergessen, so Aktar, dass mit dem Flirt der türkischen Regierung mit der Hamas seit der jüngsten Militäraktion Israels wichtige diplomatische Errungenschaften wie das Abkommen zur Urananreicherung mit dem Iran und die indirekten Friedensgesprächen zwischen Syrien und Israel »im Mülleimer zu landen« drohen.
Ayhan Kaya, Professor für Politikwissenschaften und Internationale Beziehungen an der Istanbuler Bilgi Universität und Leiter des dortigen Europa-Instituts, interpretiert die verstärkten islamischen Tendenzen der AKP auch als Resultat eines Kampfes um Wählerstimmen, denn die Popularität der Regierungspartei schwinde. Also doch eine Achsenverschiebung? Ja und nein, meint Ayhan Kaya. Es sei zwar richtig, dass die Türkei unter der AKP besonders seit dem Jahr 2005 stärkere Bindungen zu den Nachbarn im Nahen Osten aufgebaut habe und die EU-Beitrittsverhandlungen wenn nicht zum Stillstand gekommen, so doch verlangsamt worden seien, doch er betont, dass dies vor allem der Politik der EU, allen voran der Regierungen Merkels und Sarkozys, geschuldet sei. Die schwindende Aussicht auf eine Vollmitgliedschaft habe zum Wandel der politischen Orientierung des Landes beigetragen.
Andererseits hält er die Befürchtungen, die Türkei werde sich »ent-europäisieren«, für falsch: »Wir sollten die Öffnung der Türkei zu Ländern im Nahen Osten eher als eine Europäisierung türkischer Außenpolitik interpretieren. Damit meine ich: sich ehemalige Feinde zu Freunden zu machen und gute Beziehungen zu ihnen aufzubauen. In der Türkei begann das, vor allem mit Helsinki in den neunziger Jahren, mit Griechenland und Bulgarien und ging mit den Nachbarn und Ländern im Osten weiter: Armenien, Syrien, Libanon und Jordanien. Denn eine auf der Gründungsphilosophie der EU aufbauende europäisierte Außenpolitik beruht auf Dialog und Diplomatie, nicht auf Härte und militärischer Stärke.«
Lange Zeit bestimmte das Motto »Ein Türke hat außer den Türken keine Freunde« die nachbarschaftlichen Beziehungen des Nato-Mitglieds. In der Schule lernten Türken früh, das Land sei von Feinden umzingelt. Gökhan Çetinsaya, Professor für Internationale Beziehungen und Rektor der Sehir-Universität, erklärt im Gespräch mit der linken Tageszeitung Taraf, dass sich diese Einstellung mit dem Ende des Kalten Kriegs änderte. Gegenüber der Polarität der Großmächte begannen vorher im Hintergrund stehende Staaten über soft power – Diplomatie und Handelsabkommen – an Bedeutung zu gewinnen. Die oft als Islamokalvinisten bezeichneten aggressiv neoliberalen Politiker der AKP betrachten expandierende Märkte gegenüber militärischen Machtdemonstrationen als effektiveres Mittel der Herrschaftssicherung.
Außenminister Ahmet Davutoglus ambitioniertes und bis jetzt erfolgreiches Konzept »strategischer Tiefe« ruht auf zwei Säulen: keine Probleme mit den Nachbarn und auf längere Sicht keine Probleme unter den Nachbarn. Ayhan Kaya erinnert auch daran, dass die Sympathie nahöstlicher Nachbarn für die Türkei alles andere als neu ist: »Die Annäherung begann schon in den neunziger Jahren, und zwar als eine Vollmitgliedschaft der Türkei in der EU in greifbare Nähe rückte. Die ersten Staaten, die dies freudig begrüßten, waren Syrien, Libanon, Jordanien, Armenien, Ägypten und Israel.« Diese Sympathie, so Kaya, erwuchs also nicht aus religiösen Motiven, sondern im Gegenteil daraus, dass eine demokratische und der gesamteuropäischen Stabilitätspolitik verpflichtete Türkei weniger bedrohlich für ihre Nachbarn sei. »Noch kurz vorher stand die Türkei an der Schwelle zu einem Krieg mit Syrien, um die Auslieferung Abdullah Öcalans zu erzwingen. Zu solchen Mitteln kann eine europäische Türkei nicht mehr greifen«, kommentiert er. »Es ist einfach so, dass eine demokratische Türkei allen in der Region nutzt.«

Es ist nicht die Annäherung an die Nachbarstaaten, die der Linken in der Türkei Sorgen bereitet. Es ist der aggressive, um Wählerstimmen feilschende populistische Diskurs, der die Reden und Kommentare führender AKP-Politiker bestimmt und deshalb hart kritisiert wird. Darüber hinaus solle die Türkei nicht über die eigenen Probleme hinwegtäuschen: Die Kurdenfrage und der Konflikt mit der PKK, die Rechte religiöser Minderheiten, die Aufarbeitung des Genozids an den Armeniern – all dies seien Probleme, die, sofern sie ungelöst blieben, die Rolle einer Türkei als Friedensstifterin erschweren, wenn nicht ganz verhindern würden.