Der Euro und die deutsche Politik in Europa

Entwicklung nach Plan

Deutschland hat das Projekt Europa praktisch vollkommen okkupiert. Die Finanzkrise hat offenbart, wie viel Macht die deutsche Regierung in der EU tatsächlich hat – und wie nationalchauvinistisch sie damit umgeht.

Die Jungle World ist vermutlich die einzige Zeitung, die sich den Luxus leistet, einmal im Jahr eine Ausgabe in einem anderen europäischen Land zu produzieren. Auf der ersten dieser Reisen diskutierten einige ihrer Mitarbeiter in Kopenhagen mit dänischen EU-Gegnern über den Euro. Die Befürworter argumentierten damals, die gemeinsame Währung sei eine Möglichkeit, Deutschland an die kurze Leine zu nehmen und in europäische Strukturen einzubinden. Anderenfalls drohe die Fortsetzung des deutschen Sonderweges. Die dänischen Euro-Gegner erklärten hingegen, dass nicht Deutschland europäischer, sondern Europa deutscher werden würde. Der Euro sei kein Einbindungsinstrument, sondern eine Möglichkeit für Deutschland, um seine Interessen besser durchzusetzen.
Zwölf Jahre später muss man leider konstatieren, dass es die skeptischen Dänen offenbar besser wussten. Deutschland bewegt sich heute wieder auf einem ökonomischen Sonderweg, und zwar nicht trotz, sondern wegen der gemeinsamen Währung.

Von Beginn an waren die europäische Integration, der Abschied von der D-Mark und die Euro-Einführung kein deutsches Zugeständnis wegen der Wiedervereinigung oder gar eine Art Ablass für die Nazi-Vergangenheit. »Wenn wir für die Einigung Europas und die EU eintreten, praktizieren wir nicht idealistische Selbstlosigkeit, sondern verfolgen eigene praktische Interessen«, hatte der damalige Außenminister Klaus Kinkel (FDP) bereits kurz nach der Wende unmissverständlich erklärt.
Gehandelt wurde aus der Einsicht, dass ein gemeinsamer Währungsraum für die wirtschaftlichen Interessen Deutschlands dienlicher sei als die Träume der D-Mark-Nostalgiker. Der Preis, den die Deutschen für die neue Währung verlangten, war dennoch äußerst hoch: Die Mitglieder der Euro-Zone mussten die deutsche Stabilitätspolitik akzeptierten. Seitdem wird die Währungspolitik nach dem Muster der Bundesbank betrieben, auch wenn sich Name und Ort geändert haben. Dass durch die »Abschaffung der heimlichen Leitwährung D-Mark« eine Art »europäische Regulierung« eingeführt wurde, wie Jürgen Trittin es formuliert (Jungle World 29/2010), ist allenfalls als frommer Wunsch zu verstehen.
Eine Zeitlang schienen alle damit zufrieden zu sein. Die D-Mark, »die Atombombe der Deutschen«, wie sie der französische Staatspräsident François Mitterrand noch bezeichnet hatte, hatte ausgedient. Stattdessen profitierten nun alle von der starken Wirtschaftsmacht. Notorische Schuldner wie Italien oder Griechenland erhielten plötzlich Kredite zu ähnlich günstigen Konditionen wie die sparsamen Deutschen.
In vielen Staaten der Euro-Zone führte die neue Währung daher zunächst zu einem Wachstumsschub, von dem später sogar noch die östlichen Beitrittsländer profitierten. In Griechenland und Portugal stiegen zwar die Haushaltsdefizite, doch die Geschäfte florierten. Für die meiste Euro-Länder begannen die guten Jahre: Das billige Geld beflügelte den Konsum, Straßen und Flughäfen wurden ausgebaut, Städte renoviert. Viele Staaten verzeichneten zweistellige Lohnzuwächse, teilweise bis zu 100 Prozent, wie etwa in Griechenland. Heutige Pleitekandidaten wie Spanien sorgten mit fulminanten Wachstumsraten für Furore.

