Neue Folge der Comicserie »Spirou und Fantasio«

Der Ruhm der Fledermaus

Wenn Tarantino Comics zeichnen würde: »Spirou und Fantasio« im Kampf gegen die deutschen Besatzer.

Viele der heute 30- bis 40jährigen kennen »Spirou und Fantasio« noch aus ihrer Kindheit, als die Comic-Serie in »Fix und Foxi« abgedruckt wurde. Bis 1977 erschien sie dort unter dem Namen »Pit und Pikkolo« und war neben anderen Lizenzen frankobelgischer Comics wie »Die Minimenschen« der beste Grund, dieses an sich reak­tionäre Heft rund um die stets vorbildlichen Zwillinge Fix und Foxi zu lesen. Nicht, dass die frankobelgischen Comics inhaltlich radikaler gewesen wären, doch sie waren schlichtweg moderner, spielten nicht in einer idyllischen Provinz mit einer ständig Kuchen backenden Oma, sondern waren in der großen weiten Welt angesiedelt, wo die Helden in schnittigen Flugzeugen, Hubschraubern oder Sportwagen international agierenden Bösewichtern nachjagten.
»Spirou und Fantasio«, 1938 vom Franzosen Rob-Vel geschaffen, ist eine der wenigen bekannten europäischen Funny-Serien, die immer wieder von neuen Zeichnern aufgegriffen und weitergeführt wurden. Viel geändert hat sich im Laufe der Jahrzehnte dennoch nicht: Die Serie bedient weitgehend unkritisch die Phantasien vorpubertärer Jungs. Mit sehr viel Technik ausgestattet, bekämpfen der ehemalige Hotelpage Spirou und der Reporter Fantasio das Böse, ohne dass es dabei Zwischentöne oder Amivalenzen gäbe. Frauen kommen höchstens in ­Nebenrollen vor, etwa in Gestalt von Steffani, der neunmalklugen Konkurrentin von Fantasio, und bestätigen meist nur das Jungs-Ideal von der Welt als großem Abenteuerspielplatz der Männer. Dies ist möglicherweise der Punkt, wo sich die Abenteuer Spirous von denen eines James Bond unterscheiden: Spirou ist latent misogyn, aber nicht sexistisch.
Alles in allem ist »Spirou und Fantasio« also über Jahrzehnte eine brave, psychologiefreie Comicserie gewesen, in der es keine Vorgeschichte über die Herkunft der Protagonisten gab, keine Selbstzweifel und schon gar keine sexuellen oder sonstigen Identitätsprobleme, geschweige denn einen politischen Kontext. Das änderte sich schlagartig, als der Zeichner Émile Bravo eine Folge für die Reihe »Spirou Spezial« übernahm, die 2009 in Deutschland unter dem Titel »Porträt eines Helden als junger Tor« erschien. ­Bravo machte aus dem Kindercomic eine Graphic Novel, angesiedelt im Belgien des Jahres 1939. In der Vorgeschichte erfährt der Leser, wie ­Spirou zum Hotelpagen wurde: Als Waisenkind wuchs er in einem katho­lischen Heim auf, in dem die Priester die Jungen sexuell missbraucht haben. Um die Verbrechen zu vertuschen, besorgt ihm ein Priester den Job als Page und begleitet Spirou zu dessen neuer Arbeitsstelle mit den Worten: »Die Unschuld ist eine Versuchung und schon deshalb schuldig.« Dies sind Sätze, die nur ein erwachsener Leser versteht. Während im Hotel, in dem Spirou arbeitet, eine Delegation von Deutschen und ­Polen über die Zukunft von Danzig verhandelt, verliebt sich Spirou in eine polnische Jüdin, die den als »Tor« gekennzeichneten jungen Helden in seinem belgischen Nationalismus völlig durcheinander bringt. Als sie ihm erklärt, dass sie aus Deutschland stammt, in der Ukraine aufgewachsen ist und nun in Belgien lebt, fragt Spirou verwirrt: »Aber was bist du dann?« Ihre Antwort: »Ich? Na ja … ein Mensch … «. Auf Patriotismus wiederum hat sie nur eine Antwort parat: »Es gibt keine große Nation, die ein Wert an sich ist, und nationale Identität, das ist doch bloß eine Erfindung, ein Trick!«
