Über Gegenaufklärung in den Neurowissenschaften

Zurück zum Gefühl

Über die galoppierende Gegenaufklärung in den Neurowissenschaften.

Die Neurowissenschaften geben vor, unser Denken, Fühlen und Handeln immer tiefer bis in seine elektrochemischen Ursprünge hinein verfolgen zu können. Im öffentlichen Bewusstsein, das für jede Biologisierung gesellschaftlicher Phänomene aufgeschlossen ist, repräsentiert das Gehirn zunehmend den Charakter und die Persönlichkeit eines Menschen. Summiert ergeben die menschlichen Gehirne mit ihrer jeweiligen Leistung und Beschaffenheit dieser Sichtweise zufolge die Gesamtgesellschaft. Wenn aber nicht Personen, sondern Organe den Gesellschaftskörper konstituieren, wird das menschliche Gehirn als die identifizierte Materie des Geistes zur Leitmetapher der Biologisierung gesellschaftlicher Prozesse. Im Zuge dessen gewinnt die Neurophysiologie, eine exakte Naturwissenschaft, eine politische Dimension, weil sich in ihren Erkenntnissen, auch wenn diese sich scheinbar auf die eigene Fachdisziplin beschränken, immer ideologische Imperative artikulieren.

Gehirn und Charakter

Wenn alles Denken nichts ist als sein gedachter Inhalt, kann auch ein Denkorgan nicht jenseits dieses bestimmten Inhalts, nicht jenseits des Gedachten, untersucht werden. Entsprechend wird das, was die Leute so im Kopf haben, von den populären Neurowissenschaften stets auf seine neuronalen Korrelate im Gehirn zurückgeführt. Prüfungsstress, Eifersucht, Religiosität, Shopping-Sucht und alle anderen psychischen Regungen und Deformationen des modernen Menschen werden im Hirn-Scan sichtbar gemacht, indem die jeweils besonders aktiven Hirnregionen farblich markiert werden. Man sieht natürlich keine Eifersucht etc., aber die sinnfällig gelb hervorgehobenen Hirnregionen werden zu Symbolen des korrelierenden Gemütszustandes. Indem dasjenige, was es repräsentieren soll, zwar nicht im neuronalen Material erscheint, aber als dessen Wirkung begriffen wird, enthält das Gehirn freilich auch für die Naturforscher immer ein unverstandenes Moment: Sie wissen nicht, wie aus einer neuronalen Aktivität ein bewusstes Gefühl oder ein Gedanke wird, sondern nur, dass es ohne entsprechende neuronale Prozesse wohl nicht zu solchen Gefühlen und Gedanken käme. Trotzdem bleibt die spekulative Annahme unangefochten, dass unser Gehirn alles versinnbildliche, was den Menschen als geistiges Wesen ausmacht. Die ganze Vielschichtigkeit der Persönlichkeit soll in diesem hochkomplexen Organ gleichsam materialistisch greifbar werden. In den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurde im »Pantheon der Gehirne« in Moskau neben anderen Gehirnen vor allem das Lenins (als Nachbildung) ausgestellt, dessen »Genialität« sich nicht nur in seinem Wirken als Staatsmann, sondern auch noch posthum durch eine Besonderheit der Pyramidenzellen in der dritten Rindenschicht wissenschaftlich »beweisen« lasse. Obwohl das Pathos realsozialistischer Wissenschaft Vergangenheit ist, wird das Cerebrale ähnlich wirkungsvoll nun auch wieder im 21. Jahrhundert zelebriert. Derselbe sakrale Schauer liegt in dem Gestus, mit dem das Laienpublikum die bunten Abbildungen »des Denkens« aus dem Tomographen mehr bestaunt als sein eigenes, ihm gegenwärtiges Bewusstsein.
Das Gehirn als Forschungsgegenstand war und ist immer auch Projektionsfläche für verschiedenste Gesellschaftstheorien. Da diese nicht von dem naturwissenschaftlichen Sachverhalt, auf den sie sich beziehen, getrennt werden können, ändern sich mit dem gesellschaftlichen Wandel auch die Funktions- und Dysfunktionszuschreibungen des Gehirns. Ob ein Mangel am »Treuehormon« Oxytocin nun zum Ehebruch führt (Dysfunktion), oder ob ein mehrjähriger Schwankungszyklus für dieses Hormon als normal gilt und sich folglich in der Serienmonogamie das eigentlich natürliche Verhalten des Menschen offenbare, lässt sich nicht am Zustand des Gehirns ablesen, zeigt aber zuverlässig den Stand der gesellschaftlichen Konventionen an. Das Wissen um die Geschichtlichkeit des Gehirns als Gegenstand der Naturwissenschaften kann dabei helfen, die heutige gesellschaftliche Rolle der Hirnforschung und ihre politischen Implikationen zu begreifen.
