Neue Ermittlungen im Mordfall Pasolini

Anmerkungen zur Ermordung Pasolinis

Die genauen Umstände des Mordes an Pier Paolo Pasolini wurden nie vollständig aufgeklärt. Jetzt sind die Ermittlungen wieder aufgenommen worden. Catrin Dingler hat in Rom den Anwalt getroffen, der die erneute Untersuchung beantragt hat

Im Norden Roms erstreckt sich längs des Tiber-Ufers das Nobelquartier Prati. Unweit der Piazza Mazzini unterhält Guido Calvi dort in einer weitläufigen Bürgerwohnung seine Kanzlei. Als junger Anwalt hat er die Familie des ermordeten Pier Paolo Pasolini vertreten und seither nicht aufgehört, dafür zu kämpfen, dass der Fall aufgeklärt wird. Dass es sich um einen typischen Mord im Homosexuellen-Milieu gehandelt habe, wie das Gericht geurteilt hatte, wurde von ihm stets bezweifelt. Mit der Verurteilung des Strichers Pino Pelosi, der die Tat gestanden und später widerrufen hatte, mochte er sich nicht abfinden. »Die, die sich diese Geschichte ausgedacht haben, waren wirklich talentiert. Ihnen ist ein Meisterstück der Mystifikation gelungen.« Die offizielle Darstellung der Umstände von Pasolinis Ermordung wurde deshalb lange nicht angezweifelt: Dass er in der Nacht zum 2. November 1975 in Ostia von dem damals 17jährigen Stricher jungen brutal zusammengeschlagen und dann mit dem eigenen Auto totgefahren worden sein sollte, passte zum Bild, das sich in der Öffentlichkeit über den homosexuellen Dichter etabliert hatte. Calvi ist ein untersetzter Mann. Er lässt sich in einen der schweren Ledersessel fallen, die in seinem Büro stehen. Es ist kurz nach Mittag, eigentlich viel zu früh für eine italienische Verabredung. Aber der Anwalt ist weniger konventionsbewusst, als seine Adresse im Nobelviertel vermuten lässt. »Pino Pelosi«, stellt er zu Beginn unseres Gesprächs klar, »hat von Beginn an gelogen. Der Richter hat ihn als Mörder verurteilt, aber schon damals war das Gericht zu dem Schluss gekommen, dass noch weitere Personen an der Tat beteiligt gewesen sein mussten.« Ein Verfahren gegen Unbekannt wurde allerdings nie eröffnet. »Ich habe immer die Auffassung vertreten«, betont Calvi, »dass der Mord an Pasolini ein politisches Verbrechen war. Soll heißen: Jemand wollte, dass diese Stimme verstummt. Das war die Absicht derjenigen, die diesen Mord wollten.«

Pier Paolo Pasolini war ein Intellektueller, der allen politischen Fraktionen unbequem war. Die Kommunisten hatten ihn bereits Ende der vierziger Jahre infolge einer anonymen Anzeige, die ihn der Pädophilie beschuldigte, aus der Partei ausgeschlossen. Während der sechziger Jahre wurden seine Bücher und Filme von Skandalen begleitet: Neofaschistische Schlägertrupps überfielen seine Kinopremieren in Rom, christdemokratische Politiker verklagten ihn wegen Amtsbeleidigung, die katholische Presse bezichtigte ihn der Blasphemie.

