Die Kopfpauschale kommt durch die Hintertür

Bleibt gesund!

Durch die Gesundheitsreform werden die Versicherten der gesetzlichen Krankenkassen in Zukunft kräftig zuzahlen müssen. Was kommt, ist eine Art Kopfpauschale durch die Hintertür.

Wir sollten uns eigentlich am Besten vom medizinischen Fortschritt verabschieden und das Altern der Gesellschaft umgehend einstellen. Dann wären wir die Probleme bei der Finanzierung des Gesundheitssystems vielleicht auf einen Schlag los. Und die FDP könnte sofort ihr Wahlversprechen »Mehr Netto vom Brutto« einlösen. Da beides jedoch nicht so einfach geht, kommen aller Wahrscheinlichkeit nach sehr ungemütliche Zeiten auf die Versicherten der Gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) zu.
Bereits in den vergangenen Jahren vollzog sich langsam, aber sicher ein Umbau im Gesundheitssystem, angefangen bei der Praxisgebühr und den Budgetierungen von Leistungen. Kostenlose Kassengestelle gehören längst der Vergangenheit an, und an Zeiten, in denen Kuren geradezu beworben wurden, können sich höchstens noch die Großeltern erinnern. Insofern ist der GKV-Versicherte schon einiges gewöhnt – egal von welcher Regierung. Und dennoch bedeutet die nun geplante Gesundheitsreform der schwarz-gelben Bundesregierung einen noch größeren Schritt weg vom Solidarprinzip. Denn was sich Gesundheitsminister Philipp Rösler (FDP) und sein Ministerium da ausgedacht haben, wird die paritätische Finanzierung der GKV zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern beinahe vollständig beenden.

Geplant ist in erster Linie eine Anhebung des Beitragssatzes von 14,9 auf 15,5 Prozent für alle Versicherten. Davon tragen die Arbeitnehmer 8,2 Prozent ihres Bruttolohns, die Arbeitgeber zahlen lediglich 7,3 Prozent. Pikant an der geplanten Reform ist die Tatsache, dass der Anteil der Arbeitgeber in Zukunft eingefroren werden soll, und zwar unter anderem mit dem Argument, alles andere würde Arbeitsplätze vernichten. Dieser Teil der Reform ist vom DGB heftig kritisiert worden. »Wir fordern eine wirklich paritätische Teilung der Kosten. Die Arbeitgeber dürfen nicht einseitig aus der Verantwortung entlassen werden«, fordert Oliver Suchy von der Kampagne »Köpfe gegen Kopfpauschale« des DGB.
Doch Röslers Pläne gehen noch weiter. Neben der Anhebung des Beitragssatzes steht nun auch die Einführung eines Prämienmodells in Form von Zusatzbeiträgen auf der Agenda. Dieser Teil der geplanten Reform ist eigentlich nichts anderes als die Einführung der Kopfpauschale durch die Hintertür. Jede Krankenkasse soll in Zukunft eigenständig Zusatzbeiträge von ihren Versicherten kassieren dürfen, um das angeblich zu erwartende Defizit der Kassen in Höhe von elf Milliarden Euro im kommenden Jahr decken zu können. Bei diesem Teil der Reform werden die Arbeitgeber gar nicht mehr bedacht. Und auch wenn das Gesundheitsministerium versichert, dass es im kommenden Jahr nur »sehr moderate Zusatzbeiträge« bei einzelnen Krankenkassen geben werde, in Zukunft erwarten Experten eine deutliche Steigerung. So soll die Prämie im Jahre 2012 nach aktuellen Schätzungen acht Euro monatlich betragen, zwei Jahre später sollen es bereits 16 Euro sein, lautet die Prognose. Manche Gesundheitsexperten erwarten einen noch stärkeren Anstieg. »Die Versicherten zahlen schon jetzt 15 Milliarden Euro mehr als die Arbeitgeber. In Zukunft nimmt diese Schieflage immer weiter zu«, so Suchy gegenüber der Jungle World.

