Simone Kellerhoff im Gespräch über die Arbeit der autonomen Hurenorganisation Hydra

»Die meisten sind eben keine Opfer«

Vor 30 Jahren wurde die autonome Hurenorganisation »Hydra e.V.« gegründet, die sich für die Interessen von Sexarbeiterinnen einsetzt und ihnen Beratung anbietet. Seit 1980 hat sich deren Situation verändert. 2002 trat das »Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der Prostituierten« in Kraft, das die rechtliche und soziale Stellung von Prostituierten verbesserte. Doch das Ziel des Vereins, die Entstigmatisierung des Gewerbes, ist auch nach 30 Jahren nicht erreicht. Simone Kellerhoff ist zuständig für Gesundheitsprävention, Frauenhandel und Lobbyarbeit bei Hydra e.V.

Hydra feiert dieses Jahr dreißigjähriges Bestehen. Inwieweit hat sich die gesellschaftliche Sicht auf die Prostitution in den vergangenen 30 Jahren verändert?
Da hat sich einiges verändert. Auch durch das Prostitutionsgesetz, das 2002 in Kraft trat. Es wird auch viel über Prostitution berichtet, es wird mehr darüber gesprochen und es gibt auch mehr Frauen, die an die Öffentlichkeit gehen. Dadurch bekommen die Menschen plötzlich ein Bild von einer Frau, die ganz alltäglich aussieht. Sie sieht aus wie meine Nachbarin oder die Freundin, und diese Frauen sind nicht dumm. Leider ist dieses Bild aber durch den Begriff Menschenhandel, der in der Presse vorwiegend auf die Prostitution angewandt wird, etwas gekippt, obwohl es auch im Baugewerbe und in Diplomatenhaushalten, die sich Hausangestellte halten, Menschenhandel gibt. In der Prostitutionsdebatte wird das Problem des Menschenhandels stark betont, die tatsächlichen Fallzahlen sind aber nicht so hoch, wie suggeriert wird. Die Migrantin, die sich prostituiert, erscheint in der Debatte dann per se als Opfer von Menschenhandel und als fremdbestimmt. Außerdem wird die Rolle der Männer nicht genug beachtet. Berichte über Freier gibt es so gut wie gar nicht. Gesellschaftliche Akzeptanz würde erfordern, dass der gesamte Komplex der Sexarbeit beleuchtet wird und nicht nur die Seite der Sexarbeiterinnen.
Wie kam es 1980 zur Gründung von Hydra?
Die Hurenbewegung begann in Frankreich. Die Frauen, die dort im Sexgewerbe tätig waren, unterlagen starken Repressalien des Staates und starker Stigmatisierung. Es kam zu vielen Gewalttaten gegen Prostituierte, sowohl von Seiten des Staates als auch von Seiten der Zivilgesellschaft, und es gab eine Reihe von Morden an Prostituierten, ohne dass es zu Prozessen kam. Die Prostitution in Frankreich ist auch heute nicht legal. 1975 haben dann 20 Sexarbeiterinnen, wie wir sie heute nennen, in Lyon eine Kirche besetzt, um auf ihre Situation aufmerksam zu machen. Diese Frauen haben dort auch Schutz durch die Kirche gefunden. Dies hat international für viele Presseberichte gesorgt, da die Frauen zum ersten Mal in der Geschichte der Prostitution selbst an die Öffentlichkeit gegangen sind. So kamen die Nachrichten auch nach Deutschland. Im Jahr 1979 trafen sich dann Sozialarbeiterinnen, die sich mit der Thematik beschäftigten, mit einigen Prostituierten in Berlin und sprachen über die Notwendigkeit, eine Selbsthilfeorganisation zu gründen. Ein Jahr später wurde Hydra zunächst als Treffpunkt und Selbsthilfeorganisation von Sexarbeiterinnen gegründet.
Geht es über die Selbsthilfe hinaus bei Hydra auch um ein politisches Ziel?
Primäres Ziel unserer Arbeit ist die Gleichstellung des Sexarbeiterinnen mit anderen Berufsgruppen im Sinne einer Entstigmatisierung des Gewerbes der Prostitution. Auch in Deutschland war die Prostitution lange Zeit nur geduldet. Es gab keine Möglichkeiten für die Frauen, sich sozial abzusichern.
Hydra ist auch als Beratungsstelle für Prostituierte bekannt.
