Die Debatte über das Verschleierungsverbot

Karneval der Kulturen

Die französischen Nationalversammlung hat ein Gesetz verabschiedet, das Burka und Niqab verbietet, ohne die mit dem Islam begründete Gesichtsverschleierung explizit zu benennen. Verboten ist künftig jede Form der Gesichtsverschleierung – mit einigen Ausnahmen.

Karnevalsmasken bleiben in Frankreich legal. Zwar schreibt ein am Dienstag voriger Woche von der französischen Nationalversammlung angenommes Gesetz vor, das niemand mehr »im öffentlichen Raum einen Aufzug tragen« darf, »der dazu bestimmt ist, das Gesicht zu maskieren«, doch der Gesetzestext sieht explizit einige Ausnahmen vor: Wenn die Maskierung »zur Wahrung der Anonymität des Betreffenden« dient – beispielsweise in Form der Vermummung von Mitgliedern polizeilicher Sondereinheiten – ist sie erlaubt, und auch, wenn »medizinische Rechtfertigungsgründe« vorliegen. Ansonsten gilt, dass unter das Verbot alles fällt, was nicht ausdrücklich gestattet ist.
Nicht explizit zum Thema gemacht wird hingegen im Gesetzestext, dass es das Hauptanliegen der Bekleidungsvorschrift ist, bestimmte Formen der mit dem Islam begründeten Frauenverschlei­erungen zu untersagen. Hätte der Gesetzgeber nämlich festgeschrieben, dass es hierbei um einzelne Ausdrucksformen einer bestimmten Reli­gion gehe – oder vielmehr um das, was manche Menschen für solche religiösen Ausdrucksformen halten –, wäre so gut wie gewiss, dass das französische Verfassungsgericht oder der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte das »Burkaverbot«, wie das Gesetz landäufig genannt wird, kippt, da es einen diskriminierenden Charakter habe.
Dass sich das Gesetz nicht ausdrücklich auf religiös begründete Gesichtsschleier bezieht, hat zudem den praktischen Nebeneffekt, dass es zugleich ein Vermummungsverbot für politische Demonstranten einführt. Ein solches Gesetz, wie es 1988 in Westdeutschland eingeführt wurde, gab es bislang in Frankreich nicht. Infolge der Zusammenstöße am Rande des Strasbourger Nato-Gipfels im April 2009 war kurzzeitig auch in Frankreich über ein Vermummungsverbot nachgedacht worden, für das sich auch Justizminis­terin Michèle Alliot-Marie ausgesprochen hatte, doch hat sich eine eigene Regelung für politische Demonstrationen nun erübrigt: Sie wird zusammen mit dem Verbot von Burka oder Niqab, also von Formen der mit dem Islam begründeten Ganzkörper- oder Gesichtsverschleierung, gleich mitabgedeckt.
Um politische Demonstranten ging es nicht bei der gut einjährigen Debatte, die der Verabschiedung des Gesetzentwurfs vorausgegangen war. Das Motiv, das die Befürworter des Verbotsgesetzes antrieb, war tatsächlich, die bei einer kleinen Minderheit muslimischer Frauen verbreitete Vollverhüllung zu verbieten. Je nachdem, welche Formen von Verschleierung man in die Definition der Begriffe »Burka« oder »Niqab« – die in der französischen Debatte meistens ungenau verwendet werden – einbezieht, variiert die Zahl der Trägerinnen nach behördlichen Angaben zwischen 367 und rund 1 900. Dabei geht es im ersten Fall eher um die Trägerinnen von Burkas im engeren Sinne, also von zeltförmigen Bedeckungen, die den Kopf einer Frau von oben bis unten bedecken und nur vorne ein kleines Sichtfenster für die Augen freilassen, wie sie vor allem in Afghanistan oder Pakistan getragen werden. Vor dem Gesicht getragene Verhüllungen im weiteren Sinne werden dagegen oft als »Niqab« bezeichnet, nach einem Ausdruck für ein Kleidungsstück weißer Farbe, das man noch bei älteren Frauen in Nordafrika antrifft.