Die Höhe der Zusatzbeiträge wird fortan für alle Versicherten gleich sein, denn die bisherige Regelung, wonach sich die Prämien an einem bestimmten Prozentsatz des Einkommens orientierten, gilt nicht mehr. In Zukunft zahlt eine Verkäuferin den gleichen Zusatzbeitrag wie eine leitende Ingenieurin. Um einen Ausgleich zwischen Arm und Reich zu schaffen, plant die Bundesregierung einen steuerfinanzierten Sozialausgleich. Die Regelung ist recht kompliziert. Einmal jährlich soll das Bundesversicherungsamt (BVA) erfassen, wie es um die Kassenlage der Krankenkassen bestellt ist. Je nach Höhe des Defizits soll dann die Höhe des Zusatzbeitrags ausfallen. Wer mehr als zwei Prozent seines Bruttoeinkommens für die Durchschnittsprämie aufwenden muss, soll die Differenz erstattet bekommen.
Hier steckt jedoch der Teufel im Detail. Ein Beispiel: Ein Arbeitnehmer verdient 1 000 Euro im Monat. Das BVA errechnet eine virtuelle Durchschnittsprämie in Höhe von 25 Euro. In diesem Fall erhielte der Versicherte aufgrund der Zwei-Prozent-Regel von seinem Zusatzbeitrag fünf Euro erstattet. Nimmt die Kasse jedoch einfach 50 Euro zusätzlich (denn der BVA-Wert ist nur eine virtuelle Prämie), bekommt der Versicherte auch nur fünf Euro erstattet. Und bei einer Kasse, die gar keine Prämie nimmt, würde er ebenfalls fünf Euro erstattet bekommen, da der BVA-Richtwert für alle Kassen gilt. Es ist sonnenklar, dass in diesem Fall ein Großteil der Versicherten zu Kassen wechselt, die keine Prämie nehmen. »Das würde zu einem unglaublichen Fusionsdruck führen, und die Krankenkassen würden mehr und mehr zu reinen Wirtschaftsunternehmen werden«, warnt Suchy.

Im kommenden Jahr behebt die Bundesregierung mit den geplanten Maßnahmen wahrscheinlich das Defizit bei den gesetzlichen Krankenkassen. Doch bereits für das darauffolgende Jahr rechnen Experten damit, dass erneut eine Unterfinanzierung droht. Denn die Reform funktioniert einzig und allein über die Belastung der Versicherten – vor allem der Gering- und Durchschnittseinkommen. An weitere strukturelle Probleme, etwa bei den Kliniken und im Ärztewesen, wagt man sich nicht heran. »Die Honorare der Ärzte sind in den vergangenen Jahren enorm gestiegen, ohne dass die Leistungen einer Prüfung unter­zogen wurden«, teilt Nadja Rakowitz vom Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte (VDÄÄ) der Jungle World mit. Von 2007 bis heute stieg das Einkommen der Ärzte im Schnitt um stolze fünf Prozent jährlich. Der Spitzenverband der GKV fordert wegen der prekären Situation gar eine Rückzahlung von Seiten der Ärzte in Höhe von 800 Millionen Euro. Daran ist jedoch nicht zu denken, denn Minister Röslers Reform trägt eindeutig die Handschrift der Ärzte-Lobby.
Auch die Zwei-Klassen-Gesellschaft im Gesundheitswesen steht nicht zur Disposition. Die Ärzte behaupten schließlich gebetsmühlenartig, ohne die Privatpatienten würden sie am Hungertuch nagen. Für Rakowitz ist das ein fadenscheiniges Argument. Ihr Verein vertritt die Auffassung, dass nur eine Bürgerversicherung die Lösung für die enorm gestiegenen Kosten darstelle. »Wenn alle Versicherten in eine Art Bürgerversicherung einzahlen würden, könnte der Beitrag unter zehn Prozent sinken«, so Rakowitz. Ihrer Meinung nach sind aber weder die Ärzte noch die Arbeitgeber an solch einem Umbau interessiert. »Die Arbeitgeber planen im Gegenteil langfristig eher einen Ausstieg aus dem Solidarprinzip«, ist sich Rakowitz sicher.
Aus der Regierungskoalition selbst dringen derweil erste deutliche Worte gegen die geplante Reform an die Öffentlichkeit. Der bayrische Gesundheitsminister Markus Söder (CSU) warnte im Spiegel davor, »unbegrenzt Kosten auf die Versicherten zu übertragen«. Und auch der sächsische Ministerpräsident Stanislaw Tillich (CDU) hat Widerstand gegen die Reform angekündigt. Ein Glück für die Versicherten, dass sie von einem Haufen wild gewordener Streithähne regiert werden, könnte man meinen. So bleibt ihnen die Hoffnung, dass dieses Reformvorhaben doch noch im Sommerloch verpuffen könnte.