Oma der Punks. Wolfgang Müllers Buch über Valeska Gert

Die Oma der Punks

Wenn Nina Hagen die Mutter des Punk ist, dann ist Valeska Gert wohl seine Großmutter. Wolfgang Müller würdigt die vergessene Berliner Künstlerin.

Sein neues Buch beginnt sehr persönlich. Wolfgang Müller erzählt von seiner Kindheit und Jugend in Wolfsburg, vom Schulabbruch und dem Entschluss, Künstler zu werden. Begründung: weil man dafür kein Abitur braucht. Seine Bewebungsmappe voller Karikaturen, Skizzen und Comics wird von der Hochschule in Braunschweig abgelehnt. »So verbrachte ich die nächsten Jahre als dem Arbeitsmarkt schwer vermittelbarer, ungelernter Hilfsarbeiter ohne Schulabschluss.« Erst nach dem Umzug nach Berlin fasst Müller Fuß, wird an der Hochschule der Künste aufgenommen, findet in der gerade aufkeimenden Punk- und Wave-Szene Gleichgesinnte und gründet die Musik- und Künstlergruppe Die Tödliche Doris.
Dazwischen liegt ein Ereignis, das ihn entscheidend prägen sollte. Im November 1975, Müller wohnt noch in Wolfsburg, schaut er sich die ARD-Talkshow »Je später der Abend« an, unter den Gästen ist eine ältere Dame namens Valeska Gert. Müller gerät ins Schwärmen über die vitale Person: »Diese mir zuvor völlig unbekannte Tänzerin und Schauspielerin überzeugte mich mit dem vollen Gegenprogramm. (…) Sie war der leibhaftige Gegenbeweis der Befürchtung, dass das Alter automatisch zu Sentimentalität, Resignation, Anpassung, Spießigkeit, Verknöcherung oder Abstumpfung führt.«
Nun hat Müller über die inzwischen fast völlig vergessene Frau ein ganzes Buch geschrieben. Sein Sujet ist so randständig und unpopulär wie »Blue Tit«, Wolfgang Müllers 1998 erschienenes »deutsch-isländisches Blaumeisenbuch«. Verleger Martin Schmitz zufolge kapitulierten die Buchhändler damals reihenweise, weil sie nicht wussten, ob sie es nun unter Belletristik, Kunst, Reiseführern oder Tierbüchern einordnen sollten. »Valeska Gert – Ästhetik der Präsenzen« könnte fast als Biografie durchgehen und den Buchhändlern die Einordnung erleichtern, wäre da nicht die ernüchternde Tatsache, dass sich draußen wohl kaum jemand für eine experimentelle Tänzerin jenseits der etablierten Theater- und Ballettbühnen interessiert.
Mit voller Leidenschaft setzt Müller allerdings alles daran, Valeska Gert in den Mittelpunkt einer progressiven Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts zu rücken. Das beginnt bereits damit, dass er die These vertritt, Valeska Gert sei für die Tödliche Doris und die Berliner Szene der »Genialen Dilletanten« genauso wichtig gewesen wie Andy Warhol, John Cage und die Sex Pistols. Liest man Gerts Einschätzung der Tanz- und Theaterszene in Deutschland, hat man tatsächlich den Eindruck, dass diese Frau schon früh ein Punk im Geiste war. Ein auf Literatur und Text aufbauendes Theater erklärte sie bereits in den zwanziger Jahren für veraltet, in den sechziger Jahren erklärte sie: »So wie das Theater jetzt ist, ist es einfach stinklangweilig«. Über Brecht, in dessen Verfilmung der »Dreigroschenoper« sie 1931 mitgespielt hatte, merkte sie als 86jährige an: »Er roch immer schlecht.« Seine Charaktere, kritisiert sie, seien immer holzschnittartig. Und lacht am Ende: »Das darf man wohl nicht sagen?!