Die WM aus deutscher Sicht

Die Schnauzer sind ab

Das war die Fußball-WM 2010 in Südafrika aus deutscher Sicht.

Irgendwann war es dann auch einem der Blogger klar, die sich in einem Internetforum zu den Machenschaften der Autonomengruppe »Kommando Kevin Prince-Boateng Berlin-Ost« äußerten: »Dank Boateng kein Ballack. Kein Ballack: der ›Leader‹ weg. Kein Ballack: Schweinsteiger und Lahm. Schweinsteiger, Lahm: Erneuerung. Ohne Boateng wäre die deutsche Mannschaft niemals so weit gekommen.« Einfacher lässt sich der erstaunliche Weg der deutschen Fußballnationalmannschaft nicht zusammenfassen, die in Südafrika ohne ihren Kapitän Michael Ballack antrat, der von dem für Ghana spielenden Boateng krankenhausreif gefoult worden war. Wegen des Ausfalls von Ballack musste sich die Mannschaft auf die Schnelle neu sortieren. Sie trat ohne ihren größten Star an, der sich in der Rolle des Platzhirschs gefiel, und konnte so ihren für eine deutsche Nationalmannschaft ungewöhnlichen Stil entwickeln, der auf einer flachen Hierarchie auf dem Platz basierte und jungen Spielern, die sonst vielleicht bloß auf ihren »Capitano« ausgerichtet gewesen wären, Möglichkeiten zur Entfaltung gab.
Kevin Prince-Boateng taugt somit im Nachhinein nicht so recht als die antideutsche Ikone, zu der er gemacht wurde. Dann noch eher Paul der Oktopus, das Krakenorakel aus Oberhausen, der zwar jeden Sieg der deutschen Mannschaft vorausgesagt hat, aber eben auch die Niederlage gegen Spanien im Halbfinale. Als »Kommando Krakenpaul« kann man ja vielleicht bei der nächsten WM antreten und bei einer weiteren Weissagung Pauls das Oberhausener Aquarium so manipulieren, dass der Tintenfisch sich permanent die Muschel schnappt, die die Gegnermannschaft repräsentiert. Und Deutschland wird bei der WM schon in der Vorrunde rausfliegen.
Das wäre auch etwas eleganter, als Kiezpolizei spielen und sich mit Aufräumarbeiten zu quälen. Die selbstgestellte Aufgabe diverser Autonomengruppen bei dieser WM war es nämlich, sich stolz im Internet zu präsentierten, vor Haufen von schwarz-rot-goldenen Wimpeln, Fähnchen und Girlanden, die sie auch nach den Festen auf der Fanmeile aus den Mülleimern gezogen haben könnten. Diese Fahnensammelei war dann ganz schrecklich antinational und ein Beitrag zur Verhinderung des Dritten Weltkriegs, den Deutschland gerade plant.
Wahrscheinlich gehört das neue Bild der deutschen Nationalmannschaft mit zum deutschen Plan, der Welt eine hübsche Maske zu zeigen, vor der man sich um so mehr fürchten sollte. Man kennt das ja aus der deutschen Geschichte. An die Stelle des hässlichen Effizienzfußballs vergangener Tage, der so teutonisch wirkte wie eine Wagner-Oper, trat virtuoser Spaßfußball, der Engländer und Argentinier so verblüffte, dass sie erst gar nicht versuchten, dagegenzuhalten. Eine deutsche Mannschaft trat da in Südafrika an, bei der Reporter im Ausland verzweifelt ihren Zuschauern erklären mussten, dass die Deutschen jetzt Khedira und Özil heißen und nicht mehr Fritz oder Matthäus. Aus den hässlichen Deutschen, die noch in den Achtzigern jede gegnerische Mannschaft mit ihren Blutgrätschen in Angst und Schrecken versetzt hatten, war eine junge Gute-Laune-Truppe geworden, an der sich jetzt Brasilien ein Vorbild nimmt, das sich selbst erneuern möchte, um endlich wieder so aufregend zu spielen wie streckenweise Deutschland bei dieser WM.
Die deutschen Kicker wirkten symphatisch, fast schon erschreckend unchauvinistisch, brachten auch vor der Kamera zusammenhängende Sätze zustande und trugen sogar Trikots, die ihnen gut standen. Torwart Manuel Neuer fasste die neue Smart-Offensive mit der Bemerkung zusammen, es trage ja auch niemand in der Mannschaft mehr einen Schnauzer. Deutsche Kicker ohne Schnauzer: Es war wirklich unfassbar.
Vor dem Aus im Halbfinale war es sogar so weit, dass jeder dritte Israeli Deutschland die Daumen für den Titelgewinn drückte, nur das holländische Team war noch beliebter. Und selbst der Daily Mirror stellte seinen irritierten Lesern die Frage, ob es am Ende sogar für einen Engländer okay sei, für die Deutschen zu sein, die immerhin für ein paar der denkwürdigsten Momente bei der WM gesorgt hatten.
Und in Deutschland? Das Land, das schon 2006 zu Schland geworden war, wurde »Schland« in Anführungszeichen, aus dem etwas arg bemüht wirkenden Endlich-dürfen-wir-auch-Nationalfarben-zeigen-Erweckungserlebnis vor vier Jahren wurde eine selbstironische Fußballfunrepublik. In Kneipen wurde »Nationalhymnenkaraoke« aufgeführt, Wortspiele mit »Schland« waren schwer in Mode, Menschen hatten Spaß dabei, ihre Fahrräder sinnlos mit möglichst vielen Flaggen zu schmücken, und ironisches Schwarz-Rot-Gold-Kettchen-Tragen war in jeder Hipsterkneipe angesagt.
Lieber »Schland« als Deutschland, könnte man meinen. Aber in diesem »Schland« kannten sich die paar trostlosen Autonomen, die wir noch haben, gar nicht mehr aus. Höhepunkt ihrer Desorientierung war der durch die Presse gereichte Fall, einem Deutschen mit Migrationshintergrund in Neukölln klar machen zu wollen, dass er keine Deutschland-Flagge vor seinem Haus hängen haben sollte. Persönlich kamen Autonome bei dem Deutsch-Libanesen vorbei, zwei Mal wurde ihm die Riesenfahne geklaut oder angekokelt. In der Zeit sagt Youssef Bassal, dass eine der Autonomen erklärt habe, »wir sollten lieber eine Palästina-Flagge aufhängen«. Dein Freund, der Ausländer, eine Projektions­fläche antiimperialer Linker.
In Erklärungen wehren sich Autonome vehement gegen den Vorwurf, sie übernähmen die Arbeit der Neonazis und seien neben der NPD die letzten, die Migranten auch weiterhin als Nicht-Deutsche wahrnehmen. Doch diese Au­tonomen benutzen Migranten, um ihre eigenen Identitätskonflikte auszufechten, und das ist bestenfalls peinlich. Das wird auch klar, wenn man auf die Homepage von »Fahnenflucht« schaut, wo der kleinkarierte Fahnenstreit ausgetragen wird. »Integration – Nein, Danke!« heißt es dort beispielsweise. Dabei sollten darüber, ob sich jemand integrieren will oder nicht, nicht irgendwelche linken Blutsdeutsche mit zu viel Langeweile zu bestimmen haben.
Trotzdem: Es war eine tolle WM. Aber leider droht jetzt das Sommerloch. »Auch die Autonomen«, meinte die Sängerin Christiane Rösinger im Radiosender FM4, »müssen sich jetzt eine neue Beschäftigung suchen und ihre innere Leere bekämpfen.«