Ein Abzug aus Afghanistan wäre ein Sieg für den globalen Jihadismus

Barbarei wird belohnt

Je mehr Zivilisten die afghanischen Taliban töten, desto größer scheint die Bereitschaft zu werden, mit ihnen zu verhandeln.

Erstsemester der Gesellschaftswissenschaften lernen, dass Politik sich in einem komplizierten Spannungsfeld von widersprechenden Interessen und moralischen Ansprüchen bewegt. Verfolgen Außenpolitiker Interessen, die ethischen Imperativen allzu offen widersprechen, wird ihnen Zynismus vorgeworfen. Dominieren dagegen die hehren Ziele über die Interessen, gilt ein Politiker als naiv. Bislang fehlt der politischen Theorie jedoch ein Begriff, mit dem eine Politik beschrieben werden könnte, die sich weder von Interessen noch von Moral leiten lässt.
Wenn etwa der Grüne Jürgen Trittin, dessen Regierung 2001 die Entsendung von Bundeswehrsoldaten nach Afghanistan vorantrieb, nun fordert, man müsse mit Taliban-Führern wie Mullah Omar verhandeln und die Taliban an der Macht beteiligen, liegt ein solcher Fall vor. Die Forderung ist zynisch, lässt aber auch kein außenpolitisches Interesse erkennen. Wie sich eine Machtbeteiligung oder ein Sieg der Taliban auswirken würden, wird von den Befürwortern der Verhandlungen gar nicht erst erörtert.

Nicht nur der SPD-Politiker Kurt Beck unterstützt Trittins Vorschlag. Auch »zivilgesellschaftliche Akteure«, die sich gerne als das gute Gewissen der Nation gerieren, stimmen in den Chor ein. Nachdem die Taliban neun Mitglieder eines internationalen Ärztetams massakriert hatten, kam von den IPPNW (»Ärzte in sozialer Verantwortung«) nicht ein Wort der Solidarität mit den ermordeten Kollegen. Stattdessen forderte man den Abzug der Bundeswehr und »die Aufnahme von Friedensverhandlungen mit den Aufstän­dischen«. Naivität kann man den IPPNW nicht vorwerfen, nur Tage zuvor hatten sie selbst in einer anderen Erklärung diese »Aufständischen« beschrieben: Es handele sich um eine Front »aus diversen Taliban-Kräften, al Qaida und pakis­tanischen Extremisten und dem pakistanischen Geheimdienst als Hintergrundakteure«.
Je größer die Gefahr wird, dass der Einsatz in Afghanistan scheitert, desto lauter werden die Stimmen derer, die sich eigentlich um außenpolitische Interessen wenig kümmern müssten und stattdessen ethischen Überlegungen den Vorrang geben könnten. Einer kürzlich veröffentlichten UN-Studie zufolge stieg die Zahl getöteter afghanischer Zivilisten in den vergangenen Monaten dramatisch an. Verantwortlich dafür seien hauptsächlich die Taliban. Wer gezielt Zivilisten tötet, ist ein Kriegsverbrecher, so lernte man bislang. Nicht so in Afghanistan. So beeilte sich der Sondergesandte der UN Staffan de Mistura zu erklären: »Wenn sie (die Taliban) die Zukunft Afghanistans mitgestalten wollen, können sie dabei nicht über die Leichen so vieler Zivilisten gehen.«
Längst also hat man sich mit der Barbarei der Taliban abgefunden, únd den Schuldigen hat man auch schon ausgemacht. »Unter dem Druck einer größeren Zahl von ausländischen Soldaten und einer Großoffensive im Süden des Landes haben die Aufständischen offenbar einige ihrer Prinzipien über Bord geworfen«, kommentierte die NZZ den Bericht der UN.

Die Bereitschaft, gegen grundlegendste ethische Maximen zu verstoßen, nimmt offenbar mit ­jedem hingemetzelten Zivilisten zu. Denn auch Trittin und de Mistura dürften wissen, dass Verhandlungen mit den Taliban nichts als eine Farce sein werden. Weder fühlen diese sich an Verein­barungen gebunden, wie sich bei den Bemühungen um einen Waffenstillstand in Pakistan zeigte, noch sind sie bereit, über ihre Prinzipien zu verhandeln. Ihre Vorstellung von der Durchsetzung der Sharia in einem islamischen Kalifat steht für sie nicht zur Debatte.
Man mag sich die Folgen eines verfrühten Abzuges aus Afghanistan für die dortige Zivilbevölkerung nicht ausmalen, ebensowenig die geopolitischen Konsequenzen etwa für die Zukunft Pakistans. Auch möchte man nicht daran denken, welchen Sieg dies für den globalen Jihadismus bedeuten würde, der dann zum nächsten Schlachtfeld übergehen könnte.
Wer jetzt mit den Taliban verhandeln will, deren Barbarei also letztlich verteidigt oder doch zumindest als Teil der zukünftigen Ordung Afghanistans akzeptiert, hat jeden Anspruch verspielt, in der Außenpolitik noch so etwas wie ethische Kategorien zu verteidigen. Dies gilt für Politiker in gleichem Maße wie für NGO. Denn Afghanistan droht nicht verloren zu gehen, weil ein militärischer Sieg nicht möglich wäre. Wenn beispielsweise, wie es in Nordafghanistan der Fall ist, knapp 1 000 Isaf-Soldaten und 800 lokale Polizisten in einem Gebiet von der doppelten Größe Bayerns auf den Straßen für Sicherheit sorgen sollen, sind sie zum Scheitern verurteilt.

Von einer militärischen Überlegenheit des Gegners kann also nur gesprochen werden, weil viel zu wenige Soldaten mit einem unklaren Mandat stationiert sind. Seit Jahren fehlt es an Konzepten und Ideen, was man nun eigentlich wie in Afghanistan erreichen will. Dass es angesichts der wachsenden Stärke der Taliban einen Rückzug ohne drastische Konsequenzen nicht geben kann, ist allen Beteiligten indessen nur allzu bewusst. In vielen Kriegen war es möglich zu verlieren, ohne dabei seine erklärten politischen Grundsätze über Bord werfen zu müssen. Ein Scheitern in Afghanistan aber scheint nur um den Preis einer Kapitulation zu haben zu sein, die grundsätzlich in Frage stellen würde, was einst als west­liche Werte bezeichnet wurde.
Zahlreiche Stellungnahmen aus der letzten Zeit zeigen in erschreckender Weise, wie willig man sich auf diese Kapitulation schon jetzt vorbereitet. Nichts anderes verbirgt sich hinter Petitionen wie dem erst kürzlich vom deutschen Pen-Club in Zusammenarbeit mit Organisationen der Friedensbewegung lancierten Aufruf, der einen sofortigen Abzug der Truppen fordert. Das solche Aufrufe flankierende Gerede vom zivilen Wiederaufbau, den man statt militärischer Einsätze zu fördern habe, dient lediglich zur Beruhigung des eigenen Gewissens. Einen Wiederaufbau wird es unter den Taliban noch weniger geben als unter der korrupten und unfähigen Regierung Hamid Karzais.