Pier Paolo Pasolini war ein Intellektueller, der allen politischen Fraktionen unbequem war. Die Kommunisten hatten ihn bereits Ende der vierziger Jahre infolge einer anonymen Anzeige, die ihn der Pädophilie beschuldigte, aus der Partei ausgeschlossen. Während der sechziger Jahre wurden seine Bücher und Filme von Skandalen begleitet: Neofaschistische Schlägertrupps überfielen seine Kinopremieren in Rom, christdemokratische Politiker verklagten ihn wegen Amtsbeleidigung, die katholische Presse bezichtigte ihn der Blasphemie. Ein Jahr vor seinem Tod veröffentlichte Pasolini auf der Titelseite der größten italienischen Tageszeitung, dem Corriere della Sera, sein berühmt gewordenes Pam­phlet »Ich weiß«. Diese provokative Anklage gegen die politische und gesellschaftliche Führungsschicht Nachkriegsitaliens enthält auch einen Verweis auf seinen Fragment gebliebenen Roman »Petrolio« (Erdöl): »Ich weiß. Ich weiß die Namen der Verantwortlichen für das, was ›Staatsstreich‹ genannt wird. Ich weiß all diese Namen und kenne alle Vergehen, (…) derer sie sich schuldig gemacht haben. Ich weiß. Aber ich habe keine Beweise. Nicht einmal Indi­zien. Ich weiß, weil ich ein Intellektueller bin, ein Schriftsteller, der versucht, nachzuvollziehen, was passiert; der sich vorzustellen vermag, was man nicht weiß und was verschwiegen wird. All das gehört zu meinem Beruf und zur Begabung, die diesen Beruf ausmacht. Ich denke, es ist nur schwer möglich, dass ich mit meinem ›Romanprojekt‹ falsch liege.« Der Anwalt zitiert die Zeilen des Pamphlets aus dem Stegreif. Dann fügt er hinzu: »Ich glaube, Pasolini hatte mehr in der Hand. Ich glaube, dass er, als er ›Ich weiß‹ schrieb, tatsächlich einige Dinge wusste.« Anfang der siebziger Jahre hatte Pasolini mit den ersten Skizzen zu einem monumentalen Projekt begonnen. Das auf 2 000 Seiten angelegte Buch konnte er nicht zu Ende bringen. Nach seinem gewaltsamen Tod im November 1975 fand man nur knapp ein Drittel des geplanten Großwerks in seinem Nachlass. Auf Wunsch der Erben wurde »Petrolio« erst 1992 veröffentlicht. Das Romanfragment ist in fortlaufend nummerierte »Anmerkungen« unterteilt. Einige dieser »Anmerkungen« beschäftigen sich, kaum verschlüsselt, mit dem Tod des Vorsitzenden des ehemals staatlichen Erdölunternehmens ENI, Enrico Matteis. Pasolini nennt ihn in »Anmerkung 22« Ernesto Bonocore. Mattei war einer der angesehensten Industriellen im Nachkriegsitalien. Als 1962 sein Privatjet in der Luft explodierte, wurde der Vorfall unverhältnismäßig schnell als Unfall abgetan. Erst vor wenigen Jahren konnte nachgewiesen werden, dass Mattei einem Anschlag zum Opfer gefallen war. Die Hintergründe des Attentats wurden jedoch bis heute nicht geklärt. Im Roman skizziert Pasolini die enge Verflechtung der norditalienischen Großindustrie mit der christdemokratischen Partei und beschreibt insbesondere die Geschäftsverbindungen von Matteis Nachfolger Eugenio Cefis als »das sogenannte Imperium des Aldo Troya«. Von »Anmerkung 21« ist nur das Deckblatt erhalten. Es trägt die Überschrift »Blitzartige Beleuchtung der ENI«. Schon immer gab es die Vermutung, dieses verschollene Kapitel enthalte Hinweise auf die politisch Verantwortlichen für den Tod von Mattei, denn in der anschließenden »Anmerkung 20–30« zeichnete Pasolini ein Diagramm der wichtigsten italienischen Machtblöcke und beschriftete sie mit Klarnamen. Der Name des neuen ENI-Chefs, Eugenio Cefis, steht neben den Namen hochrangiger Politiker. So nennt Pasolini den langjährigen Ministerpräsidenten Giulio Andreotti. Gleichzeitig gab es immer auch Zweifel, ob von der ominösen »Anmerkung 21« wirklich je mehr als das Deckblatt existierte. Umso größer war deshalb die Aufregung, als ausgerechnet der italienische Senator Marcello Dell’Utri, ein Vertrauter Berlusconis, im März dieses Jahres ankündigte, das verschollen geglaubte Kapitel sei ihm zum Kauf angeboten worden. Er sprach von einem knapp 80seitigen Manuskript, das über einige »Mysterien« der italienischen Nachkriegsgeschichte und über den Tod des Schriftstellers Aufschluss geben könnte.

