Über Euro-Chauvinismus und deutschen Nationalismus 

Das Problem heißt Deutschland

Wenn die EU in der Krise ist, trägt Deutschland daran nicht unerheblich Schuld. Der Euro war nie ein antinationales Projekt.

Für Jürgen Trittin war der Euro »von Anfang an ein antinationales Projekt«. Er dankt Helmut Kohl dafür und ruft uns auf, den Euro nun »gegen Angriffe der Nationalisten und Währungsspekulanten zu verteidigen und zu stabilisieren«. Wohltaten sollen später kommen, wenn die EU mit der sozialen, ökologischen und demokratischen Steuerung der Märkte beginnt. »Zugegeben, der Weg dahin ist noch weit«, und »der Fortschritt ist wie so oft eine Schnecke«. Wem die Zeit zu lang wird, der sollte sie sich mit der Platte »Wenn der Senator erzählt« von Franz Josef Degenhardt vertreiben. Einige Thesen vorweg:
– Wer von der Währung einen Beitrag gegen den Nationalismus erwartet, überschätzt die Möglichkeit des Geldes. Der Krüger Rand hob die Apartheid nicht auf, der Renminbi macht aus tibetischen Mönchen keine China-Freunde und der Euro aus Erika Steinbach keine Kosmopolitin.
– Der Appell zur Verteidigung des Euro drückt Chauvinismus und Resignation vor der Macht der Dinge aus – Geldwertstabilität zählt zu den Idealen des entfremdeten Daseins, für die die Menschen nur Material zur Erfüllung sind.
– Der Euro ist ein Projekt zur Sanierung der europäischen Kapitalakkumulation und besonders zur deutschen Expansion.
– Der Euro wirkt in Hinblick auf die marktdarwinistische Selektion und Kapitalkonzentration wie ein Brandbeschleuniger.
– Die Frage, ob der Euro ein neoliberales oder antinationales Projekt ist, verwirrt. Neoliberalismus und Nationalismus lassen sich mit jeder Währung machen; heute gibt es alles: »keynesianische« Injektionen zur Rettung des Euro, der Banken und der Konjunktur, »neoliberale« Sanierung der Staatsfinanzen und nationale Regression.
– Das Tollste ist: Wir müssen den Euro gar nicht retten, das macht China schon. Wen Jiabao sagte zu Angela Merkel, er habe »in der Staatsschuldenkrise eine helfende Hand ausgestreckt«, um den Euro zu stabilisieren, nun erwarte er die Beseitigung der Handelsbarrieren. Merkel dankte für das »Signal, dass China Vertrauen in den Euro hat«. Eine Seifenoper über Aufstieg und Fall von Mächten, mit vielen Intrigen und der Erkenntnis: Wer den Euro stabilisieren will, braucht 500 Milliarden.
Vertrottelte D-Mark-Nationalisten können sich natürlich nicht für den Euro erwärmen, aber der moderne Nationalist weiß, dass sich Deutschland mit dem Euro besser auf Kosten seiner Nachbarn bereichern und seine Weltmachtambitionen eher realisieren kann, wenn es als Führungsmacht eines europäischen Blocks (ohne die »Lebenslustigen« aus dem Süden) auftritt ,– mit dem Euro gegen die Vorherrschaft des Dollar, mit Russland als Rohstofflieferant und Vorgarten für die industrielle Expansion. Einst förderte die Nationenbildung Handel und Wandel, heute steuert der Weltbetrieb auf große, supranationale Machtblöcke zu, andererseits begünstigen völkische und religiöse Ideologien einen partiellen Rückfall in die Kleinstaaterei. In dieser Gemengelage sehnen Euro-Politiker sich nach einer Weltordnung, in der die EU »gleichberechtigt neben den USA und China als globale Supermacht anerkannt wird« (Financial Times Deutschland). Rührend wollen sie uns europäischen Patriotismus einhauchen. Vor jeder Wahl kriegen wir zu hören, dass Deutschland dank der EU schon ziemlich lange nicht mehr Frankreich überfallen oder Polen geteilt hat.
Wenn es nach den Gelüsten des expansiven Kapitals ginge, gäbe es längst eine europäische Nation, in der die restlichen Hemmnisse beseitigt und Kapital, Menschen und Militär für imperiale Interessen zentriert wären. Aber die EU hat es nur zu einem Binnenmarkt mit Euro und offenen Grenzen für Weiße sowie dem gemeinsamen Freischießen der Meere gebracht, sonst ist sie ein konkurrierendes Staaten-Sammelsurium, weshalb der geistig-kulturelle Größenwahn – wie in der deutschen Romantik – der ökonomischen und militärischen Realität vorauseilt. Für das Welt­sozialforum ist die EU ein Hort gegen die »globale Wucherei«, die Kulturvölker zerstöre; Peter Sloterdijk findet, die Weltkultur sei nur »in Frankreich und Deutschland ehrenvoll vertreten«; Jürgen Habermas und Jaques Derrida schwärmten von der »Wiedergeburt Europas«, weil »die moralische Autorität Amerikas in Trümmern« liege. Als Joschka Fischer anhob: »Kulturell nennt sich unser Kontinent Europa – aber geografisch sind wir eigentlich Westasien – wie der Blick auf die Landkarte zeigt«, waren die vom Eroberungswahn Berauschten außer sich. Ein Schritt »von der Ohnmacht zur Weltmacht« (Süddeutsche Zeitung); »zum ersten Mal versucht ein deutscher Außenminister … deutsches Streben nach Weltgeltung« (FAZ), »die visionäre Endgestalt eines europäischen Großreiches« (FAS).

