Verrate dich selbt. Lügendetektoren in der US-Serie »Lie to me«

Verbrecher lügen nicht

Die US-Serie »Lie to me« propagiert die Mimik-Lehre des Psychologen Paul Ekman. Kriminelle lassen sich seiner Theorie zufolge mithilfe der Ausdrucksanalyse erkennen.

Der Serienerfolg von »CSI« verbreitete mit der Jahrtausendwende ein neues Verständnis von Wahrheit in den Wohnzimmern, das seither immer populärer geworden ist. Nicht mehr durch Kombination und Ermittlungen, sondern durch strenge Orientierung an Fakten und Fäktchen wird in jeder Folge aufs Neue die Wahrheit über Kriminalfälle ans Licht gebracht. Die Serie beansprucht den Status der Wissenschaftlichkeit.
Seit »CSI« wissen auch die weißen Europäer, dass sie der »kaukasischen Rasse« angehören. An amerikanischen Gerichten ist sogar vom »CSI«-Effekt die Rede, wenn Geschworene die Umstände einer Tat außer Acht lassen und Fakten einfordern, die es so nicht immer geben kann. Denn tatsächlich sind Fotos nicht ins Unendliche vergrößerbar. Tatsächlich ist der Nachweis von Blutspuren durch Luminol so eindeutig nicht, reagiert diese chemische Verbindung doch auch auf einige Reinigungsmittel und auf Kupferionen. Tatsächlich sagt der am Mordopfer gefundene Kleiderfussel noch nichts darüber aus, wer der Täter ist. Nichtsdestotrotz hat »CSI« ein neues Paradigma über Wissenschaft und Wahrheit erschaffen, das große Resonanz im Alltagsdenken hat.
Die neue Serie »Lie to me« von Samuel Baum, deren zweite Staffel gerade ausgestrahlt wird, während der Dreh zur dritten bereits läuft, knüpft an dieses Paradigma an und überführt es in einen neuen Bereich: Wenn die staatlichen Ermittlungsbehörden in einem Fall nicht mehr weiter kommen, konsultieren sie Dr. Cal Lightman (Tim Roth) und sein Team. Lightman ist ein speziell geschulter Psychologe, der die Fähigkeit besitzt, durch bloßes Beobachten der Mimik einen Lügner zu entlarven, denn: »The truth is written in all our faces.«
Die Geschlechterrollen sind klar verteilt: Es gibt den griesgrämigen, patriarchalen und kontrollfanatischen Chef Lightman; seine Kollegin ist für die weiblichen Skills wie Verständnis und Einfühlungsvermögen zuständig. Die absolute Wahrheit wird in »Lie to me« nicht mehr in Fingerabdrücken und Erdkrümeln gesucht, sondern in Gesichts- und Körperregungen, gern auch Mikroausdrücke und Manipulatoren genannt. Diese Regungen seien, basierend auf der Theorie des Facial Action Coding System, universell gültig – sowohl in Raum als auch in Zeit, wie an Bildern von Urzeitmenschen gezeigt wird. Unter dieser Prämisse werden in den bislang 29 Folgen Themen rund um die menschliche Lüge verhandelt: Alle Menschen lügen, insbesondere aber die Regierung, FBI-Agenten und Politiker. Diese Botschaft wird mit häufigen, sekundenlangen Einblendungen bekannter Gesichter etwa Clintons oder Nixons besonders unterstrichen.
Interessanterweise wird jeder menschliche Lebensbereich als mit Lügen durchsetzt vorgestellt – nur der Bereich der Kulturindustrie selbst nicht. Als eine hübsche, gebildete ugandische Autorin mit ihrer Autobiografie auf das Schicksal der Kindersoldaten aufmerksam machen möchte und damit Erfolg hat, wird das Buch eingestampft, nachdem sich herausgestellt hat, dass die Geschichte wahr ist, dass es aber nicht ihre eigene Geschichte ist.
