Die PKK in der Offensive

Krieg in den Bergen

Die PKK hat den Waffenstillstand offiziell aufgekündigt, im Osten der Türkei wird erneut gekämpft. Gesetzes- und Verfassungsänderungen, die der kurdischen Minderheit mehr Rechte einräumen, sollen im Herbst diskutiert werden.

»Die PKK rückt in die Kreisstädte vor«, meldete die türkische Tageszeitung Radikal am Montag vergangener Woche, nachdem die PKK den 14 Monate anhaltenden Waffenstillstand wieder beendet hatte. Im südostanatolischen Shirnak, einer der militarisiertesten Städte der Region, wagte eine Gruppe von Guerilleros den Angriff auf einen Stützpunkt der für Sicherheit und Grenzschutz verantwortlichen Jandarma. Mit Raketenwerfern und Geschützen wurde dem Bericht zufolge eine Stunde lang gekämpft, zwei kurdische paramilitärische, gegen die PKK kämpfende »Dorfschützer« wurden verletzt, die 40jährige Ayse Durmus und der 16jährige Firat Akdag wurden auf ihren Balkonen angeschossen.
Die PKK-Guerilleros konnten entkommen, das Militär begann eine Operation im gesamten Gebiet. Aus Hakkari berichtet der Reuters-Korrespondent Ibon Villelabeitia, dass Hubschrauber und Kampfjets über die Provinz fliegen. Hakkari liegt im gebirgigen südöstlichsten Gebiet der Türkei und grenzt im Osten an den Iran und im Süden an den Irak. Auf dem nordirakischen Berg Kandil befindet sich ein großes Lager der PKK mit Ausbildungsstätten und medizinischen Versorgungseinrichtungen. Auch während des sogenannten Waffenstillstands wurden von dort aus immer wieder Angriffe auf türkische Militäreinrichtungen koordiniert. In diesem Jahr starben dabei bereits 80 Soldaten.

Auch wenn die PKK stets von Vergeltungsanschlägen spricht, gab es de facto ohnhehin keinen Waffenstillstand. Anfang Juni tötete ein Anschlag auf einen Servicebus, der Militärpersonal und Familienangehörige transportierte, mitten in Istanbul fünf Menschen, unter ihnen eine 17jährige. Auch dieser Anschlag wird der PKK zugeschrieben. Es ist allerdings unwahrscheinlich, dass alle Anschläge in Kandil organisiert werden. Es gibt mittlerweile Unterorganisationen mit unterschiedlichen Namen, die kurdischen Freiheitsfalken sind die bekannteste.
Der inhaftierte PKK-Führer Abdullah Öcalan erklärte Ende vergangener Woche über seine Anwälte, er unterstütze die Initiative verschiedener NGO in der südostanatolischen Region, die eine komplette Einstellung bewaffneter Handlungen fordern. Unter diesen NGO sind einflussreiche Organisationen wie die Handelskammern, Teile des Menschenrechtsvereins sowie die Ärzte- und die Architektenkammer. Öcalan nennt fünf Bedingungen für die Einstellung der Kampfhandlungen: eine Demokratisierung der türkischen Verfassung hinsichtlich der Anerkennung ethnischer Minderheiten und ihrer Rechte, eine Senkung der Zehn-Prozent-Hürde, die kleine Parteien bei Parlamentswahlen benachteiligt, eine Änderung des Strafrechts, das etwa gegen Steine werfende Kinder unerbittlich hart ist, die Freilassung der im Rahmen der »Öffnung und Annäherung« aus Kandil in die Türkei gekommenen und unlängst festgenommenen PKK-Mitglieder und eine Änderung des Parteiengesetzes, um das permanente Verbot prokurdischer Parteien zu verhindern.
Alle diese Punkte sind Teil der zurzeit unter dem schwammigen Motto »Öffnung und Annäherung« ohnehin diskutierten Reformen. Die Verfassungsänderung soll im Herbst erfolgen, um die Einzelheiten feilscht die AKP bislang noch. Mehr Freiheit für kurdische Medien sowie Unterricht an Schulen und Universitäten in kurdischer Sprache sollen damit möglich gemacht werden.
Ein großes soziales und politisches Problem sind die im Rahmen einer Verschärfung des Antiterrorgesetzes in den südostanatolischen Provinzen inhaftierten Kinder und Jugendlichen. Im April 2006 kam es am Rande einer Beerdigung von PKK-Mitgliedern zu Ausschreitungen in Diyar­bakır. Zehn Menschen wurden dabei getötet, darunter zwei Kinder, 400 Menschen wurden verletzt und etwa 600 festgenommen, unter ihnen etwa 90 Kinder. Auf Videoaufzeichnungen sieht man die Polizeikräfte auf unbewaffnete Demonstranten losgehen, Polizeipanzer, Wasserwerfer, Knüppel und Schusswaffen wurden benutzt. Vor allem Kinder und Jugendliche begannen daraufhin, Steine zu werfen.
Im Anschluss an die »Ausschreitungen von Diyarbakır«, bei denen nur Zivilisten ums Leben kamen, wurde das Antiterrorgesetz geändert. Kinder ab 14 Jahren werden wie Erwachsene angeklagt, mit verheerenden Konsequenzen. Sowohl Unicef als auch Amnesty International warnten dieses Jahr vor der Verletzung von Kinderrechten in der Region. Etwa 600 Kinder und Jugendliche befinden sich im Gefängnis, fast 3 000 wurden mittlerweile angeklagt, ihnen drohen bis zu 15 Jahre Haft. Eine Gesetzesänderung sollte bereits erfolgen, wurde aber auf den Herbst verschoben.

