Urmenschen und Untermenschen. Über retrospektiven Rassismus

Was ist der Mensch? Über Menschen, Urmenschen und Untermenschen

Die Entdeckung des Australopithecus sediba ist eine weitere Widerlegung der Ideologie des Herrenmenschentums. Aber seit wann lassen sich Ideologien widerlegen?

Es muss den Laien überraschen, wenn ihm in vier anthropologischen Büchern der Umfang von Hirnen verschiedener Primaten und Hominiden vorgerechnet worden ist, im fünften zu finden, dass der Neandertaler ein viel größeres Hirn hatte als wir. Das Durchschnittsvolumen des modernen Menschenhirns liegt bei zwischen 1 200 und 1 400, das des Neandertalers bei 1 520 Kubikzentimetern. Es wurde aber auch schon einer mit stolzen 1 740 Kubikzentimetern gefunden.
Die Anthropologie funktioniert wie ein Auto-Quartett. Statt Hubraum gibt die Hirngröße, statt Beschleunigung die Laufgeschwindigkeit den Ausschlag. Legt einer der Quartett-Spieler einen Homo erectus hin – kann aufrecht gehen! –, trumpft ein anderer mit einem Homo ergaster – hämmert Faustkeile! – oder einem Homo neanderthalensis auf. Dummerweise kommen von Zeit zu Zeit neue Karten hinzu, die das ganze Spiel durcheinanderbringen. Eine dieser Karten heißt »Australopithecus«. Von dieser Spezies wurde kürzlich eine Variante entdeckt, die vor 1,9 Millionen Jahren gelebt hat, Australopithecus sediba.
Australopithecus ist wörtlich der »Affe des Südens«, nämlich aus Afrika. Aber anders als die Affen lief er meistens aufrecht, und das recht schnell. Denn die beiden Schädel, die gefunden worden sind, gehörten einer Frau Ende 20 und einem Zehnjährigen, die gemeinsam in ein Bodenloch stürzten. Dass sie es übersehen haben, lässt sich nur damit erklären, dass sie flink waren. Ihre Hirngröße ist natürlich sofort ausgemessen worden: 420 Kubikzentimeter, etwas größer als das eines Schimpansen, der, wie Charles Darwin bemerkte, enger mit uns verwandt ist als die Schildlaus mit der Ameise.
Die Frage stellt sich also: Gehört die Karte Aus­tralopithecus überhaupt ins Menschen-Quartett? Oder ist sie eher der Joker im Affen-Quartett? Die Antwort hängt davon ab, was einer für die spezifische Qualität des Menschen hält. Für manche Forscher ist es die Hirngröße, für andere die Sprache, für wieder andere der Werkzeuggebrauch, für viele das aufrechte Gehen. Der Zweifüßigkeit kommt deshalb eine besondere Bedeutung zu, weil sie die Hände zum Greifen und schließlich auch zum Begreifen freistellt. Für den Anthropologen André Leroi-Gourhan war es deshalb das entscheidende Kriterium. Also taufte er den Australopithecus feierlich in einen »Australanthropus«, den Affen in einen Menschen des Südens, um.