Schon die unmittelbaren Vorgänger der modernen Hirnforschung haben den Kopf betrachtet und dabei über den Geist sinniert. Seit Entstehung der Schädellehre, die sich aus den Vermessungen des Kopfes Rückschlüsse auf den Charakter oder das Talent erhoffte, hat sich an der Struktur der Theoreme nicht mehr viel geändert. Die modernen technischen Verfahrensweisen haben es lediglich ermöglicht, den Fokus heute unter die Schädeldecke zu verlagern. Doch die neuen Deutungen von Weiblichkeit, Kindheit oder Kriminalität wurden nicht zwischen den Neuronen gefunden, sondern in dem, was der Forschungsgegenstand den Forschern von ihrer eigenen Vergesellschaftung zurückspiegelt.
Da es in den Naturwissenschaften nicht üblich ist, auf den Forscher als Subjekt seiner Erkenntnisse zu reflektieren, erscheint dem Forscher das Gehirn selbst als Ursache spezifisch weiblichen, kriminellen etc. Verhaltens. Das Gehirn wird so zum eigentlichen Subjekt hinter unseren Handlungen – was eigentlich nichts ändern sollte, weil es doch jeweils mein Gehirn ist. Statt eines bestimmten »Charakters« habe jemand nun eben ein bestimmtes Gehirnprofil, welches Ursache seines Charakters sei. Diese Verdoppelung ändert jedoch die Qualität der Aussage wesentlich, da das Subjekt nun nicht mehr die Person ist, sondern diese als bloße Wirkung ihres neuronalen Substrats vorgestellt wird. So wird das Subjekt aus dem Bewusstsein heraus in das Gehirn verschoben. Der Verdoppelung des Subjekts in »ich« und »mein Gehirn« ist die Naturalisierung menschlichen Handelns immanent, das so zum bloßen Verhalten wird.
Mit der Annahme, er sei sowohl individuell als auch in den Formen seiner gesellschaftlichen Organisation bloß Wirkung eines natürlichen Organs, gibt der Mensch prinzipiell jede Möglichkeit auf, sich zum autonomen Subjekt der Gesellschaft zu machen. Denn wenn unsere Handlungen nicht selbstbestimmt aus Gründen erfolgen können, sondern aus natürlichen Ursachen in unserem Gehirn resultieren, dann ist alles Gesellschaftliche die Wirkung einer Naturursache und damit nicht von uns gemacht, sondern uns vorgegeben. Hierin steht die Hirnforschung der Sache nach (die sich nicht mit der Intention der einzelnen Forscher decken muss) in der reaktionären Tradition, der Natur anzulasten, was den Menschen von Politik und Ökonomie angetan wird.

Neurologie als Ideologie

Die den Kapitalismus auszeichnende Herrschaftsform ist apersonal, die die Gesellschaft konstituierenden ökonomischen Gesetze entspringen dem Mechanismus der blinden Verwertung des Wertes und sind nicht von Subjekten gezielt geplant und durchgesetzt worden. Der dieser Herrschaftsform adäquate ideologische Kitt ist die Naturalisierung – die ökonomischen Gesetzmäßigkeiten und die durch sie erzwungenen Subjektzurichtungen werden als Naturgesetze und damit als außerhalb der Kritik stehend anerkannt. Diese Naturalisierung leistet die Hirnforschung unbewusst und gleichsam nebenbei, denn sie will ja zunächst nicht die Gesellschaft, sondern nur ein Stück Natur erklären. Darum nimmt sie als natürlich an, was im menschlichen Gehirn eine materielle Bedingung hat: das Fühlen, Denken und Handeln der Menschen. Im Resultat ihrer Forschungen erscheinen das menschliche Fühlen, Denken und Handeln dann gleichfalls als Naturgegenstände. Erst die gesellschaftskritische Betrachtung zeigt, dass hier – ungewollt, aber objektiv – eine Ideologie erzeugt wird, die verstellt, was sie naturwissenschaftlich zu erklären vermeint.
Die sich in der modernen Hirnforschung eröffnenden Möglichkeiten der Naturalisierung gesellschaftlicher Zustände erklären zum Teil ihre mediale Präsenz und die erstaunliche Höhe der ihr zufließenden Gelder. Und zwar nicht, weil so Missstände bewusst kaschiert werden sollen, indem ihre Ursache von der gesellschaftlichen auf die neuronale Ebene verlagert wird, sondern weil viele Politiker, Pädagogen etc. tatsächlich an die naturalistischen Lösungen glauben, die die Hirnforschung verspricht. Sei es das schlechte Abschneiden deutscher Schüler bei der Pisa-Studie oder die hohe Kriminalitätsrate bei männlichen Migranten, neurophysiologisch basierte Untersuchungen versprechen überall Abhilfe. Dass die angebotenen Lösungen oft erschreckend banal sind, etwa wenn festgestellt wird, dass das Gehirn in großen Klassenverbänden schlechter als in kleinen lernen könne, schadet deren Renommee offenbar nicht. Denn obwohl die »Lösungsvorschläge« Bekanntes aufnehmen, verleiht ihnen das neurowissenschaftliche Design eine neue Qualität. Diese besteht darin, dass der Mensch sich nicht mehr als Subjekt seiner Gesellschaft begreift, dass er nicht selbstgesetzte Zwecke als gut und richtig beurteilt und sie dann realisieren will, sondern dass er sich bei der Umsetzung der von der Neurowissenschaft vorgeschlagenen Konzepte in seinem eigenen Selbstverständnis zum Kammerdiener der Natur macht. Wir ändern den Schulunterricht, den Strafvollzug, die Migrationsarbeit eben so, dass es unserem Gehirn, unserer eigenen natürlichen Organisation entspricht – diese Vorstellung steht unter ganz anderen Vorzeichen als eine, die ihre Ziele politisch begründen will.
