Rifat N. Bali im Gespräch über Antisemitismus in der Türkei

»Es gilt als normal, dass türkische Juden Angst haben«

Der türkisch-jüdische Historiker Rifat N. Bali forscht und publiziert seit 1996 über nicht-muslimische Minderheiten in der Türkei, über Antisemitismus, Verschwörungstheorien und die sozialen und kulturellen Entwicklungen in der türkischen Gesellschaft. Der 61jährige Publizist lebt in Istanbul.
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In den vergangenen Monaten wurde die Politik Tayyp Erdogans zunehmend konfrontativer gegnüber Israel. Was sind Ihrer Meinung nach die Gründe dafür?
Erdogans ideologische und kulturelle Wurzeln liegen bei der Millî-Görüs-Bewegung, die gemeinsam mit der Partei der Nationalen Ordung (MNP) in den frühen siebziger Jahren vom islamistischen Führer Necmettin Erbakan gegründet wurde. Die Sicht der Millî Görüs und ihrer ideologischen Anhänger weltweit auf den Israel-Palästina-Konflikt ist simpel. Sie glauben, wie die Mehrheit der türkischen Bevölkerung, dass Israel die Palästinenser unterdrückt, und sympathisieren mit den Palästinensern, weil nach der Ideologie der Millî Görüs die ganze muslimische Welt die Umma, eine muslimische Nation ist. Die Türkei ist ein Teil dieser Nation, seitdem ihre Bevölkerung fast zu 100 Prozent muslismisch ist. Wenn man diesen ideologischen Rahmen sieht, versteht man besser Erdogans Wutausbruch gegenüber Präsident Shimon Peres und Israel im Januar 2009 in Davos. Seine an Peres gerichteten Worte waren: »Ihr (Juden) wisst gut, wie man tötet.« Diese Worte reflektieren die aufrichtige Meinung des Durchschnitts der türkischen Bevölkerung – unabhängig davon, ob sie Islamisten sind oder nicht –, nachdem sie jahrzehntelang einer anti-israelischen und antisemitischen Propaganda durch die türkischen Medien ausgesetzt waren.
Sie meinen, dass nicht nur die Politik Erdogans, sondern auch die Stimmung der türkischen Bevölkerung allgemein zunehmend anti-israelisch wird?
Ja, aber das ist keine ganz neue Entwicklung. Seit fünf, sechs Jahren zeigen bereits alle Umfragen, dass Antisemitismus, Xenophobie und Anti-Amerikanismus in der Türkei enorm zunehmen. Der Grund ist, dass der Hetze und den Verschwörungsthorien, nach denen Juden, »Zionisten«, Israel, der Mossad, die USA, das Christentum predigende Missionare, Evangelisten, Freimaurer, die »jüdische Lobby« oder Kryptojuden die Welt beherrschen, keine Grenzen gesetzt sind. Verschwörungstheoretiker haben die absolute Freiheit, ihre Ansichten in populärer Literatur, in Büchern, im Internet und in der türkischen Presse zu verbreiten.
Die anti-israelische Stimmung ist also auch eindeutig antisemitisch?
Ja, und auch das ist keine Neuigkeit. Antisemitismus ist seit Jahrzehnten vorherrschend in der türkischen islamistischen und gleichermaßen in der ultra-nationalistischen Bewegung.
Waren Juden in Istanbul in den vergangenen Wochen besorgt, nachdem die anti-israelischen Demonstrationen recht aggressiv wirkten?
Sie sind immer besorgt. Dazu muss man wissen, dass es in der türkischen Geschichte sehr dunkle Kapitel gibt. Am 6. und 7. September 1955 geriet eine Massendemonstration gegen Griechenland wegen des türkisch-griechischen Konflikts um Zypern außer Kontrolle, die Massen plünderten und zerstörten zwei Tage lang Friedhöfe, Kirchen und Geschäfte, die türkischen Bürgern mit griechischem Hintergrund gehörten. Im August 2003 wurde ein jüdischer Zahnarzt, Yasef Yahya, von zwei islamistischen Militanten ermordet, nur weil er ein Jude war, und am 15. November 2003 wurden zwei Synagogen in Istanbul von islamistischen Selbstmordattentätern angegriffen. Die türkischen Medien veröffentlichen außerdem regelmäßig Berichte, nach denen militante islamistische Zellen, die al-Qaida nahe stehen, entdeckt und die Mitglieder verhaftet wurden. In dieser Atmosphäre gilt es als normal, dass türkische Juden Angst haben, solche Massendemonstrationen könnten außer Kontrolle geraten, und sie könnten auch persönlich angegriffen werden.
Wieso heizt Erdogan diese gefährliche Stimmung absichtlich an?
Erdogan tut dies, weil die gesamte türkische Bevölkerung nach dem letzten Zwischenfall gegen Israel revoltierte. Eine Umfrage, durchgeführt vom Metropoll Strategic and Social Research Center kurz nach dem Vorfall, zeigte, dass 60 bis 70 Prozent der Befragten fanden, dass die türkische Reaktion auf den Vorfall nicht ausreichend war. Immerhin ist dies das erste Mal, dass türkische Bürger durch die israelische Armee getötet wurden. Das ist ein beispielloser Vorgang.
Ist der Konfrontationskurs der türkischen Regierung gegenüber Israel Teil einer Abkehr vom Westen und von der EU, verbunden mit einer Hinwendung zur islamischen Welt?
Es gibt keine neue Politik, Europa den Rücken zuzukehren. Es ist lediglich Teil einer neuen Strategie der türkischen Außenpolitik, sich nicht mehr ausschließlich dem Westen zu verschreiben, sondern auch ernsthaft die islamische Welt als Option zu betrachten.
Wie wirken sich Erdogans anti-israelische Äußerungen auf den inneren Frieden der Türkei aus?
Es gibt in der Türkei einen Konsens zwischen allen ideologischen Fraktionen – Rechten, Linken, Islamisten, Nationalisten, Kemalisten und Liberalen –, dass der Staat Israel ein Aggressor, ein »Schurkenstaat« und seine Politik gegenüber den Palästinensern als »Staatsterror« zu bezeichnen sei. Das ist die Schnittmenge all jener politischen Strömungen.
Gibt es auch Stimmen, die diesen Konsens kritisch bewerten?
Die kommen hauptsächlich von Journalisten, die bei Mainstream-Medien arbeiten, vor allem bei Milliyet und Hürriyet, und von einer Handvoll Menschenrechtsaktivisten. Es gibt einen gemeinsamen Nenner dieser Andersdenkenden mit dem Rest der intellektuellen Arena, wonach man die allgemein verbreitete Ansicht teilt, dass Israels Haltung ein »Verbrechen«, »Staatsterror« und so weiter sei. Jedoch fügen die Kritischen dann ein »aber« an und beginnen, ernsthafte Fragen zu stellen nach der Rolle der Türkei bei dem Zwischenfall auf See. Etwa, weshalb die Regierung den Aktivisten der IHH nicht gesagt hat, dass die IDF eingreifen würde, und nichts getan hat, um die absehbare Eskalation zu verhindern. Oder: Wieso hat der türkische Geheimdienst nicht die nötigen Informationen über die Entschlossenheit der Islamisten, die Blockade gewaltsam zu brechen, an die türkische Regierung weitergegeben? Und so weiter. Wie auch immer, alle diese Journalisten, die angefangen haben, solche Fragen zu stellen, wurden umgehend von der Erdogan-freundlichen Presse als »unsere Israelis unter uns«, als fünfte Kolonne Israels bezeichnet.