Massimo Carlotto im Gespräch über den Zustand der radikalen Linken in Italien

»Wir radikalen Linken wurden als Verbrecherbande denunziert«

Massimo Carlotto über die Siege und Niederlagen der radikalen Linken in Italien

Sie betonen immer wieder, dass es Ihnen bei Ihrem Buch nicht darum ging, ein Kapitel Justizgeschichte zu erzählen, das heute den italienischen Jurastudenten als »Extremfall« zur Übung vorgelegt wird. Worum ging es Ihnen dann?
Ich wollte mit Hilfe einer sehr persönlichen Geschichte eine generationenspezifische Erfahrung weitergeben. Wichtig war mir, von der Erfahrung des Exils zu erzählen, von der Flucht von einem Kontinent zum anderen, vor allem aber von einer Generation, die einer unvorstellbar harten Repression ausgesetzt war.
Sie wurden im Januar 1976 eines schweren, aber gewöhnlichen Verbrechens beschuldigt dennoch nach Ihrer Festnahme wie ein poli­tischer Häftling behandelt und in ein Hochsicherheitsgefängnis überführt.
Ich war ein politischer Aktivist der linksradikalen Gruppe »Lotta Continua«, und die An­klage gegen mich war grundsätzlich politisch motiviert. An mir hat man ein Exempel statuiert. Meinem Beispiel folgend wurden dann all die anderen Prozesse in meiner Region, dem italienischen Nordosten, initiiert.
Drei Jahre nach Ihrer Verhaftung wurden am 7.  April 1979 in Ihrer Heimatstadt Padua Hunderte von politischen Aktivisten festgenommen und mit dem Vorwurf, sie hätten den gewaltsamen Umsturz der Staatsordnung geplant, vor Gericht gestellt. Was bedeutete dieser »Sette Aprile« für die linksradikale Bewegung in Italien?
An diesem 7.  April wurde die gesamte außerparlamentarische linke Bewegung kriminalisiert. Viele Aktivisten wurden aufgrund sehr fragwürdiger Anschuldigungen festgenommen. Mein Prozess hatte dazu gedient, uns Linke als böse und gemeingefährlich darzustellen. Der 7.  April war ein Akt der Repression, er beendete eine große und siegreiche Phase der linken Bewegung, die weite Teile des Nordostens kontrolliert hatte. Das war nur möglich aufgrund einer Al­lianz zwischen der ehemaligen Kommunistischen Partei und dem Staatsapparat. Die KPI lieferte damals die Namen der Aktivisten, die verhaftet werden sollten. Es wurden sehr viele in Haft genommen, deren Unschuld erst Jahre später anerkannt wurde, Universitätsprofessoren, Angestellte, Arbeiter, es war ein brutaler Rundumschlag. Dass so viele wahllos ins Gefängnis gebracht und vor Gericht gestellt wurden, hat in der Gesellschaft Angst erzeugt.
Die Staatsanwaltschaft hat sich damals als verlängerter Arm der politischen Repression gegen die linke Bewegung erwiesen. Heute erscheint sie dagegen weiten Teilen der italienischen Opposition als Verbündete im Kampf gegen das korrupte Machtsystem der Mitte-Rechts-Regierung.
Die Linken, die damals die Repression miterlebt haben, machen sich auch heute nichts vor. Wir haben eine extrem kritische Haltung gegenüber dieser justizhörigen Oppositionsbewegung. Vor allem gehen wir davon aus, dass man gesellschaftspolitische Probleme nicht mit der Staatsanwaltschaft lösen kann.
Wir? Auf wen beziehen Sie sich damit?
Auf kleine lokale Gruppen, die jeweils in ihrem Territorium zu bestimmten, oft umweltpolitischen Themen arbeiten. Wir versuchen uns zu vernetzen. Das ist sehr schwierig. Es gibt im Nordosten keine Opposition. Es gibt die Linksliberalen, die Demokratische Partei, die alles macht, nur keine Oppositionsarbeit. Das schwächt uns und stärkt die regierende Rechte. Die Linke hat wirklich eine historische Niederlage erlebt, für alle, die sich in Italien zu den irgendwie Fortschrittlichen zählen, ist das eine schreckliche Phase, denn wir wissen nicht einmal, ob und wann wir uns daraus lösen können.
Heißt das, die radikale Linke hat sich nach der Niederschlagung der Bewegung 1979 nie wieder erholt?
Nein, sie hatte sich erholt und war wieder stärker geworden. Kurz vor dem G8-Gipfel in Genua 2001 gab es in Italien wieder eine große linke, globalisierungskritische Bewegung. Doch in Genua entschied sich der Staat für eine militärische Lösung, er bediente sich der Gewalt wie ein südamerikanisches Militärregime. Das Massaker von Genua, diese dreitägige Aufhebung der bürgerlichen Verfassungsrechte bedeutete das Ende dieser Bewegung.
Der Repressionsapparat, der Sie damals in die Flucht getrieben hat, funktioniert auch ohne antagonistische Bewegung. Gegen Cesare Battisti, der in den siebziger Jahren Mitglied einer bewaffneten linken Gruppe war, läuft bis heute eine Anklage wegen Mordes. Nachdem er jahrelang in Paris politisches Asyl gefunden hatte, sollte er im vergangenen Jahr plötzlich ausgeliefert werden. Zur Zeit lebt er als »Flüchtling« in Brasilien.
Italien ist ein Land, in dem die Illegalität triumphiert, es gibt die Mafia-Organisationen, es gibt ein Heer von korrupten Politikern, und dennoch dient der »Fall Battisti« nach wie vor dazu, nicht nur die Geschichte der linken Bewegung, sondern überhaupt alle Intellektuellen, Schriftsteller und Künstler zu diskreditie­ren, die die heutige Gesellschaft kritisieren. Man benutzt den »Fall Battisti« bis heute, um zu behaupten, Italiens radikale Linke sei eine Verbrecherbande gewesen. Das Problem ist, dass sich diese Meinung durchgesetzt hat. Wir, die radikalen Linken, waren nicht in der Lage, deutlich zu machen, wie sehr wir dazu beigetragen haben, die italienische Gesellschaft zu erneuern.
Eine politische Auseinandersetzung mit den siebziger Jahren findet nicht mehr statt. Der »Fall Carlotto« wurde 1993 durch einen Gnadenakt des damaligen Staatspräsidenten beendet.
Und heute wird in Italien nicht einmal mehr jemand begnadigt. Man will die Leute glauben machen, dass derjenige, der im Gefängnis sitzt, dort bis zum bitteren Ende bleiben muss. Ich habe den Roman auch deshalb geschrieben, weil ich mit dieser Haltung nicht einverstanden bin. Es gibt viele Menschen, die aus vielen Gründen eine Begnadigung verdient hätten, stattdessen aber weiter im Gefängnis sitzen.
Treten Sie deshalb nicht nur für bessere Haftbedingungen, sondern offensiv für ein Recht auf Flucht ein?
Ich trete für das Recht ein, sich der Ungerechtigkeit auf jede erdenkliche Weise zu entziehen. Jeder Mensch hat das Recht, sich zu retten, wenn die Staatsmaschinerie die Individuen zu zermalmen droht.