In unserer Arbeit trennen wir zwischen Verein und Beratungsstelle. In den letzten 30 Jahren hat sich die Beratungsstelle von Hydra stark professionalisiert, hier arbeiten sehr professionelle Mitarbeiterinnen, teils Psychologinnen und Sozial­arbeiterinnen, die zum Teil auch selbst Prostitutionserfahrungen besitzen. Der Verein besteht derzeit zu 90 Prozent aus aktiven Sexarbeiterinnen. Die Beratungen sind anonym und kostenlos.
Suchen Sie zur Beratung die Sexarbeiterinnen auch auf? Und wie funktioniert das mit der Kontaktaufnahme?
Wir gehen unangemeldet zu den Adressen, die uns bekannt sind. Dabei kommt es zu unterschiedlichen Reaktionen. Es kann sein, dass wir hineingebeten werden, weil Frauen uns kennen, es kann aber auch sein, dass wir gerade stören, weil hohe Geschäftstätigkeit herrscht. Im letzteren Fall liefern wir dann einfach nur unser Infomaterial ab und vereinbaren, wenn das möglich ist, einen Termin. Es kann auch passieren, dass wir abgelehnt werden. Das hat mit dem Alltag der Frauen zu tun. Nicht alle mögen Hydra. Es gibt Frauen, die sagen, wir haben dieses Prostitutionsgesetz mit ins Leben gerufen, so dass sie Steuern zahlen müssen. Das stimmt aber nicht, sie mussten auch vorher schon Steuern zahlen. Es gibt auch Misstrauen, da viele Frauen uns nicht kennen und die Sex-Etablissements häufig vom Zoll und vom Landeskriminalamt aufgesucht werden. Manchmal sagen die Frauen dann auch zu uns, hier gibt es gar keinen Sex. Damit müssen wir dann leben.
Wird die Beratung der Sexarbeiterinnen durch ihre Stigmatisierung erschwert?
Viele Frauen führen ein Doppelleben. Häufig sind diese Frauen dann nicht so selbstbewusst, offen über ihren Beruf zu sprechen. Sie sagen dann uns gegenüber: »Wir machen ja keinen Sex.« Als Berater einer Randgruppe werden wir selbst ebenfalls zu einer Randgruppe. Es ist in meinem Tätigkeitsbereich wie auch in meinem Privatleben so, dass wir zu einer Projektionsfläche werden. Wir gelten dann in den Augen der Außenstehenden häufig als Expertinnen für Partnerangelegenheiten, als Berater für Sex und alles, was dem Bereich der Prostitution so assoziiert wird. Das setzt Phantasien frei.
Und was stellen sich die Menschen dann vor?
Etwa, dass ich hier durch meine Tätigkeit zur »Sexpertin« werde. Das ist natürlich Quatsch. Zur Phantasie gehört auch, dass die Gesellschaft die Frauen, die in der Prostitution tätig sind, primär als Opfer betrachtet. Dies widerspricht der Realität, weil die große Mehrheit der Sexarbeiterinnen selbstbestimmt handelt, die meisten sind eben keine Opfer. Wenn wir dies öffentlich vertreten, kommt es auch zu Beschimpfungen, weil wir damit gegen Normen des hiesigen Wertesystems verstoßen. In diesem Wertesystem sind wir dann eben auch die Huren und nicht mehr die Heiligen.
Was sind denn die Anliegen der Frauen, die in die Beratungsstelle von Hydra kommen?
Die sind ganz unterschiedlich. Es kommen eigentlich alle Altersgruppen zu uns. Wir nennen unsere Einstiegsberatung deshalb auch Berufsberatung. Dabei gehen wir sowohl auf die rechtlichen Fragen einer Existenzgründung als Sexarbeiterin ein, die ja dann als Freiberuflerin ihr Gewerbe beim Finanzamt anmelden muss, als auch auf Fragen wie Safer Sex. Dabei bemühen wir uns herauszufinden, was die Motivation der Frau ist, um zu sehen, ob sie das, was sie in der Sexarbeit sucht, da auch finden kann. Es gibt auch Motivationen, bei denen wir davon abraten, in die Prostitution zu gehen, etwa wenn es der Frau darum geht, Machtverhältnisse zu verändern, Machtverhältnisse, die sie in ihrer Rolle als Ehefrau oder als Kind als Opfer sexuellen Missbrauchs erlebt hat. Diese Frauen würden in der Prostitution weiter verletzt werden, da sie nicht die Fähigkeiten und Eigenschaften mitbringen, die für eine erfolgreiche Sexarbeit notwendig sind.
Welche Fähigkeiten und Eigenschaften sind denn dafür notwendig?