Darum schadet es auch gar nicht, dass das, was die Hirnforschung uns über menschliches Verhalten erklärt, in den meisten Fällen altbekannt ist. Im Gegenteil: Die moderne Hirnforschung besticht gerade auch durch die unbefangene Art, mit der sie sich als allgemeinverständlich präsentiert, indem sie viele Anknüpfungspunkte zum Alltagsbewusstsein bietet. Bei der Beschäftigung mit der Arbeit von Hirnforschern und der Art und Weise der Präsentation ihrer Forschungsergebnisse fällt überhaupt die große Nähe zu den Populärwissenschaften auf. Anders als bei den Erkenntnissen der modernen Physik oder Chemie besteht hier eine große Ähnlichkeit zwischen den Resümees in Fachpublikationen und der Präsentation von Forschungsergebnissen in Publikumszeitschriften oder anderen Medien. Mit der Zeitschrift Gehirn & Geist haben Neurophysiologen in Deutschland mittlerweile sogar ihr eigenes populärwissenschaftliches Medium, das sie mit der Veröffentlichung eines »Manifests« in der Ausgabe 6/2004 auch schon gebührend als solches in Szene setzten.
Warum fällt es vielen Hirnforschern so erstaunlich leicht, einem breiten Publikum, das noch nicht einmal ansatzweise eine Ahnung davon zu haben braucht, wie durch inhibitorische Synapsen die Folge von Aktionspotentialen bei der Übermittlung auf andere Nervenzellen verändert werden kann, ihre Theorien über Bewusstsein und Willensfreiheit ohne jedes Fachchinesisch anschaulich zu vermitteln? Weil die von Hirnforschern wie Gerhard Roth oder Wolf Singer aufgestellten Theorien über menschliches Bewusstsein und Gesellschaft gar keine Naturdinge zum Gegenstand haben, so dass ihre Behandlung auch nicht der Form einer biologischen Abhandlung folgen muss. Vielmehr werden alle möglichen Gemeinplätze aufgestellt, die als philosophische oder psychologische Urteile erscheinen, aber nirgends argumentativ entwickelt werden. Stattdessen werden sie assoziativ mit biologischen Daten verknüpft und sollen hierüber dann empirisch belegt werden. Nur so ist zu erklären, dass die Publikationen der Hirnforscher einen dem Alltagsbewusstsein vollkommen adäquaten ideologischen Gehalt artikulieren. Die aufgestellten Urteile über den Geist werden bei Roth, Singer und anderen weder aus dem neurologischen Material noch aus philosophisch oder psychologisch zu entwickelnden Prämissen abgeleitet, sondern entspringen den Vorurteilsstrukturen der sie aufstellenden Wissenschaftler oder einfach der gegebenen und als gültig akzeptierten gesellschaftlichen Wirklichkeit. Dass die so entstandenen Thesen sich mit den Vorstellungen vieler Bürgerinnen und Bürger decken und darum oft intuitiv plausibel erscheinen, macht einen weiteren Teil ihrer Popularität aus.