Der Euro-Chauvinismus erweitert den deutschen Nationalismus um die Weltmachtambition und erschließt Kreise, die mit der Trachtenjacke nichts am Hut haben, für den Kultur-Hochmut und den klassischen Rassismus. Dass Trittin die »fortschrittliche Antidiskriminierungspolitik« der EU hervorhebt, ist angesichts der Angriffe auf Flüchtlingsschiffe und der Greiftrupps, die in Zügen und auf Flughäfen Menschen mit schwarzer Hautfarbe jagen, unverschämt. Genauso, dass er Euro-Kritiker pauschal als Nationalisten und Rechte denunziert. Wer einen Präsidentschaftskandidaten anpreist, der nicht mag, »wenn das Geschehen des deutschen Judenmordes in eine Einzigartigkeit überhöht wird«, der Polens Grenzen anzweifelt und Verständnis dafür aufbringt, dass migrantische Milieus Unbehagen auslösen, sollte keine Zeugnisse über rechts und links verteilen.
Der Euro war von Anfang an ein Projekt zur Stimulierung der lahmenden europäischen Wirtschaft. Auf die lange Prosperität, die auf der Kapitalzerschlagung des Zweiten Weltkrieges und Armutslöhnen basierte, folgte ein noch längeres Siechtum. Vermutlich verursacht durch die von Marx analysierte sinkende Profitrate als Folge des schnelleren »Wachstums in der Masse der Produktionsmittel, verglichen mit der Masse der sie belebenden Arbeitskraft«. Der zweite Krisenfaktor ist der »keynesianisch« aufgeblähte Staatssektor. Der Staat muss sich die Wertmasse, mit der er unprofitable Sektoren am Leben hält, früher oder später aus den profitablen holen. Diese Umverteilung bewirkt ein Sinken des Gesamtprofits und des Wachstums. Bei »Keynes« sind Staatsschulden Realität und die versprochenen Einnahmen Theorie. Die Zuwächse dümpeln bei einem Prozent, während neue Konkurrenten zweistellig zulegen. Der Abstieg lässt sich immanent nur stoppen durch die Vernichtung von Kapital, die Übertragung von Staatssektoren auf die Profitwirtschaft und die Steigerung des Mehrwerts, der aus der Arbeit herausgepresst wird. Genau dabei sollte der Euro helfen, weil durch ihn »die Löhne jene Abfederungsfunktion übernehmen, die bisher von den Währungsdifferenzen getragen wurden« (Wirtschaftsprofessor Horst Siebert, 1994).
Die gemeinsame Währung nimmt Staaten die Instrumente zur Abfederung von Wettbewerbsnachteilen: Abwertungen, Einfuhrzölle, Importbegrenzungen. Diese Mittel haben alle Staaten eingesetzt, denen historische Aufholjagden gelungen sind, ob Deutschland, Japan, Südkorea oder China. Der Euro bewirkt einen ungehemmten Aufprall der verschiedenen Produktivitäten. Über den Zu- und Abfluss von Produktion, Beschäftigung und Einkommen bestimmen dann Lohn, Fleiß, Arbeitszeit, Krankentage, Arbeitsverdichtung, Verwissenschaftlichung der Arbeit (High-Tech, Just-In-Time) und die Verfügbarkeit von Dienstleistungen. Aufgrund seiner hohen technischen Standards und der gering entwickelten Emanzipation und Autonomie ist Deutschland im Euro-Raum der große Gewinner. Dank seiner größeren Produktivität raubt es anderen Produktion und überschwemmt ihre Märkte mit seinen Exportwaren. Die einkommensschwachen Länder verschulden sich bei Deutschlands Finanzinstituten, die im Grunde die Bezahlung der »eigenen« Exporte vorstrecken. Bei Zahlungsunfähigkeit wird das Schuldnerland geplündert und der Verlust zu Hause sozialisiert. Der Kapitalismus kann sich nur reproduzieren, indem er ständig Disparitäten schafft, die Kluft zwischen Arm und Reich vertieft; er ist »als Weltsystem in der Tat ein erbärmliches System gesellschaftlicher Produktion« (Paul Mattick).