Leroi-Gourhan, der im Schimpansen bloß »so etwas wie einen sehr hoch entwickelten Waschbären« sieht, ist wie vielen seiner Kollegen die Nähe zum Affen unangenehm. Das Hirn seines »Australanthropus« sei so klein, dass es »die Anatomen schon geniert«. »Kein anderes Fossil, das solche Ähnlichkeit mit uns aufwiese, hinterlässt dieses Gefühl des Befremdens, ja fast der Verwirrung und des Missklangs; keines vermittelt stärker diesen Eindruck eines entmenschlichten Menschen als dieses Fossil eines Affen, der auf dem Wege der Menschwerdung ist.« Dennoch, beruhigt er sich, handele es sich um einen Menschen, denn nicht auf das Hirn, auf die Füße komme es an.
Es ist ein Menschsein, zu dem für ihn alle gehören, die aufrecht gehen. Auch unter den heute Lebenden macht er kaum einen Unterschied, selbst wenn er die Aborigines eine »primitive Rasse« nennt. Den Missklang erzeugt in diesem Fall die allzu deutsche Übersetzung des Suhrkamp-Verlages.
Aber auch sonst sind Missklänge in diesem Metier häufig. Marylène Pathou-Mathis spricht von einem »retrospektiven Rassismus«, den sie sich mit dem verzweifelten Bemühen erklärt, ein bestimmtes Menschenbild zu retten. Die narzisstische Kränkung, die Darwin dem Menschengeschlecht zugefügt hat, hat zu heftiger Abwehr nicht nur unter Theologen, sondern auch unter Naturforschern geführt. Gerade Gebildete ertragen den Gedanken nur schwer, dass der wahre Robinson Crusoe vermutlich verhungert wäre, derweil angeblich niedere Lebensformen mit schwierigen Situationen ganz gut zurechtkommen.
Ein Beispiel dafür ist der Neandertaler, der sich vor etwa 300 000 Jahren entwickelt hat, lange vor dem Homo sapiens sehr geschickt Steine bearbeitete, Messer, Lanzen, Felle herstellte, ein Großwildjäger war, seine Kranken versorgte, seine Toten begrub und mehrere Kaltzeiten glänzend überstand, nur die letzte (»Würm«) nicht mehr, als die Temperaturen auf durchschnittlich minus 10 Grad Celsius sanken. Vor 30 000 Jahren ist er ausgestorben.
Seine Überreste wurden erst nicht als solche erkannt. Als im Neandertal, benannt ausgerechnet nach dem Kirchenlieddichter Joachim Neander, 1856 ein Steinbruch angelegt wurde, stießen italienische Arbeiter auf Teile eines Skeletts. Der Lehrer Johann Carl Fuhlrott ordnete es korrekt der »vorhistorischen Zeit« zu. Doch schon der von ihm benachrichtigte Anatom Hermann Schaaffhausen schloss lieber auf ein »rohes Urvolk«. Das war noch freundlich gemeint, denn dieses Volk sollte im Norden gelebt haben, hatte also altdeutsches Flair. Schaaffhausens Kollege Franz Josef Mayer vermutete dagegen einen »mongolischen Kosaken«. Um Jahrzehnte zurückgeworfen wurde die Forschung schließlich von Rudolf Virchow persönlich, der bis zu seinem Lebensende darauf bestand, es handele sich um die Knochen eines abnorm verformten Menschen. So reihte sich der Neandertaler in die große Familie derer ein, die von den Nazis ausgelöscht werden sollten: die der Abnormen und der Slawen, kurz der Untermenschen.

Wer fragt: »Was ist der Mensch?«, erhält, ob er will oder nicht, immer auch zur Antwort, was ­der »Untermensch« ist. Das ist solange so, solange der Mensch durch Leistungen definiert wird, die ihn über andere Lebewesen erheben sollen. Angenehm an Darwins »Descent of Man« (1871) wirkt da, dass es so decent ist. Er sucht geduldig nachzuweisen, dass die angeblich menschlichen Fähigkeiten wenigstens in Spuren überall sonst im Tierreich auch schon vorkommen. Aber muss wirklich der Nachweis geführt werden, zu welchen erstaunlichen Leistungen Affen in der Lage sind und welche Zivilisation bereits die Neandertaler erreicht haben?
Schon die Alltagsbeobachtung ergibt, dass isolierte Fähigkeiten nichts über den Menschen aussagen. Es kommt vor, dass ein Mathematikprofessor Zahlen, aber nicht sein Leben ordnen kann. Es kommt vor, dass einer Uhren reparieren, aber nicht schriftlich dividieren kann. Was ist nun die höhere, was die niedere Leistung? So sammelte der Neandertaler vor hunderttausend Jahren Zunderpilze, mit denen er Feuer entfachen konnte. Unsereiner wüsste nicht einmal, was ein Zunderpilz ist, und säße in der Wildnis wie bestellt und nicht abgeholt.
Fähigkeiten sind keine Sport-Trophäen, sondern Antworten auf Probleme, gewohnheitsmäßige Reaktionen auf eine Umwelt. Die Umwelt der Hominiden ist mehr und mehr zu einer sozialen geworden. Schon Affen spielen, wie Nicholas Hum­phrey es formulierte, »Sozial-Schach«, sie erkennen die sich wandelnde Funktion der einzelnen Mitspieler. In der sozialen Kooperation hat sich das Planen, das Sprechen und die Kunst entwickelt. Ohne sozialen Bezug werden sie sich wieder verlieren.
Die logische Voraussetzung des Rassismus liegt darin, Eigenschaften, zum Beispiel Fähigkeiten, statt Zusammenhänge zu sehen. Aber Eigenschaften bedeuten ohne die Zusammenhänge gar nichts. Die rassistische Ideologie lässt sich nicht rational widerlegen, aber sie verliert ihre scheinseriöse Fassade, wenn nicht länger »Was?« – »Was ist das Menschliche?« usw. –, sondern »Wo?« und »Warum?« gefragt wird.