Bei Trägerinnen jener Verhüllungen in französischen Städten handelt es sich meist weder um Anhängerinnen der einen noch der anderen Tradition, zumal kaum afghanische oder pakistanische Staatsbürger in Frankreich leben. Burka und Niqab dienen hier eher als Utensilien, mit denen die Zugehörigkeit zu sektenartigen politisch-religiösen Kleingruppen oder -bewegungen kenntlich gemacht wird. In einem Gutteil der Fälle handelt es sich dabei offenkundig um Konvertitinnen, die sich im Erwachsenenalter zu einem Islam besonders extremer Auslegung bekehrt haben.
Bekannt wurde im April dieses Jahres San­drine M., die mit einem solchen Kleidungsstück im westfranzösischen Nantes Auto fuhr (»Jungle World« 20/10). Da sie es ablehnte, einen ihr aufgrund von »Fahrzeugführung mit eingeschränkten Sichtmöglichkeiten« ausgestellten Strafzettel zu bezahlen, muss sie nun am 13. November vor Gericht antreten. Ebenso wie sie sind viele Burkaträgerinnen »weißer« Herkunft und kommen aus christlichen oder säkularen Familien. In Marseille sorgte im vergangenen Winter eine Konvertitin für Aufmerksamkeit, die mit Totalverschlei­erung in einem Wartesaal bei der Sozialversicherung saß und dabei lautstark Korankassetten auf ihrem Walkman hörte. Sie wurde öffentlich – und unter Zustimmung der übrigen Anwesenden – von einem älteren Imam ausgeschimpft, der ihr vorwarf, die Leute zu stören und mit ihrem Eifer ein schlechtes Bild von seiner Religion abzugeben. Auch eine Burkaträgerin, die Anfang Mai im südfranzösischen Rodez in einem Rathaus auftauchte, um eine Geburtsurkunde abändern zu lassen, und damit einen Skandal verursachte, war eine Konvertitin.
Die so bekleideten Frauen und ihre Ehemänner gehören in der Regel zu Sekten, die etwa der salafistischen Bewegung zuzuordnen sind. Deren Ideologie wird sich durch das nun auf den Weg gebrachte Verbotsgesetz kaum bekämpfen lassen: Wie sich abzeichnet, werden sie auf die neue Verbotsvorschrift reagieren, indem sie eine Fatwa erlassen, die es den Anhängerinnen erlaubt, unter dem »äußeren Zwang« des Staats die Burka nun im Schrank zu lassen. Der Gesichtsschleier, so schlagen die Salafisten damit vor, könne im Falle solcher »höherer Gewalt« auch durch ein einfaches Kopftuch ersetzt werden. Ein Minimum an Bewegungsfreiheit in der Öffentlichkeit wollen die Sekten den Frauen offenbar ermöglichen, auch um den ideologischen Einfluss nicht zu verlieren.

Den Frauen, die dennoch mit einer Ganzkörperverschleierung angetroffen werden, droht künftig eine Geldbuße in Höhe von 150 Euro, sofern das Gesetz nicht in zweiter Lesung oder vom Verfassungsgericht abgeändert wird. Ferner können sie zu einem Lehrgang, der in den französischen Medien mal als »staatsbürgerlich«, mal als »Umerziehung« bezeichnet wird, verpflichtet werden. Empfindlich höhere Strafen drohen hingegen den Männern, die ihre Frauen, Schwestern oder Töchter zum Anlegen einer Burka zwingen. Ihnen drohen bis zu ein Jahr Haft und bis zu 15 000 Euro Geldstrafe. Dass Burkaträgerinnen ihre Männer beschuldigen, sie zur Ganzkörperverschleierung gezwungen zu haben, scheint jedoch wenig rea­listisch, da die Frauen die Schleier überwiegend aus ideologischer Überzeugung tragen. Völlig anders als etwa in Afghanistan dürfte der familiäre Zwang zur Burka in Frankreich eher selten sein.
Gegen den direkten Zwang, so meinen Kritiker des Gesetzes, hätte die bestehende Gesetzgebung Frankreichs, die etwa Freiheitsberaubung oder Gewalt in der Familie unter Strafe stellt, bereits ausgereicht. Die französische Linke ist ebenso wie Bürgerrechtsorganisationen der Auffassung, ein Sondergesetz für einige hundert Fälle sei nicht gerechtfertigt. Das Gesetz drohe nur zwischen der Mehrheitsgesellschaft und dem Staat einerseits und einer, für die französischen Mus­lime keinesfalls repräsentativen, extremen Minderheit andererseits zu polarisieren.
Amnesty International etwa forderte die Abgeordneten Anfang Juli brieflich auf, das Gesetz nicht zu verabschieden. Das französische Verbot verletze die Religions- und Meinungsfreiheit der Frauen, die diese Kleidungsstücke als Ausdruck ihrer Identität und ihres Glaubens tragen, erklärte John Dalhuisen, internationaler Experte für Diskriminierung bei Amnesty. Auch die britische Regierung kritisierte den Beschluss des französischen Gesetzgebers als Eingriff in die persönliche Freiheit. In ähnlichem Sinne gelten Bekleidungsfragen im angelsächsischen Raum überwiegend als integraler Bestandteil der individuellen Freiheitsrechte.

