Herr Leser, zum Diktat!

Mit Wenigem lässt sich im Kulturbetrieb so gut Werbung machen wie mit der eigenen Prekarität. Wer als Literat sein monatliches Einkommen aus einem bürgerlichen Beruf bezieht, einen festen Wohnsitz hat und regelmäßig Urlaub machen kann, mag materiell ausgesorgt haben, ist ideell aber hoffnungslos abgehängt. Zum ideellen Distinktionsgewinn des Frankfurter Stroemfeld-Verlags hat es unter Alterspräsident KD Wolff jahrzehntelang gehört, dass man die Bücher dort produzierte, wo man den Kaffee kochte, die Autoren dort empfing, wo man die Katze fütterte, und in gut kulturlinker Manier keinen Unterschied zwischen Privatsphäre und Büro, Geschäftsgespräch und Nachmittagsplausch, Freundschaftsdienst und Selbstausbeutung machte. Nun hat Peter Kurzeck, einer der prominentesten und besten Autoren des Verlags, sich eine neue Idee für die kreative Verbindung von Ehrenamt und Freiberuflertum einfallen lassen: Noch bis zum 17. September diktiert er geneigten »Freiwilligen« im Literaturhaus Frankfurt seinen neuen Roman »Vorabend« in die Maschine. Wohlgemerkt nicht als écriture automatique, die ihren Weg vom frei flutenden Assoziationsstrom des Autors direkt aufs Papier fände, sondern als sekretärinnenmäßige, aber ehrenvolle Abschreib­arbeit. Das eng mit Schreibmaschine beschriebene, mit zahllosen Korrekturen versehene Manuskriptkonvolut lässt sich nämlich, wie der Verlag mitteilen ließ, »mit heutigen Scan- und Textverarbeitungsprogrammen nicht zuverlässig erfassen«. Eine solche Text­erfassung traut er offenbar nur Kurzecks prospektiven Lesern zu, und die werden nun vom Autor zum Diktat gebeten: 66 Kapitel resp. 1 200 Buchseiten, immer werktags von 10 bis 16 Uhr, Eintritt kostenlos. Aber nicht umsonst: Der Andrang ist groß, wer will, kann zuhören und Autogramme gibt es sicher auch. Nichts dürfte aber mit der Erfahrung vergleichbar sein, Kurzeck persönlich Hand und Griffel gewesen zu sein. Springt nicht zumindest ein Funken der Inspiration des Dichters auch auf jene über, die ihm lauschend dienen wollen? Auf diese Weise haben alle etwas davon: Kurzeck spart sich den Ärger, monatelang in den eigenen Textbergen herumgraben zu müssen, der Verlag spart sich das Geld, das er sowieso nicht hat, und die Zuhörer sparen sich die Lektüre, für die ihnen ohnehin die Zeit fehlt. Und Kurzeck, der ehemalige Flaneur und Einzelgänger, wird am Ende doch noch zum Volksschriftsteller, der seinem Publikum zurufen kann: Ohne Euch hätte ich das nicht geschafft!