Die Helden der Gaza-Flottille auf Deutschland-Tour

Bloß nicht zurückrudern

Die deutschen Beteiligten der »Gaza-Freedom-Flotilla« touren durch Deutschland und verkünden ihre Version von den Ereignissen. Trotz des Desasters mit neun Toten sehen sie keinen Grund zur Selbstkritik.

Ob Ansbach, Bielefeld, Darmstadt oder Pforzheim: Kaum eine deutsche Kleinstadt lassen Annette Groth, Inge Höger und Norman Paech aus, um von ihrer Schiffsreise Richtung Gaza zu berichten. Die drei Abgeordneten der Partei »Die Linke«, die an der »Gaza-Freedom-Flotilla« teilnahmen und sich auf der »Mavi Marmara« befanden, als dort israelische Soldaten neun Aktivisten erschossen, sind auf Deutschland-Tour.
Im Adolf-Schlatter-Haus der Evangelischen Studentengemeinde Tübingen haben sich rund 50 Menschen eingefunden, um Annette Groths Version der Vorfälle zu hören – einen »Augenzeugenbericht«, wie die Ankündigung verspricht, obwohl Groth, wie sie beiläufig zugibt, während der Ereignisse auf dem Frauendeck eingeschlossen war und von dort aus selbst nichts sehen konnte. Ohnehin sei sie keine »Expertin«, aber das hindert sie nicht, das Geschehen als »Kriegsverbrechen« zu bezeichnen, denn sie will wissen, dass israelische Soldaten sofort auf die unbewaffneten Aktivisten geschossen hätten. Hinterher hätte das israelische Militär harmlose Werkzeuge und Stangen zu Waffen umgelogen. Weder von den Videos, die Aktivisten dabei zeigen, wie sie sich für die militante Verteidigung ihres Schiffes vorbereiten, noch von jenen, auf denen Aktivisten mit Stangen auf Soldaten einprügeln, ist dabei die Rede. Lieber spricht Groth davon, wie die Teilnehmer der Flottille von israelischen Soldaten »übelst durchsucht« und »unmenschlich behandelt« worden seien. Die Situation habe Groth »an Guantánamo erinnert«, doch sie wusste sich zu helfen: »Ich hörte auf meinem MP3-Player die Brandenburgischen Konzerte, die kann ich in solchen Situationen nur empfehlen.«
Groth spricht teils beschwingt, wenn auch selten in ganzen Sätzen, als erzähle sie von einem Abenteuertrip. Die Atmosphäre auf der »Mavi Marmara« sei wunderbar gewesen, es habe dort nicht nur keine Waffen, sondern auch keinen Alkohol gegeben, dafür aber viele religiöse Muslime und tief verschleierte muslimische Frauen.

Manche Teilnehmer fragen, ob man sich in der Zusammenarbeit mit der IHH nicht verrannt und sich von zweifelhaften islamistischen Kräften habe instrumentalisieren lassen habe. Doch Groth ist sich sicher, dass sie und ihre Kollegen alles richtig gemacht haben. Ihr zu unterstellen, mit Antisemiten gemeinsame Sache gemacht zu haben, sei »unverschämt«, denn mit Antisemitismus habe all dies nichts zu tun, man dürfe »Regierung und Religion nicht verwechseln«. Und den Begriff »Islamisten«, sagt Groth entrüstet, weigere sie sich zu benutzen, denn der sei »negativ belegt«. Einer Frau aus dem Publikum, die darauf hinweist, dass linke Türken mit der IHH nichts zu tun haben wollten, sagt Groth: »Dass linke Türken da kritisch sind, weiß ich, aber das Free-Gaza-Movement ist ein riesengroßes Bündnis.« Auch mit der Hamas müsse man zusammenarbeiten, »sonst könnte man keine Projekte machen«, schließlich sei die Organisation eine »gewählte Regierung«. Und das »Hilfswerk« IHH sei nichts anderes als eine Art muslimisches »Brot für die Welt«. Alles andere ist in ihren Augen Propaganda der Israelis.
Die sind offenbar überall, jedenfalls in der Imagination Groths und ihres Mannes, der neben ihr sitzt und interveniert, wenn die Fragen allzu kritisch werden. »Uns feindlich gesinnte Mächte«, so Groths Ehemann, hätten verbreitet, Annette Groth sei auf der »Marvi Marmara« umgekommen. »Das ist Teil einer psychologischen Kriegsführung, bei der die Israelis ganz vorne mit dabei sind.« Annette Groth mutmaßt, der Mossad habe Schiffe der Gaza-Flotille manipuliert, das Publikum raunt. Vielleicht unterstütze Israel im Geheimen auch noch immer die Hamas, um »da Unruhe reinzubringen«, spekuliert Groth, denn früher sei der Gaza-Streifen »links« gewesen. Aus dem Publikum hebt eine Person zu einer Frage an und beginnt mit den Worten: »Ich möchte nochmal etwas zur Hamas fragen.« Doch schon beim Stichwort »Hamas« unterbricht Groth und ruft: »Was wollen Sie mir unterstellen?« Sie müsse »vorsichtig sein«, was sie sage, sie wisse ja nicht, wer im Publikum sitze.
Doch anders als bei einer Veranstaltung mit Inge Höger in Leipzig, bei der ein Teil des Publikums den Vortrag störte, bis die Polizei eingriff, gibt es bei Groth in Tübingen keine Zwischenfälle. sondern lediglich kritische Nachfragen. Aber schon die sind ihr zuviel. Etwa die eines Äthiopiers. »Was ist mit den Menschenrechtsverletzungen in Äthiopien?« Groth sei doch Afrika-Expertin, aber zu Äthiopien höre man von ihr nie etwas. Der Vorwurf des Doppelstandards macht Groth etwas unwirsch, über Afrika will sie hier nicht sprechen. Lieber über den Erfolg der Gaza-Flottille.
»Jetzt ist das Thema auf der Tagesordnung, und das soll auch so bleiben bis zum Ende der Blockade«, denn Gaza sei »das größte Freiluftgefängnis der Welt«. Auch in der Uno verändere sich etwas, triumphiert Groth, ganz so, als sei die einseitige Verurteilung Israels nicht schon lange eine der Lieblingsbeschäftigungen der Vereinten Nationen. Stolz verweist Groth auf die einstimmige Erklärung des Bundestags gegen die israelische Blockade. Um der deutschen Israel-Kritik Legitimität und Gewicht zu verleihen, zitiert sie eine israelische Friedenaktivistin, deren Eltern Holocaust­opfer seien. Die habe ihr gesagt: »Gerade von euch Deutschen brauchen wir Hilfe, sonst verliert Israel seine demokratische Grundlage.«