Solange Euro-Staaten sich untereinander Risiken und Verluste zuschieben und Verlierer wie Leprakranke zu Christi Zeiten behandeln, ist Europa dem Zerfall näher als der Bildung eines Machtblocks. Nicht Griechenland, Portugal, Spanien und Irland – Deutschland ist das Problem. Statt seine Banken zu sanieren (der »Stresstest« ist nur eine PR-Maßnahme), bürdet es seine Krisenlasten den Schuldnerländern auf. Weil Deutschland es will, muss Griechenland bis 2012 seiner Bevölkerung 24 Milliarden Euro abnehmen, wird der sonst übliche Teil-Schuldenerlass verweigert, müssen Staaten, die Stabilitätsdiktate missachten, damit rechnen, dass ihnen das Stimmrecht in der EU entzogen wird. Was bliebe vom US-amerikanischen Patriotismus, wenn Washington dem klammen Kalifornien die Demokratie verbieten würde? Die deutsche Härte wurde 1992 von Horst Köhler – damals noch Staatssekretär für Finanzen – angekündigt: »Es wird nicht so sein, dass der Süden bei den reichen Ländern abkassiert. Dann nämlich würde Europa auseinander fallen.« Eher geht ein Kamel durchs Nadelöhr! Und wenn die Reichen im Süden abkassieren?
Die Süddeutsche Zeitung befürchtet nun, dass Deutschland vor lauter hegemonialer Besessenheit seine Führung verspielt: »Welches Land stimmt schon freiwillig seiner Entmündigung zu? ( …) Um die Währungsunion zu sichern, reicht es nicht aus, deutsche Interessen zu europäischen zu erklären.« Dass Deutschland die EU gefährdet, meint auch Großspekulant George Soros. Die deutsche Politik riskiere eine Abwärtsspirale, Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit, »sie gefährdet also die Demokratie«. Deutschlands Austritt aus der Währungsunion wäre »für den Rest Europas hilfreich«. Betrachten wir es dialektisch: Wünscht ein Deutscher sich die D-Mark zurück, ist er ein bornierter Nationalist, wünscht ein Grieche den Deutschen die D-Mark zurück, will er sich aus dem Würgegriff befreien.