Über die Krise der CDU

Die Stunde der rücksichtslosen Demokraten

Die Krise der CDU zeigt, dass die Politik in eine Phase des Spektakels übergeht. Der Mangel an stabilen Wählermilieus soll durch die Darbietung von Politik- und Lebensstilen überspielt werden. Doch die Stunde der eisernen Krisenmanager kündigt sich bereits an.

Das Phänomen müsste hiesigen Politiker längst aus den Vereinigten Staaten bekannt sein: Haushoch gewinnt das eine politische Spektrum die Wahlen; die Medien verkünden, eine Zäsur sei das, ja, ein Epochenwandel; davon werde sich der politische Gegner so schnell nicht wieder erholen. Bill Clinton, George W. Bush und Barack Obama unterschieden sich der landläufigen Meinung nach jeweils radikal von ihren Vorgängern und standen für einen »ganz neuen« Politikstil. Bei Clinton und Bush setzte der Abstieg mit Beginn ihrer zweiten Amtszeit ein; der vor kurzem noch messianisch verklärte Obama könnte bereits bei den kommenden Kongresswahlen im Herbst herbe Verluste erleiden.
Blicken wir auf Deutschland: Die SPD wirkte ausgehöhlt, substanzlos, am Ende; sie, die sich in allen größeren Krisen Deutschlands als staatstreue Emanzipationsmaschine des »kleinen Mannes« bewährte, hatte ausgedient. Die Beobachter waren sich einig: Der CDU stehe eine glänzende Epoche bevor, ihr ständen alle Optionen offen, sei es eine große Koalition als Krisenmeister, ein urbanes, aufgeklärtes Bündnis mit den Grünen oder das klassische, bürgerliche mit den Liberalen. Und wenn es, wie im Saarland, gilt, einen Linksblock zu verhindern, bleibt ihr auch noch die Jamaika-Variante. Heute befördern die Christdemokraten junge Migranten in Spitzenpositionen, führende CDU-Politiker sind offen schwul oder bekennende Ehebrecher, und Angela Merkel zieht es vor, ohne starken Partner an ihrer Seite öffentliche Auftritte zu absolvieren. Das ist modern. Überhaupt pflegt Merkel einen nüchternen, unaufgeregten und scheinbar allen gesellschaftlichen Gruppen gegenüber aufgeschlossenen Habitus. Insgeheim befördert sie den Linkskurs ihrer Partei, konservative Gegenspieler wie die Ministerpräsidenten Roland Koch oder Stefan Mappus spielen nur noch auf Landesebene eine Rolle.
Trotz dieser scheinbar günstigen Konstellation für die Union hat das beschworene neue Zeitalter von Schwarz-Gelb nicht einmal die notorischen ersten hundert Tage der Koalition gestrahlt. Der Wahlerfolg der FDP ist bereits vergessen – wie ein Irrläufer der Geschichte, so scheint es heute der politischen Szene in Berlin. Mit jedem Schritt, mit dem die FDP an bundespolitischer Bedeutung verliert, wird plötzlich deutlich, dass ihre Partnerin auch nur ein armseliger Haufen ist. Eigentlich hat die CDU in den vergangenen Jahren gar keine Wahlerfolge erzielt, sondern nur weniger stark als die Sozialdemokraten verloren – vorläufig zumindest, denn die Aushöhlung, die die SPD erlebt hat, steht der CDU unmittelbar bevor. Vermutlich hat sie sich bereits vollzogen, wird aber den Spitzenpolitikern der Partei erst jetzt bewusst.

Die Christdemokraten stehen vor einem Dilemma. Als einzig verbleibende Volkspartei – das ist zumindest ihr noch gültiges Selbstverständnis – muss die Union dem Wahn folgen, »Politik für alle« (Oskar Lafontaine) zu machen. Dieses Projekt wurde ausschließlich additiv in Angriff genommen: Für die rassistischen und schwulenfeindlichen Wähler gab es Koch und Mappus; für die Arbeiter Jürgen Rüttgers und Horst Seehofer; für das jüngere, urbane Publikum Christian Wulff, Ole von Beust, vielleicht auch Peter Müller, und natürlich die Minister Norbert Röttgen und Kristina Schröder. Für das nationale Wohlgefühl schließlich sollte der ewig grinsende Horst Köhler herhalten. Alle Köpfe zusammen sollten eine Volkspartei ergeben, das war die Hoffnung der Kanzlerin – die selbstverständlich illusionär war. Denn diese Mannschaft hat keine gemeinsame Agenda mehr, sondern steht vielmehr für sich im höchsten Maße widersprechende Politik- und Lebensstile.
Dass es ein gemeinsames Projekt nicht gibt, offenbarte vor einem halben Jahr zuerst der Koalitionspartner. Guido Westerwelles Rede über die Dekadenz der Erwerbslosen war eine klare Abgrenzung nach unten, eine Sortierung der Bevölkerung nach Kriterien der Produktivität und Unproduktivität; Leistungsbereite gegen Schmarotzer. Das hätte eine Zukunftsagenda sein können, sie wurde aber zum falschen Zeitpunkt publik gemacht: mitten in der Krise. Vor allem war sie gegen den integrativen Stil Merkels gerichtet, den sie zunehmend verzweifelt vortrug. Dass Roland Koch seinen Rücktritt ankündigte, konnte man noch als heimlichen Sieg des linken Merkel-Flügels verbuchen. Aber die Wahl in NRW, die man eher in unprofessioneller Weise verstolperte als tatsächlich verlor, der weinerliche Rückzug von Bundespräsident Köhler, Christian Wulffs dilettantisch vollzogener Wechsel in das Präsidentenamt und schließlich der Rücktritt des entkräfteten und lustlosen Ole von Beust – all das zeigt, dass auch der linke CDU-Flügel, der die bürgerliche Partei neu erfinden sollte, keine Trümpfe mehr im Ärmel hat. Rückt die Partei weiter nach links – zum Beispiel durch den Atomausstieg, eine integrative Schulpolitik und einen milderen Umgang mit dem »abgehängten Prekariat« –, verprellt sie das konservative Milieu noch mehr und droht, von der SPD, die sich in der Opposition wieder als die wahre Volkspartei der kleinen Leute profiliert, als unglaubwürdig vorgeführt zu werden. Profilieren sich die CDU-Spitzenpolitiker stärker rechts und marktliberal, spielen sie erst recht der SPD in die Hände.

