Polizeigewalt bleibt häufig unbestraft

Aggressiv im Einsatz

Polizisten schlagen im Dienst häufig zu, wie eine aktuelle Statistik über Körperverletzung im Amt belegt. Juristische Kon­sequenzen haben sie kaum zu befürchten.

»Täter unbekannt«, so lautet der Titel eines Berichts, den Amnesty International Anfang Juni veröffentlichte. Anhand von drei Todesfällen und zwölf gewalttätigen Übergriffen wird exemplarisch die »mangelnde Aufklärung von mutmaß­lichen Misshandlungen bei der Polizei« kritisiert. Die Menschenrechtsorganisation hofft nun, mit einer groß angelegten Kampagne zum Thema Polizeigewalt für »mehr Transparenz« und »Verantwortung« bei der Polizei zu sorgen. In den vergangenen fünf Jahren ging Amnesty 869 Beschwerden nach, die über das Verhalten von Po­lizeibeamten eingereicht wurden, 138 Fälle wurden detailliert untersucht. Zu den Fällen, die im Bericht erwähnt werden, gehört auch ein Vorfall, der sich im April 2005 in Berlin ereignete. Damals stürmte ein Sondereinsatzkommando der Polizei die Wohnung einer Familie, um deren 17jährigen Sohn zu verhaften. Der Minderjährige wurde verdächtigt, einen bewaffneten Raubüberfall auf einen Supermarkt begangen zu haben. Bei seiner Verhaftung erlitt er zahlreiche Verletzungen im Gesicht, an Kopf und Oberkörper und den Nieren. Der Betroffene gab an, dass die Beamten ihn mit Schlägen und Tritten traktiert hätten, während er im Bett gelegen habe. Das Verfahren gegen die Polizisten wurde eingestellt, sie hatten vor Gericht übereinstimmend ausgesagt, der junge Mann sei gegen das Schutzschild eines Beamten gelaufen.

Häufig kommt es gar nicht erst zu einer Gerichtsverhandlung. Viele Ermittlungen »verlaufen im Sande«, sagte Monika Lüke, Generalsekretärin von Amnesty International in Deutschland, als sie in Berlin die Kampagne gegen Polizeigewalt vorstellte. Amnesty fordert die Einführung einer allgemeinen Kennzeichnungspflicht, unabhängige Ermittlungsbehörden und eine Videoüberwachung von Polizeidienststellen. In Großbritannien und Kanada gehören solche Maßnahmen schon lange zum Standard. Die aktuellen Statistiken über Po­lizeigewalt legen nahe, dass solche Maßnahmen zum Schutz der Bürger auch in Deutschland an­gebracht sind.