Rechtsanwalt Guido Calvi beantragte daraufhin bei der römischen Staatsanwaltschaft, die Untersuchungen im Mordfall Pasolini wieder aufzunehmen. Dem Antrag wurde stattgegeben. 35 Jahre nach dem Tod des Autors erfährt somit auch sein posthumes Hauptwerk neue Aufmerksamkeit. Für Calvi steht fest: »Wenn dieses Kapitel wirklich existiert, dann ist es von außerordentlichem Interesse. Denn sicher ist doch: Wenn man dieses Kapitel hat verschwinden lassen, dann wird es wohl unsagbare Dinge enthalten, die nicht veröffentlicht werden dürfen.« Der Anwalt ließ sich deshalb im März die Gelegenheit zur Wiederaufnahme des Verfahrens nicht entgehen, schließlich hätte das Kapitel Aufschluss über die Hintermänner der Ermordung Pasolinis liefern können. Doch Ende Juli erklärte Dell’Utri vor dem zuständigen Staatsanwalt, das Manuskript wie auch der Anbieter seien verschwunden, und leider könne er sich nicht einmal mehr an den Namen des Mannes erinnern. Der Anwalt sitzt gelassen in seinem Sessel, in der Regalwand hinter seinem Rücken reihen sich Gerichtsakten, er weiß, dass er Geduld braucht. »Wir müssen einen Schritt nach dem anderen machen.« Immerhin wurden nun wieder alle Beweisstücke von einst aus der Asservatenkammer geholt, um sie mit den neu­esten Analysetechniken zu untersuchen. Vielleicht führen DNA-Spuren zu weiteren Tätern und diese zu den Auftraggebern.

Die Annahme, Pasolinis Ermordung habe politische Hintergründe, galt lange als Verschwörungstheorie. Pasolini bemerkt in »Petrolio«, dass er sich bei der Darstellung Troyas wie ein »Detektiv« habe verhalten müssen: »Irgendwie bin ich damit fertig geworden, und das ist es, was ich herausbekommen konnte.« Nur wenige Jahre nach seinem Tod gelang es der Staatsanwaltschaft, noch wesentlich mehr über die korrupten und kriminellen Machenschaften der politisch-wirtschaftlichen Führungsspitze Italiens herauszubekommen: Zuerst flog in den achtziger Jahren die Geheimloge P2 auf, Anfang der neunziger Jahre, zeitgleich mit dem Erscheinen von »Petrolio«, enthüllte die Mailänder Staatsanwaltschaft den Korruptions- und Partei­spenden­skandal Tangentopoli, und der von Pasolini bekämpfte christdemokratische Machtapparat brach auseinander. Anders als zu Lebzeiten des Autors werden inzwischen auch die vielfältigen Verbindungen der Politik zur Mafia untersucht. Um die Zusammenarbeit von Teilen des Staatsapparats mit der sizilianischen Cosa Nostra ging es dieses Frühjahr in einem Berufungsverfahren, dem sich ausgerechnet jener Mann zu stellen hatte, der behauptete, die verschollene »Anmerkung 21« sei aufgetaucht. Drei Monate später wurde Marcello Dell’Utri zu sieben Jahren Haft wegen externer Unterstützung der Mafia verurteilt – zwei Jahre weniger als in der ersten Instanz. War Dell’Utris Ankündigung nur eine Drohung? Calvi zuckt mit den Schultern, an solchen Spekulationen beteiligt er sich nicht.

Er möchte den Mordfall Pasolini aufklären. Auch ohne die »Anmerkung 21« laufen die Ermittlungen weiter.