Über das neue Urteil zur Tarifeinheit

Der DGB fällt aus der Rolle

Arbeitgeber und der DGB wollen die Tarif­einheit gesetzlich wiederherstellen, weil der soziale Friede in Gefahr sei.

»Den Menschen wieder Mut machen, für die eigenen Interessen einzustehen«. Das ist das Motto von Klaus Ernst, dem Bundesvorsitzenden der Linkspartei. Man könnte meinen, da spreche der alte Gewerkschafter aus ihm, der Arbeitnehmer ermuntern möchte, sich zu organisieren und zu streiken. Jetzt aber macht er sich für eine Einschränkung der Koalitionsfreiheit und damit auch des Streikrechts stark. Er reiht sich damit ein in eine seltene Allianz von Arbeitgebern und Gewerkschaften, von Konservativen und Sozialdemokraten. Sie alle sind sich einig, dass das Urteil des Bundesarbeitsgerichtes (BAG), die Tarifpluralität zuzulassen, nicht hinnehmbar sei. Auf gemeinsame Anregung von BDA und DGB hin will man nun die Tarifeinheit gesetzlich wiederherstellen, im Notfall mit einer Verfassungsänderung zuungunsten der Koalitionsfreiheit.
Vergangene Woche hatte das BAG in Erfurt den alten Grundsatz »Ein Betrieb – ein Tarifvertrag« aufgegeben und dem Grundrecht auf Koalitionsfreiheit Vorrang eingeräumt. Nun können verschiedene Tarifverträge in einem Bereich existieren. Für die Arbeitnehmer ist dabei ihre Gewerkschaftszugehörigkeit entscheidend. Das BAG trug damit der zunehmenden Bedeutung von Spartengewerkschaften Rechnung. Da das Urteil absehbar war, unterbreiteten bereits Anfang Juni BDA und DGB gemeinsam einen Gesetzesvorschlag zur Neuregelung der Tarifeinheit. Darin fordern sie, dass nur der Tarifvertrag der größten Gewerkschaft im betreffenden Bereich zu gelten habe. Zugleich sollen andere Gewerkschaften auch an deren Friedenspflicht gebunden sein.

Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt und DGB-Chef Michael Sommer zeigen sich dermaßen einmütig, dass man nicht festzustellen vermag, wer Gewerkschafter und wer Arbeitgeber ist. So warnt Hundt vor einer »Spaltung der Belegschaften« und einer »Zerfaserung der Tarifordnung«. Doch das will ihm niemand so richtig abnehmen. Die Frankfurter Rundschau spricht von einem »schlechten Witz« und der Spiegel von »scheinheiligen Argumenten«, waren es doch gerade die Unternehmer, die die Belegschaften mit gezielten Ausgliederungsmaßnahmen und Öffnungsklauseln im Flächentarif bereits gespalten haben. Die Absicht von DGB und BDA ist offensichtlich: Sie zielt darauf, »Berufs- und Spartengewerkschaften vom Markt zu verdrängen«, sagt Arbeitsrechtler Stefan Greiner im Gespräch mit der Tagesschau.
So klar drücken sich BDA und DGB selbst nicht aus, wie auch die Anhänger der Gesetzesinitiative insgesamt abstrakt argumentieren. Ernst spricht zum Beispiel davon, dass mit der Tarifpluralität »Belegschaftsspaltung« und »Lohn­dumping«, aber auch den gelben Gewerkschaften der Weg bereitet würde. Doch selbst die IG Metall, die sich von allen DGB-Gewerkschaften am meisten mit den christlichen Gewerkschaften herumärgern muss, hat festgestellt, dass ihr durch die neue Rechtsprechung »kein Nachteil« entstehe. Im Gegenteil: Thomas Klebe, ihr Justiziar, betont sogar, dass es nun nicht mehr so einfach sei, »durch ›speziellere‹ Dumping-Tarifverträge den Flächentarifvertrag der IG Metall außer Kraft zu setzen«.
Die alte sozialdemokratische Mär, dass nur eine Einheitsorganisation den Interessen der Lohnabhängigen gerecht werde, wird immer wieder ins Feld geführt. Allein, beweisen lässt sich die­se These nicht. Vielmehr haben Studien, etwa der OECD, kürzlich gezeigt, dass das deutsche Einheitsgewerkschaftsmodell, im Gegensatz zu Ländern mit gewerkschaftlicher Vielfalt, zu einer geringen Anzahl betrieblicher Kämpfe führt. Dies deckt sich mit der Streikstatistik und der Politik des DGB. Im vergangenen Jahrzehnt hat er einen Reallohnverlust ebenso akzeptiert wie diverse Belegschaftsspaltungen, etwa durch Ausgliederung, Niedriglohnstrukturen und Zeit­arbeit.