Nicht nur der Comic-Held Spirou wird im Laufe der Story erwachsen, sondern die Comic-Reihe selbst wird es, denn erstmals werden Fragen nach sexueller Identität behandelt – und ein sehr queerer Fantasio eingeführt –, erstmals spielt die Serie in einer historisch realen Epoche, und erstmals ist das Böse unbesiegbar und abgründig: Am Ende des Comic beginnt der Zweite Weltkrieg, Spirous Geliebte wird deportiert, er wird sie nie wieder sehen.
Bravos einzigartige Neuerfindung eines europäischen Funny-Klassikers bildet die Vorlage für den soeben erschienenen Fortsetzungsband »Operation Fledermaus« des Duos Yann (Story) und Olivier Schwartz (Zeichnungen). Die Geschichte beginnt 1942 in dem von der Wehrmacht besetzten Brüssel. Sowohl Spirou als auch Fantasio arbeiten im Widerstand, ohne voneinander zu wissen. Die wenigen Male, bei denen sie sich begegnen, misstrauen sie einander. So arbeitet Spirou als Page in dem von Nazis besetzten Hotel Moustic und muss deren Uniform tragen, weshalb Fantasio glaubt, es handele sich um einen Kollaborateur. Tatsächlich jedoch nutzt Spirou seine Rollen vom Dienstboten bis zum Schuhputzer, um Informationen über die Vorhaben der Nazis an eine Widerstandsgruppe zu funken.
In mancher Hinsicht geht »Operation Fledermaus« weiter als sein Vorgänger, andererseits wiederum ist er eher ein konventioneller Abenteuer-Comic, allerdings mit pointiert antifaschistischer, wenn nicht sogar antideutscher Ausrichtung. Auch in »Operation Fledermaus« verliebt sich Spirou in eine Jüdin, die sich in einer Dachkammer vor den Deutschen versteckt und schließlich entdeckt und deportiert wird. Doch all das stürzt ihn nicht mehr in nagende Fragen nach Nation, Religion oder sonstigen identitären Konstrukten, denn er ist bereits ein gefestigter Widerstandskämpfer. Obwohl »Operation Fledermaus« psychologische Aspekte und die Komplexität der Charaktere stark zurücknimmt, geht der Comic insofern weiter, als er vor grober Gewalt nicht zurückschreckt. Als Spirou von einem Militärwagen der Wehrmacht verfolgt wird, setzt er ihn mit Benzin in Brand, die Nazis schreien noch im Todeskampf »Mein Führer!« (im Comic stets in Fraktur), während Spirou nur zynisch kommentiert: »Puah! Das riecht nach angebranntem SS-Auflauf!«
Die Mischung aus Abenteuergeschichte und antifaschistischer Propaganda erinnert an »In­glourious Basterds«. So sieht man beispielsweise, wie belgische Widerstandskämpfer gefangenen Nazi-Kollaborateuren ein blutrotes Hakenkreuz auf die Stirn malen. Ob Yann und Schwartz während ihrer Arbeit den Film von Tarantino bereits kannten, weiß man nicht. Interessant ist, dass sie fiktionale Elemente in ­einen historischen Kontext einbetten und so ein wunderbares Porträt der am Rande der Illega­lität lebenden Swing-Jugend in Belgien liefern.
Der Comic darf vereinfachte Bilder von Gut und Böse zeichnen. Dass die amerikanischen Befreier durchweg als Helden und Inbegriff einer neuen Freiheit gekennzeichnet sind, ist historisch völlig stimmig, albern wirkt jedoch ein Panel, in dem ein amerikanischer Panzer zu sehen ist, der an der jubelnden Menge vorbeirollt und die Aufschrift »Obama« trägt. Hier erlaubt sich das Texter- und Zeichner-Gespann einen Anachronismus, der nur dann Sinn gemacht hätte, wenn der Comic auch an anderer Stelle Zeitsprünge aufweisen würde. Dies schmälert allerdings nicht den Stellenwert dieser schönen antifaschistischen Comicphantasie.

Schwartz & Yann: Spirou und Fantasio Spezial: Operation Fledermaus. Übersetzt von Martin Budde. Carlsen-Verlag, Hamburg 2010, 64 Seiten, 10 Euro