Tatsächlich, die SPD ist wieder da, wenn auch nicht aus eigener Stärke. Sie braucht die starken Grünen an ihrer Seite, und im Prinzip steht sie immer noch da, wo sie vor einem Jahr stand. Nichts spricht dafür, dass ihre künftigen Wahlerfolge dauerhafter sind als die der CDU. Aber sie kann zurzeit, aus der unverbindlichen Opposition heraus, eine Symbolpolitik betreiben, die machtpolitisch höchst effektiv ist, zum Beispiel Joachim Gauck als Präsidentschaftskandidaten vorschlagen oder den einen oder anderen Annäherungsversuch der Linkspartei theatralisch und brüsk abweisen. Das alles darf man jedoch nicht mit einer Neuerfindung oder einer Rückkehr zu den sozialdemokratischen Wurzeln der Partei verwechseln.
Für Merkel bedrohlicher als das Schein-Comeback der SPD ist die Tatsache, dass auch das schwarz-grüne Koalitionsmodell noch lange keine neue christdemokratische Politik hervorgebracht hat. Die Grünen sind zu homogen für die CDU. Sie sind die Partei der Funktionseliten, also jener gesellschaftlichen Gruppen, die als Berater, Pädagogen und Wissenschaftler die Klassenwidersprüche der Gesellschaft funktional stützen und daran auch gut verdienen. Sie wirken ihrem Anspruch nach mäßigend und kompensierend auf soziale Konflikte, haben also nichts für den CDU-Flügel übrig, der auf eine aggressive Abgrenzung zu den Unterschichten pocht.

Die Krise der CDU ist ein weiteres Indiz dafür, dass die Politik als Medium kapitalistischen Krisenmanagements in eine neue Phase des Spektakels übergeht. Grundsätzliches Merkmal der Demokratie in Deutschland ist es seit jeher gewesen, aus Unzufriedenheit Zustimmung zu machen. Jahrzehntelang funktionierte dies über langfristige Bindungen. Stammwähler und erst recht diejenigen, die sich in den Volksparteien und einer ihrer Vorfeldorganisationen engagierten, kamen in den Genuss, Teil eines größeren gesellschaftlichen Projekts zu sein. Das hieß mal »Keine Experimente« (Konrad Adenauer), »Mehr Demokratie wagen« (Willy Brandt) oder »geistig-moralische Wende« (Helmut Kohl). Diese langfristige Bindung setzt aber stabile Wählermilieus voraus, eine Art homogener Klassenkonstitution. Den Parteien geht ihre langfristige Perspektive verloren, wo diese Homogenität nicht mehr gewährleistet ist, wenn das Proletariat mehr und mehr zersplittert und vom sozialstaatlichen Abstieg bedroht ist, und auf der anderen Seite für das bürgerliche Milieu die lang erprobte Formel »gute Bildung, guter Job« immer weniger gilt. Immer schneller werden den Wählern Alternativen schmackhaft gemacht, die häufig nur noch aus neuen Gesichtern und Stilen, also anderen Auftritts- und Umgangsformen bestehen.
Das politische Karussell ist kein Perpetuum mobile. Es ist wesentlich davon abhängig, wie sich die Krise weiterentwickelt, oder besser gesagt: wie schnell sie sich weiterentwickelt. Deren Verschärfung – etwa durch Staatsbankrotte in Spanien und Irland, was sich direkt auf die hiesige Wirtschaft auswirken würde – könnte dem bunten Treiben, in dem Guido Westerwelle gestern noch der Heilsbringer war und Sigmar Gabriel heute schon wie ein Hoffnungsträger daherkommt, schnell ein Ende setzen. Dann schlägt wieder die große Stunde jener Demokraten, die gemeinsam ihrer Bevölkerung die nackten Tatsachen des eisernen Sparens einbläuen und dabei rücksichtslos vorgehen werden.
Vor dem Hintergrund einer solchen drohenden Entwicklung könnte man verleitet sein, die aktuelle Debatte, ob Politiker einfach so zurücktreten dürfen und ob durch die Welle der Amtsmüdigkeit nicht eben jene Ämter beschädigt werden, als harmloses Geplänkel abtun, als typisches Sommerloch-Phänomen. Das ist es aber nicht. In dieser Debatte werden bereits die moralischen Standards etabliert, die bei einem sich verschärfendem Krisenverlauf dringend benötigt werden: Die Politiker sollen endlich ihren Mann stehen, sie sollen die Zähne zusammenbeißen und sich standhaft und kämpferisch zeigen. So kündigt sich medial der nichterklärte Ausnahmezustand an.