Die Spartengewerkschaften werfen denn auch dem DGB vor, es sei gerade seine Politik, die die Löhne drücke. Der Chef der Gewerkschaft deutscher Lokomotivführer (GDL), Claus Weselsky, geht davon aus, dass das Bündnis von BDA und DGB nur dem Zweck diene, »den Beschäftigten beizubringen, die Gürtel enger zu schnallen und die Unverschämtheiten von Arbeitgebern unter Beteiligung zahnloser Arbeitnehmervertretungen auszuhalten«. Joachim Müller von der Unabhängigen Flugbegleiterorganisation (Ufo) spricht gar von einem »Tarifkartell« zwischen Arbeitgebern und DGB. Letzterem wirft er vor, seiner »Rolle als Interessenvertretung der Arbeitnehmer« nicht ausreichend zu entsprechen. Es sei »natürlich«, dass der Arbeitgeber »ein Interesse an einem möglichst niedrigen Lohnniveau« habe, was »mit den DGB-Gewerkschaften am Tariftisch wohl leichter zu erreichen« sei.
Die Spartengewerkschaften ziehen immerhin eine klare Grenze zwischen Arbeiternehmer- und Arbeitgeberseite und scheinen zu wissen, dass sich die Aufgabe einer Gewerkschaft aus deren Interessenkonflikt ergibt. Von den DGB-Gewerkschaften kann man das nicht behaupten, wenn sie nun ein gemeinsames Interesse vorgeben. Selbst gegen eine Zunahme von Streiks, die einhergehend mit dem Urteil von allen Seiten prognos­tiziert wird, haben sie Einwände. Michael Sommer etwa betont, dass sich die Betriebe in der Krise kein solches »Chaos« leisten könnten.

Die Vertreter des DGB argumentieren mit dem Gesamtinteresse der Arbeitnehmer und appellieren an das Solidarprinzip. Es mag sein, dass berufsständische Gewerkschaften einen progressiven Kern vermissen lassen, und wenn sie Zulauf erfahren, spricht dies nicht zwangsläufig für sie, zeugt aber doch vom Versagen der DGB-Gewerkschaften, denn Mitglieder sind »immer dort organisiert, wo sie sich am besten vertreten fühlen«, wie es Müller ausdrückt. Wo nun Gewerkschaften selbst das Recht von Arbeitnehmern, freie Koalitionen zu bilden, einschränken wollen, betreiben sie deren Entmündigung – in deren »eigenem Interesse«, würde Ernst wohl sagen. Es hat so eine gewisse Ironie, wenn der Dresdner Weselsky in einer GDL-Pressemitteilung darauf anspielt, dass er »in einem System aufgewachsen« sei, wo es keine »tarifvertragliche Pluralität« gab.
In trauter Einheit befürworten nun zahlreiche Politiker von SPD, Linkspartei, FDP und CDU den Vorschlag von BDA und DGB. Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) gab nach einem Treffen mit Arbeitgeberverbänden bekannt, dass der Wille zu einer Gesetzesänderung vorhanden sei. Für den DGB könnte sich allerdings der Vorstoß als Bumerang erweisen. Man darf gespannt sein, wie die Mitglieder über diesen Angriff auf das Koalitions- und Streikrecht durch ihre eigene Organisation richten werden. Die Spartengewerkschaften rücken jedenfalls zusammen wie nie zuvor. Nach einem gemeinsamen Treffen in der vorigen Woche kündigten sie an, »entschlossen« für den Gewerkschaftspluralismus einzutreten. Sie dürften in dieser Auseinandersetzung sicherlich weiter an Popularität gewinnen. Und wer weiß, vielleicht schaffen sie dann auch beim politischen Streikrecht Fakten.