Konsequent legen viele populärwissenschaftliche Veröffentlichungen zur Hirnforschung den Fokus mehr auf eine generelle Biologisierung gesellschaftlicher Sachverhalte als auf neurophysiologische Forschung. So ist in der aktuellen Ausgabe von Gehirn & Geist (7–8/2010) zu lesen, dass die höhere Attraktivität schlanker Frauen für Männer genetisch bedingt sei. Die genetische Anlage bei Männern, schlanke Frauen zu bevorzugen, wird damit »bewiesen«, dass blinde Männer weibliche Puppen beim Betasten dann attraktiver finden, wenn diese »ein kleines Taille-Hüft-Verhältnis« haben. Da Blinde nicht durch die allgegenwärtigen Darstellungen von schlanken Frauen in der Werbung beeinflusst sein könnten, müsse die Ursache des vorherrschenden Schönheitsideals eine natürliche, also genetische sein. Dies sei auch evolutionär gesehen sinnvoll, da Bauchfett bekanntlich krank mache. Eine zarte Ahnung von der Absurdität dieser Interpretation klingt vielleicht im letzten Satz des Artikels an, der aber auch in seinem dis­ableism beispielhaft für die ganze Forschungsrichtung ist: »Inwiefern allerdings auch Menschen ohne Augenlicht in ihrem Attraktivitätsempfinden kulturell geprägt sind, gilt es noch zu klären.«
Früher hat man das Leben der Menschen auf Papua-Neuguinea studiert, um das natürliche, ursprüngliche Verhalten der Menschen zu erforschen. Seit in den späten siebziger Jahren bekannt wurde, dass auch die »Wilden« eine eigene Kultur haben und ihr Verhalten darum wohl doch nicht im biologischen Sinne »natürlich« sein kann, hat man sich zum gleichen Zweck den Affen und den Kindern zugewandt. Da diese zu Fragen wie der nach der Attraktivität verschieden geformter Frauenkörperimitate wenig beisteuern können, scheint man jetzt eine neue Menschengruppe im angeblich gesellschaftsfreien Raum aufgetan zu haben: die Blinden. Wer nichts sieht, der kann unmöglich einen Zugang zur menschlichen Kultur haben, oder?
In den Artikeln in Gehirn&Geist geht es oft um das Gehirn, aber nie um den Geist im traditionalen Verständnis, also nicht um das Vermögen der Rationalität als Allgemeines, das Wahres und Falsches unterscheiden kann, das urteilt und das fähig ist, das Gegebene an einem eigenen Maßstab der Kritik zu messen – um es für wirklich, aber falsch zu befinden. Stattdessen geht es um die Gefühle als partikularen, unmittelbaren Ausdruck angeblich natürlicher Subjektivität. Diese Subjektivität als vereinzelte und zufällige kann gar nicht Subjekt der Gesellschaft werden, sondern findet die Gesellschaft immer nur als Gegebenes vor.
Hierbei ist der Glaube an uns steuernde Gene oder neuronale Impulse wichtiger für die Wirkungsmächtigkeit der Ideologeme, die sich an die Fragestellungen und Resultate der Hirnforschung knüpfen, als die Stringenz der Argumentation. Die symbolische Bedeutung des Gehirns ist mit der Hirnforschung aufs Engste verwoben. Die naturwissenschaftliche Praxis produziert nicht bloß Wissen von experimentell ermittelten Sachverhalten. In einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis wird der naturwissenschaftliche Blick auf den Untersuchungsgegenstand Gehirn durch gesellschaftliche Zuschreibungen gelenkt und geformt. Dabei werden Normen transportiert und gefestigt, indem sie zu Natureigenschaften des Menschen erklärt werden.
Der Mensch wird so in all seinen Eigenschaften, seinem moralischen Empfinden und seinen Wertvorstellungen biologisiert. Werte und Normen erscheinen nicht als Ausdruck spezifischer Gesellschaftlichkeit, sondern als natürliche Gefühle. Daher rückt auch das Gefühl gegenüber dem Geist oder der Rationalität in den Vordergrund, denn Gefühle gelten als unmittelbar, als natürlich und frei von jeder gesellschaftlichen Determination. Diese Leitprämisse der Neurobiologie ist offensichtlicher Unsinn. Ein kulturell geprägter Umgang mit Trauer beispielsweise oder die diversen Formen menschlicher Sexualität sind prinzipiell nicht als natürliche Verhaltensweisen beschreibbar. Das Begreifen und Verarbeiten eines Verlustes ist ebenso wenig Natur, wie die menschliche Sexualität in Fortpflanzungsfunktionen aufgeht. Viele Gefühle und ihre Verknüpfung mit bestimmten Erscheinungen sind eindeutige Schöpfungen der Moderne, zum Beispiel Ekel beim Anblick von Achselnässe. Dies macht es unmöglich, hier sinnvoll von natürlichen Affektzuständen zu reden.

Konditionierung und Angst

Alle Versuche, die Gefühle über ihren gesellschaftlichen Konstitutionszusammenhang begreifen wollen, lehnt der bekannte Hirnforscher Gerhard Roth in seinem Buch »Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert« (2001) ausdrücklich ab. Er behauptet im Gegenteil die Eigenständigkeit der Emotionen gegenüber kulturellen Besonderheiten, weil kulturelle Bedeutungen nur über die Rationalität zu begreifen, die Gefühle aber stammesgeschichtlich älter und darum jenseits rationaler Überlegungen wirksam seien. Roth führt als Beleg für seine These, die Bedeutung oder rationale Erkenntnis von affektauslösenden Reizen sei im Zusammenhang mit Affekten irrelevant, die Beobachtung an, dass mit einer bestimmten Sinneswahrnehmung korrespondierende Hirnzustände nicht bewusst würden, sofern die Intensität des Erlebens unter ein bestimmtes Maß sinke. Gerade auch als Komponenten des Nichtbewussten könnten Gegenstände (angeblich dann ohne Bedeutung!) eine Wirkung haben, die sich in entsprechenden emotionalen Zuständen äußere, und handlungsrelevante Größen sein. Er möchte dies mit einem Experiment veranschaulichen, in dem »Personen mithilfe eines milden Elektroschocks auf ein bestimmtes Objekt (Spinnen, Schlangen) furchtkonditioniert wurden«. Das Ergebnis dieser menschenfreundlichen Versuchsreihe war, dass auch bei einer maskierten Darbietung des Bildes einer Spinne oder Schlange – das heißt einer optischen Darbietung, in der das Objekt so versteckt ist, dass es nicht bewusst wahrgenommen wird, was zum Beispiel durch die Kürze des optischen Reizes erreicht werden kann – die Versuchsperson physische Furchtreaktionen zeigte (Veränderung des Hautwiderstandes, des Blutdrucks etc.), obgleich sie den Grund ihrer Angst nicht benennen konnte.
