Hippe Prediger verbreiten in Ägypten ein »cooles« Image des Islam

Der Prophet lehrt das Vorspiel

Islamische Lebenshilfe ist populär in Ägypten. In einer autoritären Gesellschaft kann die Religion als Mittel zu Verbesserung des persönlichen Lebens erscheinen.

Wenn Amr Khaled predigt, ist nicht nur die Moschee voll besetzt mit Zuhörern. Auch in den umliegenden Straßen lauschen ihm die Gläubigen. In der Kairoer Innenstadt darf er deshalb nicht mehr auftreten, seine Predigten verursachen ein Verkehrschaos. Dennoch erreicht er sein Publikum, denn er ist Fernsehprediger.
Amr Khaled ist hip. Er tritt in lässiger westlicher Kleidung auf und spricht ägyptischen Dialekt, ein starker Gegensatz zum gestelzt klingenden koranischen Arabisch der islamischen Geistlichkeit. Khaled hat kein Studium der islamischen Theologie absolviert, seine Themen klingen eher nach Lebensberatung als nach religiöser Unterweisung. Setze dir ein Ziel im Leben, Bewahrung der Ressourcen, Nein zu Drogen – so lauten Titel seiner Predigten, die unter anderem ins Deutsche übersetzt werden. Auch unter hiesigen Migranten hat er zahlreiche Fans.
Eine ungewöhnliche Auslegung des Islam bietet auch Heba Qutb an. Die verschleierte Sex­the­ra­peu­tin hat wie Khaled eine eigene Sendung im privaten ägyptischen Fernsehen. Dort leitet sie die Notwendigkeit des Vorspiels aus den Worten des Propheten her, erklärt das Recht der Frau auf einen Orgasmus für islamisch und spricht über Masturbation und verfrühten Samenerguss.
Qutb und Kahled verkörpern auf verschiedene Weise das gleiche Phänomen. Beide ziehen ein Millionenpublikum an und begeistern es für Religion. »Sie sagen beide, dass es cool sei, Muslim zu sein«, erläutert die Ägypten-Expertin Sanna Negus, die kürzlich ihr Buch »Hold on to Your Veil, Fatima!« (Halte an deinem Kopftuch fest, Fatima!) über die ägyptische Gesellschaft veröffentlicht hat, in dem sie die wachsende Bedeutung des Islam beschreibt: »Heutzutage ist es fast eine Mode, öffentlich religiös zu sein. Der Gebrauch religiöser Accessoires nimmt zu: Immer mehr Männer rollen Gebetsketten in den Händen und murmeln die 99 Namen Allahs; Korankassetten plärren von überallher.«
Neu ist diese Entwicklung nicht. Die »Islamisierung« begann vor mehr als 40 Jahren. Als der damalige laizistische Präsident Gamal Abdul Nasser 1967 den Krieg gegen Israel verlor, füllten sich die Moscheen wieder, und einige Frauen banden ein Kopftuch um. Der »arabische Sozialismus« Nassers habe versagt, hieß es, weil er sich vom Islam abgewendet habe. Nassers Nachfolger, Präsident Anwar As-Sadat, betete öffentlich und trug mit Stolz seine Zabiba (Rosine) auf der Stirn, das Gebetsmal, das man durch häufiges Kopfsenken auf einen kleinen Gebetsstein erwerben kann. In den siebziger Jahren war die Zabiba ein Zeichen ungewöhnlicher Religiosität. Heute gibt es nur noch wenig Männer ohne Rosine, und praktisch keine Frau geht in Kairo ohne Kopftuch auf die Straße.
Bereits vor Jahren hat Patriarch Shenuda III., das religiöse Oberhaupt der immerhin zehn Prozent der ägyptischen Bevölkerung ausmachenden Minderheit der Kopten, den christlichen Frauen empfohlen, sich zu verschleiern, um nicht aufzufallen. In der Amerikanischen Universität gibt es seit langem einen Umkleideraum gleich an der Pforte, wo die Studentinnen der Oberschicht die verhüllende Straßenkleidung in Shorts und T-Shirt tauschen können. Inzwischen allerdings nutzt diesen Raum kaum noch jemand. Die Studentinnen kämpfen lieber um das Recht, auf dem Campus den Niqab, den auch das Gesicht verhüllenden Schleier, tragen zu dürfen.