Seit dem 1. Januar 2009 sind die Staatsanwaltschaften verpflichtet, Ermittlungen, die gegen Polizisten wegen des Vorwurfs der Gewaltausübung im Amt aufgenommen wurden, gesondert zu erfassen. Ende Juni wurden diese Zahlen nun zum ersten Mal vom Statistischen Bundesamt veröffentlicht. Demnach gab es im Jahr 2009 insgesamt 2 980 Ermittlungsverfahren gegen Polizisten wegen Tötungsdelikten, Gewaltausübung und Amtsmissbrauch. In dieser Statistik werden jedoch nur die Ermittlungen aufgeführt, die sich gegen namentlich bekannte Personen richten, wie das Amt auf Nachfrage bestätigte. Ist der Polizist hingegen nur als Mitglied einer Einheit, aber nicht persönlich identifizierbar, richten sich die Ermittlungen gegen »unbekannt«. »Nicht selten scheitern Verfahren daran, dass kein Täter ermittelt werden kann – besonders bei Einsätzen in geschlossenen Einheiten«, betonte Monika Lüke.
Man kann noch aus einem weiteren Grund von weitaus mehr Polizeiübergriffen ausgehen als denjenigen, die in der Statistik erfasst werden. In vielen Fällen kommt es erst gar nicht zu einer Anzeige. Betroffene, die bei der Polizei gegen die Polizei Anzeige erstatten wollen, berichten häufig, dass sie von den Beamten darauf hingewiesen wurden, dass ihre Klage mit großer Wahrscheinlichkeit eine Verleumdungsklage nach sich ziehen dürfte. Ein Fall aus Hamburg zeigt dies exemplarisch: Franca L. wurde während einer Antirepressionsdemonstration festgenommen. Bei der Verhaftung wurde ihr mit zwei Faustschlägen das Nasenbein gebrochen. Das Verfahren gegen Franca L. wegen versuchter Gefangenenbefreiung wurde eingestellt, ebenso wie die Ermittlungen gegen die Polizisten wegen Körperverletzung im Amt. Zwei Jahre später wurde der Betroffenen ein Strafbefehl wegen des »Erhebens falscher Verdächtigungen« gegen die Beamten zugestellt. In der veröffentlichten Statistik finden sich keine Informationen darüber, wie die über 3 000 Ermittlungsverfahren, die im vergangenen Jahr gegen Polizisten aufgenommen wurden, ausgegangen sind. Nicht ohne Grund, schließlich kommt es in den seltensten Fällen zu Verurteilungen. Im Schnitt werden 95 Prozent der eingeleiteten Verfahren von den Staatsanwaltschaften eingestellt, zu diesem Ergebnis kam im Jahr 2007 eine unabhängige Studie. Offizielle Zahlen bestätigen dies. Im Jahr 2008 kam es zu 32 Verurteilungen wegen Körperverletzung im Amt, ermittelt wurde in 2 314 Fällen. Während Kritiker aufgrund dieser Zahlen die gebotene Unabhängigkeit bei den ermittelnden Behörden in Frage stellen, wertet der Vorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt, sie als Beweis für die Unhaltbarkeit der Vorwürfe: »Gewalt durch Polizisten ist stets Reaktion auf Angriffe auf die Einsatzkräfte.«
Wäre dem so, müssten die Beamten des Berliner SEK wohl bis heute keine Kennnummern tragen. Auf der Suche nach Hooligans hatten Polizisten einer Einheit im August 2005 die Berliner Diskothek Jeton gestürmt und dabei über 20 Unbeteiligte zum Teil schwer verletzt. Das Land zahlte zwar einigen Opfern Schadensersatz, wegen der Gesichtsmasken konnte jedoch kein Beamter für die Prügelorgie verurteilt werden. Als Folge dieses Einsatzes tragen Berliner SEK-Beamte seit Juni 2008 eine individuelle fünfstellige Kennnummer – bisher als einzige in der Republik. Die Erfahrung sei durchweg »positiv«, hieß es dazu aus dem Berliner Polizeipräsidium. Gefordert wird die individuelle Kennzeichnungspflicht für Polizisten nicht nur von Amnesty International. Auf Antrag der Grünen und der Linkspartei mussten sich bereits mehrere Landtage mit dieser Frage beschäftigen, Ende Juli hat auch der Deutsche Anwaltverein (DAV) die Forderung von Amnesty unterstützt. Berlins Polizeipräsident Dieter Glietsch möchte noch in diesem Jahr Namens- bzw. Nummernschilder verpflichtend einführen, bisher scheiterte er am Widerstand des ­Personalrats.

Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) sperrt sich vehement gegen die Forderung. Die Kennzeichnungspflicht diskriminiere alle Einsatzkräfte und sei ein »Kniefall vor denen, die Gewalt gegen ›Bullen‹ befürworten«, kritisiert die Berliner Sektion der GdP in einer Stellungnahme und nennt eine besondere »Gefährdungslage von links«. Eine aktuelle Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen kommt zu dem Ergebnis, dass nur acht Prozent der Gewalt gegen Polizisten bei Demonstrationen ausgeübt wird. Statistiken sagen oft wenig über Hintergründe und Zusammenhänge aus, dennoch lohnt sich ein Vergleich: Im vergangenen Jahr wurden 849 vermeintlich links motivierte Körperverletzungen erfasst, die Hälfte richtete sich gegen Polizeibeamte. Die Bekanntgabe der Zahlen hatte zu einer Diskussion über linke Gewalt geführt, Politiker forderten Programme gegen Linksextremismus. Mit einem vergleichbaren Engagement angesichts der 1 605 von Polizisten verübten Körperverletzungen wird man kaum rechnen dürfen. Die von Amnesty und anderen Bürgerrechtsgruppen geforderten Maßnahmen erhöhen die Chance, polizeiliche Übergriffe und deren häufige Straffreiheit zu bekämpfen. Dabei wird der Staat jedoch nur dazu aufgefordert, nachprüfbar die eigenen Gesetze einzuhalten. Die legale alltägliche Gewalt, die im Rahmen dieser Gesetze ausgeführt wird, ist damit noch gar nicht angesprochen.