Mama Dracului hatte keinen Rock

Berlin Beatet Bestes. Folge 56. Anca Agemolu: S-a sfîrsit cu tristetea (1967).

Meine Familie stammt aus Siebenbürgen und kam 1960 nach Deutschland, sechs Jahre bevor ich geboren wurde. Obwohl die Einwohner Siebenbürgens sich jahrhundertelang als Deutsche sahen, hatten sie eine ganz eigene Kultur, eine Mischkultur, die aus der 800jährigen sehr engen Nachbarschaft zu anderen Kulturen entstand. Meine Mutter wuchs, wie alle in Siebenbürgen, zweisprachig auf. Sie zählte und fluchte immer auf Rumänisch. »La Mama Dracului!« ( Mutter des Teufels) rief sie zum Beispiel, wenn sie sich ärgerte. Überhaupt war sie stolz darauf, auch Jahrzehnte nach der Ausreise aus Rumänien ein gutes Rumänisch zu sprechen. Meine Onkel und Tanten sprechen es immer noch fließend, meinen Kusinen, Kusins und mir wurde die Sprache aber nicht beigebracht. Rumänisch blieb für uns Kinder eine Geheimsprache der Erwachsenen. Wir sollten uns assimilieren, und das haben wir auch alle »erfolgreich« getan. Es erscheint heutzutage unmodern, aber das Rumänische galt unseren Eltern damals als hinderlich. Meine Mutter wuchs in einem multikulturellen Milieu auf, zwischen Rumänen und Ungarn, zwischen Juden und Roma. Ihr Temperament und das meiner Familie war ganz eindeutig nicht deutsch.
In der Sprache liegt das Temperament, der Humor, die Emotion, das Herz und vor allem die Herzlichkeit. Die Sprache bestimmt die kulturelle Zugehörigkeit. Während die Älteren in meiner Familie nach Belieben von einer Sprache und von einer Stimmung zur anderen wechseln können, wurden wir Kinder dazu verdammt, deutsch zu sein.
»Wirr hatten doch keinen Rrrock’n’Rroll in Rrumänien!« hat meine Mutter immer gesagt, in der typisch siebenbürgischen, das R rollenden Spreichweise. Wenn man mal davon absieht, dass auf Ausflügen in den Karpaten Peter-Kraus-Songs gesungen wurden und dazu auf der Wandergitarre gespielt wurde, gab es für sie in den fünfziger Jahren tatsächlich keinen Rock.
Meine Leidenschaft für das Sammeln osteuropäischer Beat- und Rock’n’Roll-Schallplatten ließ mich in den späten Neunzigern allerdings auch die rumänische Popmusik der sechziger Jahre entdecken. Eigentlich ist meine Sammlung abgeschlossen, aber neulich fand ich zufällig in meiner Kreuzberger Nachbarschaft (in der Schenkendorffstraße, mehr dazu nächste Woche!) mal wieder eine Single, die ich noch nie gehört hatte. Noch dazu eine echt fetzige! Der Song »S-a sfîrsit cu tristetea« (Ende der Traurigkeit) ist die rumänische Entsprechung zum französischen Yé-Yé-Sound. Fröhlich treibende Gitarren, Schlagzeug, Klavier und Bläser, ein tolles Orgelsolo und die warme Stimme von Anca Agemolu zerstreuen wirklich alle Sorgen. Ich habe es bestimmt 30 Mal gehört, so gut gefällt es mir.
Der kurze Eintrag auf Wikipedia zu Anca Angemolu verrät, dass sie der armenischen Minderheit angehörte und 1970 nach Deutschland emigrierte. Die Spuren ihrer Karriere wurden von der rumänischen Zensur beseitigt. Über den Orchesterchef Rolf Albrich, der sie begleitet hat, findet man leider gar nichts mehr.