Der Gesichtsschleier ist in Ägypten seit 16 Jahren in Schulen und Universitäten verboten. Trotzdem verlor die Amerikanische Universität vor drei Jahren einen Prozess vor dem Verwaltungsgericht und muss nun einer Studentin erlauben, den Niqab zu tragen. Als der inzwischen verstorbene Sheikh Mohammed Sayyid Tantawi, Leiter der ­renommierten al-Azhar-Universität für Islamische Theologie, sich vor einem Jahr ebenfalls gegen den Niqab auf dem Campus aussprach, brach eine Sturm der Entrüstung los, vor allem weil er auch darauf hinwies, dass es keine religiöse Begründung für den Niqab gebe.
Vielfach sind es junge Frauen, die sich gegen den Willen ihrer Eltern für den Niqab entscheiden und höchst selbstbewusst ihr Recht darauf verteidigen. Unter autoritären Verhältnissen kann der Islam zur Ideologie des Widerstands werden. Auch das ist kein neues Phänomen: Die Muslimbruderschaft gibt es immerhin schon seit den zwanziger Jahren, sie ist die größte Oppositionsgruppe im Land und propagiert recht erfolgreich das »islamische Recht« als Alternative zu einem repressiven Regime.
Die Muslimbruderschaft spricht eher die Unter- als die Oberschicht an. Amr Khaled und Heba Qutb wenden sich an die Jugend und auch an die Besserverdienenden. Sie vertreten keinen politischen Islam, der ein anderes staatliches System propagiert, fordern aber einen gesellschaftlichen Wandel. »Beide wollen die Ägypter befähigen, ihr Leben zu ändern«, sagt Sanna Negus.
Khaled predigt, dass man die Fesseln lösen müsse. Damit meint er Pessimismus und Verantwortungslosigkeit, das Fehlen eines Ziels. Er ermutigt Jugendliche, sich zu engagieren, Kleider für Arme zu sammeln, Essen für Bedürftige zu orga­nisieren und Kleinunternehmen zu gründen, aber auch, gegen die Unterdrückung der Frauen anzugehen. Er prangert »Ehrenmorde«, Klitorisbeschneidung und häusliche Gewalt an.
Khaled ist keinesfalls ein Liberaler, den Islam legt er eher streng aus. Ein Kopftuch zu tragen, bezeichnet er als religiöse Pflicht. Doch sein Stil ist modern, seine Mahnungen sind populär in einer Gesellschaft, die kaum Eigeninitiative kennt, in der es kaum Perspektiven gibt, die Arbeitslosigkeit hoch und soziale Mobilität fast unbekannt ist.
Vor allem sprechen Amr Khaled und Heba Qutb die Frauen an, die bisher als Gruppe ignoriert wurden. Formal betrachtet ist Ägypten für Frauen nicht der schlechteste Ort der arabischen Welt. Zwar richtet sich das Familienrecht nach dem orthodoxen Islam, erlaubt also die Polygamie und erschwert der Frau die Scheidung. Doch ansonsten genießen Frauen offiziell gleiche Rechte. Seit 2007 gibt es Richterinnen, und seit 2004 erhalten Kinder von Ägypterinnen die ägyptische Staatsbürgerschaft auch dann, wenn der Vater anderer Nationalität ist. Für eine solche Regelung müssen Frauen in anderen arabischen Staaten noch kämpfen, in Beirut wurde dafür am 8. März demonstriert.
Die alltägliche Erfahrung von Frauen in Ägypten ist allerdings ein sexistischer Horror, wie es ihn in dieser Intensität kaum irgendwo sonst auf der Welt gibt. Frauen, die sich auf die Straße wagen, hören von allen Seiten anzügliches Zischen und Rufen. Stets lungern Männerhorden unter Bäumen und vor Geschäften, während Frauen nur eilig laufen, um ihr Ziel zu erreichen. Zur verbalen Anmache kommt das Gegrabsche, nicht nur an den Busen, sondern gern auch zwischen die Beine. Während des Opferfestes vor vier Jahren umzingelte ein Männermob eine Gruppe von Frauen und riss ihnen auf offener Straße die Kleider vom Leib. Die Polizei sah tatenlos dabei zu.
Die Regierung versuchte, das Ereignis herunterzuspielen. Noch immer behauptet die Präsidentengattin Suzanne Mubarak, es habe nur ein oder zwei Fälle von sexueller Belästigung gegeben. Doch eine Debatte, an der sich auch der Rest der arabischen Welt beteiligte, konnte sie nicht verhindern. Die Szene war nämlich von einem Zeugen gefilmt und ins Netz gestellt worden.
Das Ägyptische Zentrum für Frauenrechte führte in der Folge eine Umfrage durch. 83 Prozent der Frauen gaben an, schon einmal Opfer sexueller Belästigung geworden zu sein. Das entsprach den Erwartungen, die Angaben der Männer waren allerdings ein Schock. 63 Prozent gaben offen zu, Frauen sexuell zu belästigen.
Das Zentrum begann daraufhin die Kampagne »Sichere Straßen für alle«, von der man jedoch kaum wieder etwas gehört hat. Vor zwei Jahren fielen erneut Männer während des Opferfests über Frauen her. Inzwischen erwägt die Regierung, die Todesstrafe als Höchststrafe für Vergewaltigung einzuführen. Doch eine Verschärfung der Gesetze geht schon deshalb am Problem vorbei, weil nur 2,4 Prozent der Opfer Anzeige erstatten.
Die Autorin Sanna Negus sieht, wie das Ägyptische Zentrum für Frauenrechte, die Ursache zwar ebenfalls im mangelnden Respekt für Frauen, benennt aber auch Gründe, warum sexuelle Belästigung in dieser drastischen Form allein in Ägypten und nicht in anderen arabischen Ländern vorkommt: »Ägypten ist das bevölkerungsreichste arabische Land. Mehr als 80 Millionen quetschen sich auf einen Streifen nutzbaren Landes von der Größe Dänemarks. An überfüllten Orten ist es leichter, eine Frau zu kneifen oder Anzügliches zu flüstern und dann in der Masse zu verschwinden.«