Doch kein Inhalt lässt sich ohne Bewusstsein denken. So kann zwar eine neuronale und körperlich messbare Furchtreaktion stattfinden, aber schon Roths Verknüpfung mit dem visuell maskiert gezeigten Objekt »Schlange«, das gefürchtet werde, geht in der Interpretation zu weit: Eine solche Verknüpfung kann nur denkend im Bewusstsein stattfinden. Das Nicht-Bewusste hat keine Angst vor der gezeigten Schlange. Es reagiert lediglich gemäß einer Konditionierung, der jede Bedeutung, jede begriffliche Zuordnung äußerlich ist. Gerade bei mit Hilfe von Elektroschocks auf geschwungene Linien furchtkonditionierten Menschen müsste es eher heißen, jemand sehe eine Flusslandschaft und sei darüber irritiert oder beunruhigt, dass ihm dieser Anblick scheinbar grundlos den kalten Schweiß auf die Stirn treibe. Dass wir als herpetologisch ungebildete Mitteleuropäer zunächst beim Anblick einer echten Schlange auf dem Bürgersteig (und nicht im Terrarium) erschrecken und uns dann fragen, ob sie giftig sei, liegt einzig an dem Wissen darüber, dass es giftige Schlangen gibt und dass Schlangen in unseren Breiten selten sind. Roth versucht mit seiner Interpretation, über einen Gemeinplatz Zustimmung zu erheischen für eine Hypothese, die sich maßlos über ihren eigentlichen Gegenstand überhebt. Anhand von antrainierten Furchtreaktionen möchte er zeigen, dass eine neuronale Erklärung eine zureichende Erklärung für Ängste im Allgemeinen sei und dass die unmittelbare Angst, die ohne Umweg über das Bewusstsein eine Flucht auslöst, ein stammesgeschichtlich überlebensnotwendiges Erbe des modernen Menschen sei. Erst durch komplexere und daher zeitaufwändigere Verschaltungen gelange die Wahrnehmung ins Bewusstsein.
Hinter dem Wort »komplex« verbirgt sich hier auf wunderbare Weise der Übergang von neuronaler Aktivität zu gedachtem Inhalt – nur dass dieser Inhalt, schon bevor er bewusst sein kann, auch von Roth als Inhalt mit Bedeutung betrachtet werden muss; denn ohne den Rekurs auf seine Bedeutung kann eine Reaktion auf einen Reiz nicht als stammesgeschichtlich oder sonstwie »sinnvoll« erklärt werden. Da Angst (gerade auch rational begründete Angst) Angst vor etwas ist, muss Roth für seine Interpretation die Bedeutung dessen, was Angst macht, als verstandene Bedeutung in einen nichtbewussten neuronalen Prozess projizieren – und das kann widerspruchsfrei nicht gelingen.
In dem geschilderten Experiment und seiner Rezeption durch Roth gehen »konditioniert«, »gelernt« und »angeboren« und in Folge auch »Instinkt« und »Erkenntnis«, »Gefühl« und »Gedanke« durcheinander. Die Furchtreaktion auf Bilder von Spinnen und Schlangen wurde den Versuchspersonen durch Stromstoß antrainiert. Aufgrund der Wahl der Objekte – Spinne und Schlange, gegen die es häufiger stark affektbesetzte Abneigung gibt als gegen Hasen und Eisbären – kann Roth, fast unmerklich für den Lesenden, zu vorgeblich angeborenen, als evolutionär »sinnvoll« behaupteten Verhaltensmustern übergehen, denn diese Tiere lösen auch bei vielen Menschen Furcht aus, die keine negativen Erfahrungen mit ihnen gemacht haben. Da einige Arten von Schlangen und wenige Spinnenarten tatsächlich für den Menschen gefährlich werden können, kann eine nichtbewusste Furcht vor ihnen als evolutionär sinnvoll gedeutet werden – obwohl es weitaus gefährlichere Säugetiere gibt, die, evolutionär komplett sinnlos bis grob fahrlässig, von den meisten Menschen auf Bildern als freundlich oder niedlich empfunden werden. Würde die antrainierte Angst sich gar auf Darstellungen von Gänseblümchen beziehen, verlöre Roths These der Funktionalität dieser nichtbewussten Furchtreaktionen jede Plausibilität.