Vielleicht findet die deutsche Gaza-Solidaritätsszene bald israelische Nachkommen von Holocaustopfern, die den Einsatz der Bundeswehr gegen das »faschistische Regime« Israels fordern. Mit dem gewaltlosen Widerstand, den die Gaza-Freedom-Flotilla für sich beansprucht, ist es so eine Sache. »Selbst wenn es diese Zwillen und Eisenstangen oder so etwas gegeben hätte, nach internationalem Recht wäre es gerechtfertigt gewesen, sich damit zu verteidigen, wir hätten sogar das Recht gehabt, uns mit denselben Waffen, sprich Maschinengewehren, zu verteidigen«, sagt Norman Paech bei seinem auf Audiomitschnitten dokumentierten Vortrag. »Nach internationalem Recht wäre sogar die türkische Regierung berechtigt gewesen, ein Kriegsschiff zu senden, um ihrem Schiff zur Hilfe zu kommen.«
Das ist nicht ganz korrekt, da die »Mavi Marmara« nicht unter türkischer Flagge fuhr, doch für manche Unterstützer der Free-Gaza-Bewegung scheint es keine Rolle zu spielen, welche Kriegsschiffe zum Schutz der Blockadebrecher ausrücken sollen, um sich schlimmstenfalls Gefechte mit der israelischen Marine zu liefern. Wenn Staaten in internationalen Gewässern ihre Marine einsetzen, um Schiffskonvois vor Piraterie zu schützen, könne man Flottillen nach Gaza in Zukunft mit Kriegsschiffen anderer Länder eskortieren, schlägt ein Zuhörer vor. »Und im Zweifelsfall knallt man dem faschistisches Regime in Israel eins vor den Latz.« Die Friedensfreunde klatschen. »Eigentlich ja, das ist eine Idee, man könnte die Bundesmarine auffordern, den nächsten Konvoi zu begleiten«, sagt Paech und lacht. Als ihm Kritiker der Gaza-Flottille Anfang der Woche vor einem seiner Vorträge die Mitschnitte seiner Antwort vorspielen, sagt Paech, das sei bloß eine »ironische Antwort« gewesen. Bleibt zu hoffen, dass seine Anhänger sie auch so verstanden haben.
Denn die Idee, den Konflikt vehement zu militarisieren, scheint den Gaza-Unterstützern nicht ganz abwegig. Als jemand bei Paech nachfragt, ob die vor der libanesischen Küste patroullierenden Unifil-Schiffe der Bundeswehr vom Vorfall auf der »Mavi Marmara« unterrichtet gewesen seien, sagt Paech: »Diese Frage stellen wir uns auch.« Man habe bereits beim Bundesverteidigungsministerium angefragt, »ob die nicht eigentlich die ganze Zeit auf ihrem Radarschirm genau gesehen haben, was da vor sich geht«. Nur: Was hätte die Bundesmarine gegebenenfalls unternehmen sollen?