In seiner ersten Phase hat der Euro also alles andere als eine neoliberale Wende ausgelöst – obwohl dies doch die Absicht der Maastrichter Kriterien gewesen war. Nur in Deutschland wählte ausgerechnet eine rot-grüne Regierung einen anderen Weg. »Es gibt kein Recht auf Faulheit«, postulierte der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) und machte damit allen klar, wohin die Reise gehen würde. Bereits seit Anfang der neunziger Jahre waren in Deutschland die Reallöhne kaum gestiegen. Nun wurde auch noch der Niedriglohnsektor kräftig ausgebaut. Heute arbeitet jeder fünfte Beschäftigte, rund 6,55 Millionen Menschen, in Billigjobs – ein Spitzenwert in Europa. Unter der nachfolgenden Großen Koalition verschärfte sich diese Entwicklung: Zwischen 2004 und 2008 nahmen die Reallöhne sogar ab, obwohl es einen Konjunkturaufschwung gab. Eine einmalige Entwicklung in der Bundesrepublik, vermutlich in ganz Europa. Dass der Begriff Neoliberalismus trotzdem keinen rechten Sinn mehr ergibt, zeigte sich spätestens im Laufe der Finanz- und Wirtschaftskrise, als wiederum ausgerechnet eine liberal-konservative Regierung ein Konjunkturprogramm nach dem anderen auflegte.
Die Finanzkrise markierte auch den großen Einschnitt in der kurzen Geschichte des Euro. Sie demonstrierte dramatisch, wie unterschiedlich sich die Währungszone entwickelt und wer hier tatsächlich das Sagen hat. Die plötzliche Erkenntnis, dass Griechenland faktisch pleite war, führte zu einer Kettenreaktion. Auf den Finanzmärkten galten nun alle Euro-Staaten mit hohen Defiziten als potentielle Kandidaten für einen Staatsbankrott. Kredite gab es, wenn überhaupt, nur mit exorbitanten Risikoaufschlägen.
Die extreme Lage ließ nur zwei Möglichkeiten zu: Einerseits bestand die Option, die extremen Unterschiede im Außenhandel und bei den Löhnen in der Euro-Zone abzubauen, weil diese Unterschiede wesentlich zu der katastrophalen Situation beigetragen hatten. Oder aber man zwang die jeweiligen Länder bei Strafe des ökonomischen Untergangs dazu, die öffentlichen Leistungen, Löhne und Sozialhilfe dramatisch zu senken, um so ihre Wettbewerbsfähigkeit wieder herzustellen.
Indem Deutschland gegen die überwältigende Mehrheit der Euro-Länder klar den zweiten Weg bevorzugte, brachte es die hoch verschuldeten Staaten in eine höchst prekäre Situation. Eine Rettung gibt es nur zu den von der Bundesregierung formulieren Konditionen.