Roths Interpretation der Experimente zu Furchtreaktionen führt ihn zu der Frage, warum uns Gefühle überhaupt bewusst werden, wo doch meistens die nichtbewusste Reaktion die »richtige« und schnellere sei. Bewusstsein erscheint so als funktionsloser Extraaufwand, als irrational. Im Umgang mit »natürlichen Situationen« arbeite das Nichtbewusste zuverlässiger und effektiver. Bewusste Gefühle brauchten wir hingegen im Umgang mit anderen Menschen, in der Gesellschaft. Das Bewusstwerden von Gefühlen, so Roth, habe als wichtige Funktion »das Ermöglichen einer längerfristigen Handlungsplanung, insbesondere in Hinblick auf unsere soziale Umwelt«. Diese Handlungsplanung sei nicht im klassischen Sinne als »rational« misszuverstehen. Da sie aus Affekten stamme, gehe sie auch darin auf, aus einem angenehmen Affekt heraus diesen auch längerfristig zu wollen. Die »Planung« bestehe so in dem Wissen, mit welchen Umständen das Angenehme von der Amyg­dala im Gehirn verknüpft wurde, und in der Möglichkeit, diese Umstände dann aus einem verstärkten Affekt heraus aufzusuchen.
Dass auch hierzu Urteile nötig sind, wird in Roths Darstellung unterschlagen. Der Wille, der auf das Angenehme geht, das er will, erscheint so nicht als mit Verstand und Vernunft verbunden, sondern als unmittelbar aus den Affekten entspringend, indem er mit seinen angenehmen Inhalten gleichgesetzt wird – etwas unmittelbar Unangenehmes könnten wir dieser Erklärung zufolge gar nicht wollen. Roth behauptet, dass die Emotionen unsere Gedanken, Vorstellungen und Erinnerungen steuern, und zwar entweder negativ, durch Furcht oder Abneigung, oder aber positiv, als Wille. Der Wille wird so selbst zum bloßen Affekt, nämlich nach Roth zur »Energetisierung« von angenehmen Affekten. Der Wille sei demnach nichts anderes als eine bestimmte Form, in der als »angenehm« bewertete Gefühle und die mit ihnen verknüpften Erscheinungen ins Bewusstsein gelangen. Damit kann der Wille dann gar nicht die umstrittene Funktion haben, frei zu sein. Die Handlungen, die er anstößt, sind reine Affekthandlungen.

Freiheit als notwendiger Schein

Folgt man Roths Hypothesen, wird jede bewusste Handlung zur Handlung im Affekt. Differenzen zwischen bloß subjektiven Emotionen angesichts eines Objektes und Urteilen über ein zu erkennendes Objekt gemäß den Regeln des allgemeinen Verstandes oder gar moralischen Urteilen, entspringend einer sich als autonom begreifenden Vernunft, seien als Phänomene subjektive Scheinunterschiede, die sich zwar verschieden anfühlen mögen (weil sie teilweise in verschiedenen Hirnregionen erzeugt würden), die aber für das Gehirn gleichermaßen funktionale Zustände seien. Gefühl und Verstand sind so bei Roth zwar irgendwie verschieden, aber nicht wesentlich unterschieden. Sie seien Funktionen, die demselben Prinzip folgten, weil sie auf denselben Naturzweck hin gerichtet seien. Hieraus begründet sich auch seine populärste These, dass der Mensch keinen freien Willen habe, denn alles Handeln sei durch Prozesse, die sich stammesgeschichtlich als sinnvoll entwickelt haben, neuronal vorgegeben. Die Freiheit sei hierbei ein funktionaler Schein, der zur Motivation von bestimmten Handlungen diene. Dieser Schein könne (und solle) gewusst werden, ohne dass dies das Gefühl in seiner Subjektivität beeinträchtige.
Das Interessante an dieser Konstruktion ist, dass sich hierdurch an der Verfasstheit unserer Gesellschaft ihrer Erscheinungsform nach gar nichts grundlegend ändern sollte, müsste oder auch nur könnte. Denn unsere Gehirne hätten ihre Umwelt grundsätzlich ihren Bedürfnissen gemäß gebildet, in dem nichtbewussten Prozess, den wir retrospektiv als unsere Geschichte bezeichnen. In diesem Prozess sei der Glaube an die eigene Freiheit – etwa bei demokratischen Wahlen oder der Entscheidung für einen Arbeitsplatz – ein notwendiges, neuronal erzeugtes Gefühl, das wissenschaftlich betrachtet jedoch zugleich als bloße Illusion erkannt werden müsse. Was Roth mit seiner These vom unfreien Willen und der gleichzeitigen Funktionalität und darum Notwendigkeit des Scheins von Freiheit für das Subjekt im Zusammenleben der Gesellschaft vom einzelnen Menschen verlangt, ist nicht wenig.