Hinzu komme, dass Sexualität nicht ausgelebt werden kann. »Die Kosten des Heiratens sind stetig gestiegen, genau wie die Jugendarbeitslosigkeit.« Der Bräutigam muss eine teure Hochzeitsfeier ausrichten, soll aber auch eine Wohnung kaufen, sie einrichten und teure Braut­geschenke übergeben, die der Frau als Absicherung im Fall einer Scheidung dienen. Allein die Wohnungseinrichtung kostet 2 000 Dollar, das monatliche Durchschnittgehalt liegt bei 200 Dollar. Deshalb heiraten viele Männer erst mit über 40 Jahren.
In der Ehe setzt sich der Horror für die Frauen fort. Die Feministin Iman Bibars interviewte für eine Studie 444 Frauen. 96 Prozent hatten häusliche Gewalt erfahren. Bibars eröffnete daraufhin im Jahr 2003 das erste Frauenhaus Ägyptens. Tatsächlich nimmt die Zahl der Eheschließungen ab, während die Bevölkerung wächst. Die Zahl der Scheidungen steigt hingegen und ist inzwischen mit 40 Prozent ebenso hoch wie in Deutschland.
Da ist es wenig erstaunlich, dass die Religion gerade auch für Frauen attraktiv ist, wenn sie als Alternative zu unerträglichen gesellschaftlichen Verhältnissen präsentiert wird. Der »wahre« Islam kann als Mittel zur Verbesserung der persönlichen Lebenssituation erscheinen, an diese Hoffnung knüpfen Khaled und Qutb an. Nicht nur sie betonen, dass im Islam Männer und Frauen gleich seien. Auch die konventionellen Islamisten sprechen von gleichen Rechten. Sie setzen sich auch dafür ein, dass schon junge Leute heiraten können, unter anderem mit dem Argument, die hohen Anforderungen bei einer Eheschließung seien Ausdruck von weltlichem Luxus.