« Dem konventionellen Theater und Tanz setzte Gert etwas entgegen, was auch Müller nur schwer in Worte fassen kann. An einer Stelle nennt er es »lebende Plastik«, an einer anderen spricht er davon, dass Gert die in den siebziger Jahren entstehende Performance-Kunst vorweggenommen habe. Konkret wird es allerdings erst dort, wo Müller Tanzformen von Gert beschreibt, bei denen es darum geht, die Komplexität des menschlichen Charakters in all seinen Widersprüchen darzustellen. Wenige Jahre nachdem die als »entartet« diffamierte Künstlerin aus dem Exil nach Deutschland zurückkam, nahm sie sich beispielsweise eines Themas an, das in den fünfziger Jahren noch gründlich verdrängt wurde: Sie führte eine Tanzperformance auf, in deren Mittelpunkt die für ihre sadistische Grausamkeit berüchtigte KZ-Aufseherin von Buchenwald, Ilse Koch, stand. Gert habe, so Müller, »die Komplexität von Selbst- und Fremdwahrnehmung« dargestellt, einerseits die liebevolle Mutter, die auf der Anklagebank Pullover häkelt, andererseits die Sadistin, die in Gerts Aufführung Häftlinge anbrüllt: »Bemalt mir diesen Lampenschirm/war einst Haut auf Menschenhirn.«
Als eine der wenigen modernen Tänzerinnen der Zwanziger, die sich nicht wie Gret Palucca oder Mary Wigman dem Nationalsozialismus andiente, wurde Valeska Gert in den Siebzigern von den Vertretern des Neuen Deutschen Films wiederentdeckt. Volker Schlöndorff gab ihre eine Nebenrolle als Tante Praskovia in der Literaturverfilmung »Der Fangschuss« (1976) und drehte ein Jahr später einen ganzen Dokumentarfilm über Gert. Werner Herzog engagierte sie daraufhin für seine »Nosferatu«-Neuverfilmung, kurz nach Unterzeichnung der Verträge starb Valeska Gert. Schlöndorffs Film nach einer Romanvorlage der belgischen Autorin Marguerite Yourcenar, angesiedelt in den zwanziger Jahren, schildert eine versteckte homosexuelle Beziehung, die allerdings nur angedeutet wird. Mitten in die hölzernen Dialoge platzt Valeska Gert ­hinein: »Nein, der Vater von dem, von dem Dings­da, von dem Volkmar, hat mit dem Rasputin was gehabt. Der war doch schwul!« Hier sprengt eine die ganze bürgerliche Zurückhaltung. Alleine die Verwendung des Wortes »schwul« in einem Historienfilm macht klar: Diese Frau ließ sich nicht bändigen.
Für Wolfgang Müller ist Valeska Gert eine politische Künstlerin, die spätere feministische und queere Performances beeinflusst hat. So ließ sich zum Beispiel die Berliner Künstlerin Bridge Markland in den neunziger Jahren von Gert zu einer Performance inspirieren, in der sie die Wandlung eines weiblichen Vamps in einen männlichen Macho darstellte und damit, so Müller, »die Gestaltbarkeit von Körperprojektionen« reflektierte. Müllers Tribute to Gert ist jedoch nicht akademisch oder kunsthistorisch angelegt, sondern steckt voller Anekdoten und amüsanter Abschweifungen.
Der Journalist Werner Höfer, dem 1987 ein Zeitungsartikel von 1943 zum Verhängnis wurde, worin er die Hinrichtung des »undeutschen« Pianisten Karlrobert Kreiten ideologisch legitimierte, war ein großer Fan der Künstlerin. Gert und Höfer lebten als Nachbarn auf der Insel Sylt. Der Journalist umschwärmte sie und schaffte es, dass Gert ihm ihr Haus, den »Ziegenstall«, vermachte. Nach ihrem Tod ließ er es abreißen. Müller erkennt darin die Kontinuität des Nationalsozialismus. Joseph Goebbels hatte Fotos von Valeska Gert auf dem Cover seines Pamphlets »Das erwachsende Berlin« abgebildete, wo sie als als Inbegriff des »dekadenten jüdischen Einflusses« dargestellt wurde. Die Punks dagegen, die »erstmals wieder das Groteske, das Absurde in der Normalität spürbar« machten, sind für Müller die wahren Erben von Valeska Gert, darunter auch Nina Hagen. Deren Onanie-Anleitung in einer ORF-Talkshow von 1979 ist für Müller ein Update der radikalen Choreographie der Künstlerin. Glaubt man Wolfgang Müller, dann kommt an dieser Frau niemand vorbei, der sich für die wenigen Beispiele widerständiger Kultur in Deutschland interessiert.

Wolfgang Müller: Valeska Gert. Ästhetik der Präsenzen. Martin-Schmitz-Verlag, Berlin 2010. 272 Seiten, 18,80 Euro