Es wird verlangt, dass der Mensch sich einen Schein von Freiheit mache (er könne gar nicht anders, seine Natur respektive sein Gehirn sei hierauf ausgerichtet), aber er solle zugleich wissen, dass es ein Schein sei, und dabei auch wissen, dass dieser Schein gut für ihn sei. Wenn wir uns nicht frei fühlten, könnte unsere Gesellschaft nicht funktionieren. So können wir zum Beispiel Roth zufolge nur unter dem Schein von Freiheit Verträge schließen, die verbindlich gelten, weil jene bestraft werden können, die sie brechen. Die unangenehmen Folgen bewirkten so im Normalfall der Handlungsplanung ein Verhalten der Vertragseinhaltung. Über den Anschein von Freiheit werde so ein natürlicher Schutzmechanismus für unsere gesellschaftlichen Verhältnisse etabliert. Abgesehen von dem Widerspruch, dass die Täuschung über unsere Freiheit notwendig sei, weil sie einen Effekt habe, der sich nur als Freiheit der Subjekte begreifen lässt und darum keine Täuschung sein kann, ist diese Denkfigur wegen ihrer ideologischen Architektonik bemerkenswert. Sie sagt: Der Betrug meines neuronalen Systems an mir selbst schützt mich. Ich kann ihn ruhig wissen, das entlarvt den Betrug nicht als etwas Falsches, das sich ändern sollte, sondern festigt ihn vielmehr, weil es mir seinen tieferen Sinn enthüllt. Denn ich erkenne, dass es gut für mich ist, in dieser Weise betrogen zu sein, weil ich mein Leben ohne diesen Betrug nicht leben könnte.
Diese Denkungsart stößt auf immer breitere Zustimmung. Sie lässt sich in analogen Varianten in vielen anderen Bereichen der Gesellschaft finden. So wird von der modernen Arbeitskraft erwartet, dass sie weiß, dass sie bloßes Mittel zur Verwertung des Wertes ist und entsprechend handeln müsse. Sie soll sich jedoch beim Exekutieren fremder Zwänge zugleich wahrhaft fühlen, als verwirkliche sie sich selbst – im gleichzeitigen expliziten Wissen um die Funktion dieser Lüge, denn nur wer sich die Arbeitsanforderungen ganz zu eigen macht, kann sie erfüllen und sich in der Konkurrenz behaupten. Dies ist der sinngemäße Inhalt einer ganzen Armada von Motivationsratgebern: Ja, ich muss gerne und erfolgreich Lohnarbeiten wollen, um gegen die Konkurrenz zu bestehen! Das Verhältnis zur eigenen Vernunft ist hierbei ein rein instrumentelles. Die Freiheit, seinen Willen bestimmen zu können, soll zum bloßen Mittel gemacht werden, um sich aktiv aus eigenem Willen unter heteronome Zwänge zu stellen.
Die Naturalisierung dieses Willens durch Autoren wie Roth passt maßgeschneidert zu einer Gesellschaft, deren alte ideologische Behauptung, jeder sei selbst für sein Leben verantwortlich oder gar seines Unglücks Schmied, angesichts der Lebenswirklichkeit ihrer Bürger schon lange unglaubwürdig geworden ist. Nicht nur die vormals als Plebs Ausgegrenzten, sondern fast jeder sieht sich oder Angehörige heutzutage von Arbeitslosigkeit und sozialem Abstieg bedroht. Die Freiheit, die eigene Gesellschaft zu gestalten, ist unter den herrschenden Bedingungen, die als ihren demokratischen Rahmen die kapitalistische Produktionsweise als unantastbar setzen, tatsächlich ein ebensolcher Schein, wie die Willensfreiheit es Gerhard Roth, Wolf Singer und anderen zufolge schon immer war und sein wird: eine Illusion, deren Aufrechterhaltung aber unumgänglich und zugleich notwendig ist, damit unsere Gesellschaft funktionieren kann. Bezogen auf die heutigen Verhältnisse, unter denen die Notwendigkeit der Verwertung des Wertes Sachzwänge erzeugt, die systemimmanent tatsächlich zwingend und unaufhebbar sind, kommt in der These der Hirnforschung vom unfreien Willen, der sich zugleich als freier denken muss, das heutige Alltagsbewusstsein zu sich selbst.

