Die neue türkische Außenpolitik

Go east!

Der Westen beginnt, sein Bild von Erdogan zu revidieren. Andersherum hat sich an Erdogans Bild des Westens gar nicht viel verändert.

»Heute ist ein neuer Tag, eine Zeitenwende, nichts wird mehr sein wie früher«, prophezeite der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan sofort nach dem jüngsten Zusammenstoß mit Israel seinen Anhängern. Und es sieht so aus, als würde er es ernst meinen. Erdogan versucht, die Akzente der Weltpolitik fast so zu setzen, als wäre er selbst der iranische Präsident Mahmoud Ahmadinejad. An die absolute Friedfertigkeit des iranischen Atomprogramms glaubt er ohnehin schon lange, nun ist er überzeugt, mit seinem Abkommen mit Teheran über die Urananreicherung im Ausland – bei gleichzeitiger Anreicherung auch im Inland – den Atomstreit beendet zu haben. Gleichzeitig kündigte er an, dass jetzt das Problem Israel an der Reihe sei. Wenig später nähert sich wie bestellt eine Hilfsflotille unter türkischer Führung Gaza und wird in einem umstrittenen Manöver von Israel gestoppt.
Was ist los mit dem Politiker, der immerhin die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der EU erreicht hat? Möchte er eine neue Achse in der Außenpolitik etablieren? Treibt er Außenpolitik als eine Form der Innenpolitik? Oder sind ihm einfach die Erfolge der vergangenen Jahre zu Kopf gestiegen? Hatten jene Türken Recht, die ihn schon immer als einen Islamisten im demokratischen Gewand sahen? Ist es die Retourkutsche für die »privilegierte Partnerschaft«, die Angela Merkel der Türkei vorgeschlagen hat und deren wichtigstes Privileg darin besteht, nicht zuzur Europäischen Union zu gehören?
Vermutlich von alledem etwas. Doch bevor man eurozentrisch alles nur als eine Reaktion auf die europäische Politik versteht, sollte man sich erst einmal fragen, welches Verhältnis Erdogan eigentlich zum »Westen«, zu seiner politischen Kultur und Lebensweise hat.

Sofort nach dem Wahlsieg seiner Partei im November 2002 flog Erdogan in die EU, um für den Beitritt seines Landes zu werben. Tatsächlich aber hatte die Reise zunächst etwas von einer Flucht. Zwei Tage vor der Wahl hatte das Verfassungsgericht ein erstes Verbotsverfahren gegen Erdogans Partei, die AKP, eröffnet. Erdogan selbst durfte wegen eines Verbots politischer Betätigung noch nicht Ministerpräsident sein.
Doch der Westen empfing Erdogan als denjenigen, von dem man hoffte, er habe den Schlüssel für die Aussöhnung zwischen westlicher und islamischer Welt parat. Der Empfang half, seine innenpolitischen Gegner fürs Erste zu entwaffnen. Das erste Verbotsverfahren wurde eingestellt, und Erdogan konnte trotz politischer Vorstrafe Ministerpräsident werden. Die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der EU erhöhte dann das außenpolitische Prestige der Türkei, auch bei ihren Nachbarn im Osten. Investoren erschien das Land plötzlich attraktiv und so strömte Kapital in nie dagewesenem Ausmaß in die Türkei.
Doch seit fünf Jahren stocken die Reformen. Die Wende trat genau in dem Moment ein, als die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen erreicht war. Damit waren die Früchte, die Erdogan von der EU ernten konnte, im Wesentlichen eingesammelt. Sicherlich ist die Türkei sehr daran interessiert, in den Entscheidungsgremien der EU vertreten zu sein und von den EU-Geldern zu profitieren, jedoch ist die Möglichkeit einer Vollmitgliedschaft angesichts der Haltung einiger europäischer Regierungen ohnehin völlig ungewiss und jedenfalls in weiter Ferne.
Was die EU bis dahin von der Türkei fordert, bedeutet entweder einen innenpolitischen Kraftakt, wie die Öffnung des Verkehrs mit Zypern und Armenien, oder es nimmt türkischen Unternehmern Wettbewerbsvorteile, wie die Anpassung an Umweltnormen oder ein fortschrittliches Gewerkschaftsrecht. Schließlich nützen auch weitere Schritte zur Demokratisierung Erdogan nicht mehr, seit seine Stellung durch die Wahl seines Vertrauten Abdullah Gül zum Staatspräsidenten gefestigt ist.
Die EU hat Erdogan auch in einer ganz speziellen, für ihn aber wichtigen Frage enttäuscht. Anders als Erdogan annahm, hat der Europäische Gerichtshof das Kopftuchverbot an türkischen Universitäten nicht als Verstoß gegen die Religionsfreiheit verurteilt.