Damit wurde der Euro in gewisser Weise noch einmal neu erfunden – zu Bedingungen, die wesentlich schärfer waren, als es die Maastrichter Kriterien je hatten vermuten lassen. Damals fabulierte Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU), die europäische Einigung sei eine Frage von Krieg oder Frieden. Zwanzig Jahre später rollen zwar keine Panzer, dafür führt Deutschland faktisch einen Wirtschaftskrieg gegen die meisten Staaten der Euro-Zone. Die Regierung in Berlin hatte auf dem Höhepunkt der Krise klar gemacht, dass sie bereit ist, die gemeinsame Währung aufs Spiel zu setzen, wenn man ihren Vorgaben nicht folgen würde. »Europa hat heute seine Augen auf uns gerichtet; ohne uns, gegen uns kann es keine und wird es keine Entscheidung geben«, erklärte Bundeskanzlerin Angela Merkel bei der entscheidenden Sitzung im Bundestag über das Rettungspaket für Griechenland.
Diese Haltung ist für die verschuldeten Euro-Staaten vor allem deshalb so verheerend, weil die Finanzmärkte Deutschland seitdem zum Maß aller Dinge erklärten. Nun werden alle anderen an den Maßstäben gemessen, die in Deutschland gelten: Haushaltsdisziplin, Lohnentwicklung, Sparprogramme – nur wer sich an die Vorgaben aus Berlin hält, gilt noch als kreditwürdig. Selbst die französische Regierung, die sich lange Zeit alternativ zur deutschen zu profilieren versuchte, ist gezwungen, diesen Weg mitzugehen, um nicht ihre eigene Reputation bei den Rating-Agenturen zu verlieren.
Trotz massiver Kritik aus Europa und den USA hält die Bundesregierung an ihrem ökonomischen Sonderweg fest. Die einseitige Exportorientierung stellt sie nicht in Frage: Mittlerweile führen deutsche Unternehmen wieder mehr Waren aus als alle anderen Euroländer zusammen. Nach wie vor lehnt man in Berlin jede Regulierung der Europäischen Zentralbank ab, auch wenn während der Griechenland-Krise einige Zugeständnisse gemacht werden mussten. Eine gemeinsame Wirtschaftsregierung, die für einen sozialen Ausgleich zwischen den disparaten Ökonomien sorgen könnte, wird es mit ihr auf absehbare Zeit nicht geben.
Sie nimmt bewusst in Kauf, dass viele Euro-Länder in den kommenden Jahren unter einer kata­strophalen Wirtschaftsentwicklung werden leiden müssen. Die fast gleichgültige Haltung der deutschen Regierung ist damit zu erklären, dass sie sich mittlerweile anderweitig orientiert. Die Sorge einiger französischer Intellektueller, Deutschland könnte sich von der EU abwenden und zusammen mit Russland einen neuen Wirtschaftsblock bilden, mag zwar übertrieben erscheinen, doch tatsächlich blickt man in Berlin immer öfter in Richtung der Boomregionen Ost- und Zentral­asiens.

Die fatale Entwicklung ist aber nicht nur eine Folge falscher Verträge und fragwürdiger Entscheidungen. André Brie hat zwar sicherlich Recht, wenn er in seinem Disko-Beitrag (Jungle World 31/2010) kritisiert, dass durch die Lissabon-Verträge der Standortwettbewerb zwischen den EU-Ländern forciert worden sei. Doch diese Feststellung entspricht nur der halben Wahrheit. Dieser innereuropäische Konkurrenzkampf wurde von der politischen Klasse nicht einfach durchgesetzt. Er ist nur möglich, weil er zumindest eine gewisse gesellschaft­liche Akzeptanz besitzt. So grenzt sich in Deutschland die von Abstiegsängsten geplagte Mittelschicht vehement gegen die tatsächlichen Deklassierten ab, statt sich mit ihnen gegen die mone­taristische Wirtschaftspolitik zu verbünden. In gewisser Weise dient diese Haltung als Vorlage, wie im europäischen Konkurrenzkampf mit den Verlierern umgegangen wird. Sie erfahren keine Solidarität, sondern werden wie die »Pleite-Griechen« (Bild) verachtet und gehasst.
Auch in anderen Ländern fördert die Krise eine sozialchauvinistische Haltung, wobei die reicheren Regionen versuchen, sich von den Standortverlierern absetzen. Belgien stand in den vergangenen Jahren mehrfach kurz vor der Auflösung, in Katalonien gehen Massen für einen obskuren Separatismus auf die Straße, in den Niederlanden feiert ein Rechtspopulist Wahlerfolge. In Ungarn, direkt an der Euro-Peripherie, setzte sich eine semi-faschistische Regierung durch, in Rumänien herrscht eine pogromartige Stimmung gegen Minderheiten wie die Roma.
Die Erwartung, der Euro tauge als antinationales Projekt, war sicherlich übertrieben, so wie die soziale Emanzipation keine Frage der richtigen Währung ist. Deutschland ist es gelungen, über den Euro wieder eine hegemoniale Rolle in Europa einzunehmen. Immerhin spricht aber ­einiges dafür, dass der deutsche Sonderweg nicht ewig währt. So wird über kurz oder lang zumindest die einseitige Exportorientierung an Grenzen stoßen. Schließlich müssen die dänischen Besserwisser ja nicht für immer Recht behalten.