Der Einstieg würde bedeuten zu sagen: »Ich bin eine Kleinunternehmerin.« So melden sich die Frauen ja auch beim Finanzamt an. Sie und ihr Körper sind ihr Kapital, sie muss für sich sorgen. Das erfordert eine sehr bewusste, betriebswirtschaftliche Herangehensweise. Man sollte wenig Emotionalität mit hineinbringen. Es sollte eine gewisse Leidenschaft für den Beruf vorhanden sein, da die Frauen mit so vielen Männern in Kontakt geraten. In den Bordellen findet nicht maßgeblich Sex, sondern eine kurze Beziehung statt. Die Frauen werden auch als Psychologinnen und Sozialarbeiterinnen gefordert. Sie verkaufen eine Vision von Wellness, wie man es heute nennt, eine Vision des Angenommenwerdens, von Geborgenheit. Die Einstiegsberatung umfasst zwei bis drei Termine, und es kommt vor, dass Frauen hier rausgehen und sagen: »Ich weiß jetzt doch noch nicht, ob ich das verwirkliche.« Der Alltag der Sexarbeiterinnen ist häufig anders als sich das Neueinsteigerinnen vorstellen. Der Großteil der Zeit in Bordellen besteht aus Sitzen und Warten. Die Wirtschaftskrise ist überall. Die Freier, die kommen, suchen sich dann eine Frau aus, und die anderen setzen sich halt wieder hin und warten weiter. Es gibt viele Männer, die Sex ohne Kondom wollen, und dann sind die Frauen gefordert, das aus Gründen der eigenen Sicherheit abzulehnen. Und wenn eine Frau bereits seit drei Tagen kein Geld mehr verdienen konnte, ist es natürlich schwierig, abzulehnen.
Helfen Sie auch Frauen, die den Ausstieg aus der Prostitution suchen?
Wir als Verein bieten eine Umstiegs- und Ausstiegsberatung für solche Frauen an. Ausstieg bedeutet eine völlige Beendigung der Arbeit in der Prostitution, während der Umstieg eine Qualifizierung für eine andere Tätigkeit bedeutet. Wenn dabei eine konkrete Bedrohung der Frauen im Spiel ist, schauen wir erst einmal, wer bedroht, wo bedroht wird und welche Notwendigkeiten sich aus der Situation ergeben. Wir arbeiten in diesem Fall auch mit dem LKA zusammen. Dabei versuchen wir, unsere Interessen zu wahren, wir sind ja nicht die rechte Hand des LKA. So versuchen wir zum Beispiel, die Frau woanders unterzubringen. Die Zeugenschutzprogramme sind leider so schlecht, dass kaum eine Frau es wagt, eine Aussage zu machen. So raten wir auch kaum zu einer Aussage vor Gericht, da wir ein schlechtes Gewissen hätten, wenn wir es täten.
Gibt es denn Drohungen gegen Hydra seitens krimineller Organisationen?
Nein, überhaupt nicht. Wir haben immer wieder mal mit Stalkern zu tun, die häufig Freier sind, die sich in die Frauen verlieben und ihnen dann aus Eifersucht nachstellen. Der eine oder andere dieser Stalker hat dann schon mal Drohungen geäußert, nicht weil wir schlecht mit ihm umgegangen wären, sondern weil wir die Interessen der Frauen vertreten. Wir bieten übrigens auch Freierberatungen an.
Wie viele Mitarbeiterinnen hat Hydra, und wie finanziert sich diese Arbeit?
Wir arbeiten hier zu fünft, und das in Teilzeit. Wir gehen davon aus, dass es in Berlin ca. 700 Prostitutionsstätten gibt. Dazu zählen Bordelle, Sex­kinos, Clubs etc. Und wir beraten auch Personen aus anderen Bundesländern. Angesichts dessen haben wir eine sehr geringe Zahl von Mitarbeiterinnen. Die Finanzierung erfolgt hauptsächlich aus öffentlichen Mitteln. Wir erhalten Gelder von der Senatsverwaltung für Frauen sowie von der für Gesundheit. Vom Senat für Frauen werden wir als Anti-Gewalt-Projekt geführt. Aber in den letzten Jahren wurde ja im sozialen Bereich viel gekürzt, und dies betrifft auch unsere Arbeit, deshalb sind wir zunehmend auf Spenden angewiesen. Es gibt mittlerweile Organisationen, die in Konkurrenz zu uns stehen und eher Gelder erhalten als wir. Deshalb ist finanzielle Unabhängigkeit Voraussetzung für unser weiteres Bestehen. Ich hoffe sehr, dass wir das schaffen.