Autonomie und Entsetzen

Auf diejenigen Strukturen, welche die eigene Lebensweise maßgeblich bestimmen, haben die Einzelnen keinen oder bestenfalls geringen Einfluss. Entsprechend überrascht die Botschaft der Hirnforschung nicht wirklich: Die Wissenschaft hat festgestellt, dass es keine Freiheit gibt. Die Empörung gegen diese Forschungsergebnisse verteidigt oft die Freiheit im kleinsten möglichen Rahmen: Ich kann doch frei meinen Arm heben, den Kopf wenden, eine Zigarette rauchen, Schokolade essen oder all dies nach eigenem Belieben auch sein lassen. Diese Argumentationen zielen auf das pseudoromantische Gefühl des Freiseins, auf den Funken Trotz, das pubertäre Verlangen, sich inmitten heteronomer Zwänge seiner selbst zu vergewissern. Doch da dieses Verlangen bloß gespürt wird, nicht begründet, und da es mit steigender Intensität selbst die Form eines Zwangs annehmen kann, werden die Verfechter dieser minimalistischen Freiheiten schnell über ihren eigenen Exempeln unsicher. Wer hätte nicht schon feste Vorsätze gebrochen, wer könnte beim Heben des Armes eindeutig zwischen Wille, Willkür und Reflex unterscheiden? Der Impuls, der sagt »ich will nicht unfrei sein«, kann keinen Beweis der Freiheit liefern, solange er als Impuls verharrt. Den Beweis der Freiheit trägt er in sich, aber dieser erschließt sich erst in der Reflexion auf das, was Freiheit und was Wille ist, die zugleich eine Reflexion über die realen Bedingungen der Unfreiheit sein muss, in denen der Einzelne tatsächlich kaum eine andere Wahl hat als die, seinen Willen durch äußere Zwecke bestimmen zu lassen.
Und so kann die wissenschaftliche Bescheinigung, nicht autonomer Steuermann des eigenen Tuns zu sein, auch mit einer Form der Erleichterung einhergehen, als habe man es im Innersten immer geahnt, dass all die Versuche, frei zu werden, scheitern mussten – nicht aus eigenem Versagen, sondern weil es unsere Natur sei, unfrei zu sein. Theodor W. Adorno beschreibt in der »Negativen Dialektik«, warum die Menschen in der heutigen Gesellschaft politische Verantwortung nicht (er)tragen können: »Je mehr Freiheit das Subjekt, und die Gemeinschaft der Subjekte, sich zuschreibt, desto größer seine Verantwortung, und vor ihr versagt es in einem bürgerlichen Leben, dessen Praxis nie dem Subjekt die ungeschmälerte Autonomie gewährte, die es ihm theoretisch zuschob. Darum muss es sich schuldig fühlen. Die Subjekte werden der Grenze ihrer Freiheit inne an ihrer eigenen Zugehörigkeit zur Natur wie vollends an ihrer Ohnmacht angesichts der ihnen gegenüber verselbständigten Gesellschaft.«
Darum verschafft die Behauptung, wir seien gar nicht frei oder zumindest nicht so frei, wie wir dächten, Erleichterung, indem sie den Einzelnen einer untragbaren Verantwortung enthebt. Das macht ihre ungeheure Attraktivität aus. Gestärkt von der Festigkeit empirischer Daten flößt sie Vertrauen ein, indem sie den Freispruch, die Unzurechnungsfähigkeit, das Ende des Prozesses verspricht. So verwundert es auch nicht, dass die radikalen Gegenpositionen zur neurowissenschaftlichen Leugnung des freien Willens vor allem von denen laut werden, die seit jeher ihre Schuld als Zeichen der menschlichen Freiheit gern zu tragen bereit sind: von Christen jeder Konfession, die sich darin überbieten, Horror­szenarien einer der Verantwortlichkeit enthobenen Gesellschaft zu malen. In ihrer Bejahung der Schuldverfallenheit des Menschen glätten sie aber ebenfalls jene Aporie, die Adorno in der »Negativen Dialektik« skizziert: »Die Perspektive eines Äußersten wird aufgerissen; ob nicht darin, dass man um der Möglichkeit von Zusammenleben willen Freiheit fordert, ein Paralogismus steckt: damit nicht das Entsetzen sei, müsse Freiheit wirklich sein. Vielmehr ist aber das Entsetzen, weil noch keine Freiheit ist.«
In ihrem Gefühl des Entsetzens tragen die theologischen Kritiker von Roth und Singer zwar ein richtiges Moment in die Debatte um den freien Willen des Menschen. Das Verharren im bloßen Entsetzen über mögliche moralische Abgründe verhindert jedoch die Reflexion auf die wirklichen. Und so fehlt jeder Kritik, die im Entsetzen verharrt, das Moment, das nötig ist, um das Denken über die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse hinauszutreiben, in denen sich die Behauptung natürlicher Unfreiheit als Befreiung der einzelnen Subjekte von einer Verantwortung feiern lässt, die zu tragen ihnen bis heute verwehrt wird.

Christine Zunke lehrt Philosophie an der Universität ­Oldenburg und hat mit ihrer 2008 im Akademie-Verlag erschienenen »Kritik der Hirnforschung« eine der ers­ten grund­legenden Kritiken der Neurophilosophie vorgelegt.