Im arabischen Raum sind die Reaktionen geteilt. Zustimmung zum französischen Vorhaben kommt zum Teil von Feministinnen und Akademikern. Schließlich argumentieren sie aus einem gesellschaftlichen Kontext, in dem der Islam die dominierende Mehrheitsreligion ist und der familiäre oder gesellschaftliche Zwang ganz andere Formen als in Frankreich annimmt. Gleichzeitig warnen aber viele Verbände und Menschenrechtsorganisationen aus arabischen Ländern, das Burkaverbot sei Ausdruck einer rassistisch motivierten Islamfeindlichkeit in Europa, deren jüngste Welle mit dem Minarettverbot in der Schweiz angestoßen worden sei.
Die saudi-arabische Bloggerin Eman el-Nafjan hingegen argumentiert, sie wolle lieber die Interessen »der einen Frau« opfern, »die sich Gott näher glaubt, wenn sie freiwillig eine Vollverschleierung« trage, statt jene Hundert anderen, die sonst keine freie Wahl haben«, im Stich zu lassen. Ähnlich argumentieren auch algerische oder marokkanische Frauenrechtlerinnen. Khadija Riyadi, Vorsitzende der vom Staat unabhängigen »Marokkanischen Menschenrechtsvereinigung« AMDH und Mitglied der inksreformistischen und aus früheren Linksradikalen bestehenden Partei »Demokratischer Weg«, lehnt dagegen ­sowohl die Vollverschleierung als auch ein spezielles Verbotsgesetz ab.

Diese Position vertritt auch mehrheitlich die französische Linke – abgesehen von der Sozialdemokratie, die offenbar aus taktischen Gründen mal diese und mal jene Position unterstützt. Die Nationalversammlung verabschiedete das Gesetz letztlich nur mit den 335 Stimmen der regierenden Konservativen und den Wirtschaftsliberalen. Die sozialistische Parlamentsopposition, die Grünen und die KP nahmen nicht an der Abstimmung teil, mit Außnahme des KP-Mitglieds André Gerin, der sich als ehemaliger Bürgermeister der Lyoner Vorstadt Vénissieux mit dem Problem der Vollverschleierung konfrontiert sah und ursprünglich das Burkaverbot mitangestoßen hatte. Gerin zählt zum traditionalistisch-etatistischen Flügel der Partei, legte jedoch in den letzten Jahren auch gesellschaftspolitisch konservative Tendenzen an den Tag. So bedauerte er, dass 2005 der Bezug auf die christlichen Wurzeln Europas aus dem EU-Verfassungsvertrag herausgenommen wurde. Gerin stimmte als einziger Vertreter seiner Partei für den Regierungsentwurf des Gesetzes.
Wie schon zuvor zum Kopftuchverbotsgesetz für Schülerinnen von 2004 ist die Frauenbewegung in der Diskussion um das Burka-Verbot gespalten. Während die Frauenorganisation »Ni Putes ni Soumises« (»Weder Nutten noch Unterworfene«) sich für das Verbotsgesetz einsetzte und dieses als wichtigen Erfolg gegen die Frauenunterdrückung begrüßte, publizierte eine feministische Gruppe unter dem Namen »Tumultueuses« im Internet einen Aufruf gegen das Burkaverbot und bezeichnete es als Augenwischerei, dass sich die Regierung beim Burka-Verbot auf Frauenrechte bezieht. Den Befürwortern des Verbots, so die »Tumultueuses«, gehe es darum, »uns Feministinnen für ein rassistisches und freiheitsbedrohendes Vorhaben zu vereinnahmen«.