Erdogans EU-Chefunterhändler Egemen Bagis beteuert zwar immer wieder, dass der EU-Beitritt das wichtigste Ziel der Regierung sei, doch aus der zweiten Reihe der AKP hört es sich anders an. Einer der einflussreicheren Parlamentarier, Suat Kiniklioglu, sagt es ganz offen: »Wir brauchen die EU nicht mehr.«
Der Westen hat sich einen Erdogan erdacht, den er gerne gehabt hätte, und Erdogan selbst ist in diese Rolle geschlüpft, weil er seiner Hilfe bedurfte. Doch der Westen, seine Werte und Normen, sind Erdogan fremd geblieben. Der Absolvent einer Predigerschule kommt aus einem eher kleinstädtisch orientierten Viertel in Istanbul. Eine Welt, in der alles an seinem Platz ist, religiös, patriarchal, paternalistisch. Vor zwei Jahren empfahl Erdogan türkischen Studenten, die im Ausland studieren wollten, sich vor der »Sittenlosigkeit des Westens« in Acht zu nehmen. Erdogans geistige Heimat ist die türkische Provinz. Dort, wo der Patron noch alles gilt, wo der islamische Unternehmer fromm und fleißig mit eben solchen Arbeitern neue Industrien aus dem Boden stampft. Der Export geht in alle Richtungen, die größten Zuwachsraten liegen aber im Osten.
Wie das Land spürt auch Erdogan seit Jahren seinen Erfolg, und er nutzt ihn. Immer mehr dreht sich alles um ihn. Das Amt des Ministerpräsidenten ist nicht mehr gut genug, Erdogan will nun Präsident werden. Natürlich erst, nachdem eine Präsidialdemokratie eingeführt ist, ein Präsidentenamt nach dem Wunsch seines künftigen Inhabers.
Zu alledem kommt nun noch die Rolle des islamischen Superstars, der Israel in seine Schranken weist und die Rolle der USA in Frage stellt. Erdogan ist im Nahen Osten mittlerweile so populär, dass man in Teheran fast neidisch wird. Jedenfalls war es auffallend, dass iranische Medien sich mit der Berichterstattung über die türkische Auseinandersetzung mit Israel sehr zurückgehalten haben.
Kritik an Israel, Unabhängigkeit vom arroganten Westen, eine Großmachtrolle der Türkei – mit dieser Agenda kann Erdogan auch innenpolitisch Erfolge erzielen. Anders als bei der Kopftuchfrage und bei seiner still und heimlich beerdigten Wende in der Kurdenpolitik eckt Erdogan damit innenpolitisch nirgends an.

Ein neues Projekt, mit dem er die Massen mobilisieren kann, hat Erdogan auch nötig. Vor ihm stehen ein wichtiges Referendum im September und Parlamentswahlen in einem Jahr. Die Opposition hat mit Kemal Kilicdaroglu erstmals einen Politiker an der Spitze, der Erdogan vielleicht gefährlich werden könnte. Von den großen politischen Prozessen gegen angebliche Verschwörer, die im Ausland so gut wie nicht wahrgenommen werden, stehen zumindest zwei mangels überzeugender Beweise auf der Kippe. Längst herrscht völliges Chaos: Gerichte zeigen Gerichte an, Angeklagte verklagen Richter und Staatsanwälte, aus Vorbestraften werden verdeckte Zeugen, politische und juristische Gegner werden zu Verschwörern erklärt und entsprechend behandelt. Die Regierung tut gut daran, hiervon abzulenken, wie übrigens auch von dem Dilemma ihrer Kurdenpolitik.
Von der Hinwendung nach Osten hofft Erdogan aber auch, wirtschaftlich zu profitieren. Deutlich wurde dies unter anderem, als sein Finanzminister Mehmet Simsek auf die Frage, ob der Streit mit Israel nicht der türkischen Tourismusindustrie schade, antwortete, dass dafür viel mehr und reichere Touristen aus dem Osten kommen würden. In der Regierung hofft man auch sehr darauf, dass nun die reichen Araber ihr Geld in Istanbul anlegen und nicht mehr in den USA. Die Türkei könnte so auch das gewinnen, was ihr zu einer Großmachtrolle auf Dauer fehlt, eine entsprechende ökonomische Basis. Trotz aller Fortschritte ist der Abstand zu den größeren Staaten Europas noch immer gewaltig.
Außenpolitisch mag Erdogan darauf spekulieren, dass der Westen ihn nicht ganz abschreiben wird. Schon deshalb, weil es keine mit der Türkei vergleichbare Alternative im Osten gibt. Und immerhin ist die Türkei nach wie vor Mitglied der Nato. Dazu kommen zwei klassische Fehler der westlichen Analyse: Alle Entwicklungen werden als das Ergebnis westlicher Politik interpretiert. Folglich wird Erdogan für seine Politik nicht wirklich verantwortlich gemacht. Außerdem werden Erdogan und seine Bewegung wenn nicht mit der ganzen Türkei, so doch mit ihrem für den Westen ansprechbaren Teil verwechselt. Unter Erdogans innenpolitischen Gegnern finden sich zwar tatsächlich nicht wenige undemokratische Gestalten. Doch es gibt auch andere.
Dass es Erdogan vor allem um seine Macht und die Verbreitung seiner sunnitisch-islamischen Anschauungen geht, während sein Verhältnis zur Demokratie und zum Westen vor allem taktischer Natur ist, hätte man lange schon sehen können. Nie hat er anderen Religionsgemeinschaften substantielle Zugeständnisse gemacht, die Methoden, mit denen gegen politische Gegner und selbst gegen harmlose Karikaturisten vorgegangen wird, sind mehr als fragwürdig. Doch ein kritischer Blick auf das System Erdogan hätte das Bild von Erdogan, das man doch so gerne sehen wollte, zerstört.