Eine von der PKK als Friedenstrupp deklarierte Gruppe aus 25 kurdischen Flüchtlingen des Lagers Maxmur sowie acht PKK-Mitgliedern aus Camps im Nord­irak war im Oktober 2009 am irakisch-türkischen Grenzübergang bei Silopi in die Türkei gekommen, um das »Reue-Gesetz« in Anspruch zu nehmen. Wenn sie nicht an Anschlägen beteiligt waren, gehen PKK-Mitglieder, die sich von der Organisation lossagen, straffrei aus.
Nach den Angriffen auf türkisches Militär wurden die acht PKK-Mitglieder in Untersuchungshaft genommen. Die »Öffnung und Annäherung« erfolgt wie eh und je nach dem Motto: ein Schritt vor und einer zurück. Immer wieder bricht die Gewalt hervor, obwohl der Großteil der Gesellschaft sich Reformen statt Bombenanschlägen und Militäroperationen wünscht.
In der türkischen Tageszeitung Taraf erschien am 28. Juni ein ganzseitiges Interview mit Idris Bal, einem Professor der türkischen Polizeiakademie und Sicherheitsexperten. Bal erklärt offen, dass es sowohl innerhalb der PKK als auch innerhalb der türkischen Sicherheitskräfte unterschiedlichste interessengebundene Meinungen zum Konflikt gebe. Auf beiden Seiten existiere eine starke Hardlinerfraktion, die den Status quo zu erhalten wünsche. Innerhalb der PKK seien es vor allem diejenigen, die auf keine bürgerliche Existenz mehr hoffen könnten und sich mittlerweile in den Bergen und den Rückzugsgebieten der PKK, im Iran und dem Nordirak, ein Leben aufgebaut hätten und teilweise auch von den Nachschubgeschäften profitierten. Waffen- und Drogenschmuggel sind demnach immer noch Komplementärgeschäfte, und auf beiden Seiten gibt es Profiteure. Abdullah Öcalan sei nicht sehr einflussreich in der PKK, deren Führung ihn eher als eine Symbolfigur nutze. Bal sieht eine Lösung in einer sukzessiven Demokratisierung und der Stärkung polizeilicher Arbeit.
Entscheidend werden vor allem die politischen Reformen sein. Unklar ist die Haltung der türkischen Oppositionparteien. Nach dem Rücktritt des Vorsitzenden der CHP, Deniz Baykal, führt der 62jährige Kemal Kiliçdaroglu die Partei. In den vergangenen Jahren hatte sich die CHP, die vom Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk aufgebaut worden ist, vor allem hinsichtlich der Minderheitenproblematik politisch der ultranationalistischen MHP angenähert. Kiliçdaroglu ist nicht nur Alevit, sondern auch kurdischer Herkunft. Auch wenn er die Parteilinie nicht radikal ändern wird, kann das Verhalten der CHP im Herbst, wenn entscheidende Verfassung- und Gesetzesänderungen anstehen, mit Spannung erwartet werden.