Das Talent oder auch das Schicksal der Protagonisten, alle Lügen zu erkennen, wird nicht nur zu einer Pflicht gegenüber der Gemeinschaft, die über das ohnehin kaum vorhandene Privatleben gestellt werden muss und der auch schon einmal Menschenleben geopfert werden müssen. Die Fähigkeit verhindert geradezu private zwischenmenschliche Beziehungen, die ohne Lüge nicht auskommen. »Lie to me« geht so mit Lustfeindlichkeit einher und verachtet individuelles Glück als ein Motiv, das sonst nicht wenige kulturindustrielle US-Produktionen positiv vom deutschen Leidensfetischismus abhebt.
Wesentlicher jedoch ist die Dimension objektiver, auf Fakten beruhender, wissenschaftlicher und somit unhinterfragbarer Wahrheit, die in »Lie to me« aufgewertet wird. Dabei geht es nicht so sehr um die in der Tat spannende Fragestellung, ob menschliche Gefühlsregungen wie Furcht, Verachtung oder Traurigkeit genetisch bedingt oder kulturell erlernt sind. Vielmehr werden alle möglichen menschlichen Emotionen, darunter auch Liebe und Scham, völlig enthistorisiert und jedem konkreten Kontext entrissen. Als scheinbar immergleiche Reaktionen werden Gefühle und Affekte sowohl von gesellschaftlichen Dimensionen als auch vom Individuum selbst getrennt. Übrig bleibt eine Wahrheit, die gleichsam über den Dingen schwebt.
Gesichtsausdrücke werden abgelesen, nicht gedeutet. Der Star der Serie, Cal Lightman, der despotisch seine Mitarbeiter und Familienangehörigen belügt und videoüberwacht, interpretiert nicht, er weiß. Den ernsthaft-prüfenden, tiefen Blick mit schief gelegtem Kopf, den Larry David in »Curb Your Enthusiasm« wunderbar selbstironisch einsetzt, meint Cal Lightman ernst. Wissenschaftlich ernst. Seine Wissenschaft operiert allerdings oft an der Grenze zum Gedankenlesen und wird so zugleich zu einem Mythos, den Kollegen und Kolleginnen aus anderen Institutionen immer wieder erfolglos zu entzaubern versuchen.
Es wird suggeriert, dass auch »wir« Bill Clintons Lügen im Lewinsky-Skandal entdecken können, wenn wir nur die Zeichen und ihre Bedeutungen kennen. Darüber hinaus spiegeln Gesichter nicht nur Emotionen, sondern auch Charaktere wieder. Ein Schelm ist, wer dabei an die nationalsozialistische Ausdruckspsychologie denkt.
Mit dieser Art von naivem Datenpositivismus wird eine entscheidende Dimension wissenschaftlichen Arbeitens unterschlagen. Das genaue Hinsehen, das einen Schritt im Prozess wissenschaftlicher Erkenntnis ausmacht, wird zum einzigen Schritt. Die notwendige kritische Reflexion über die Methoden unterbleibt. Tauchen Widersprüche und Unklarheiten auf, werden die Videoaufnahmen menschlicher Reaktionen immer weiter vergrößert und in Zeitlupe abgespielt, um zum Ergebnis zu kommen: der einzigen Wahrheit. Wissenschaft wird vorgeführt als Hinsehen statt Denken, als Klassifizieren statt Reflektieren.
Die Serie schließt damit an einen neoliberalen Wissenschaftsdiskurs an. Nicht mehr kritisches Denken wird an den Universitäten gelehrt, sondern Methoden der Klassifikation und Einordnung. Die Überschneidung von Kulturindustrie und Wissenschaft wird in »Lie to me« durch die wiederholte Beteuerung untermauert, dass die Serie in Zusammenarbeit mit dem Erfinder des Facial Action Coding Systems, Paul Ekman, entwickelt wurde. Das kolportierte ungesellschaftliche Wahrheitsverständnis, gepaart mit Lustfeindlichkeit, den Kämpfen des kleinen Mannes gegen das Böse dieser Welt (in Form von Politikern, CIA, Terroristen oder auch ganz gewöhnlichen Verbrechern) und einem Schuss Zauberei, verpackt in eine kurzweilige »Dramaserie«, liefert eine Mischung, die das Potential hat, zum neuen pseudowissenschaftlichen Leitbild zu avancieren.