China will die Sexualität von Wanderarbeitern disziplinieren

No Sex in the City

Die chinesischen Wanderarbeiter gelten der Regierung als »sexhungrig« und als eine Gefahr für die soziale Stabilität. Mahnende Handbücher sollen Abhilfe schaffen.

Die Wanderarbeiter begehren auf. In den vergangenen Monaten kam es in China zu einer landesweiten Streikwelle, an der sie maßgeblich beteiligt waren. Doch nicht allein deshalb macht sich die chinesische Regierung Sorgen. Es wird auch befürchtet, dass die hohe Mobilität der Arbeitskräfte zur Zerrüttung von Familien und zu sozialer Instabilität führt.
Reißerisch berichtet das Bauern-Magazin des Südens über die sexuellen Nöte von 20 Millionen »Strohwitwen«, die in den Dörfern alleine sind, weil ihre Männer in den Städten arbeiten. Die Frauen hätten häufig psychische Probleme. Wissenschaftler fordern, dass die Sexualerziehung der Ehepaare verbessert werden müsse, um die Ausbreitung von Geschlechtskrankheiten zu verhindern. Um außerehelichen Sex einzuschränken, sollten die Wanderarbeiter ein Recht auf Urlaub bekommen, damit sie ihre Familien öfter besuchen zu können.
Die meisten Ehepaare sehen sich nur einmal im Jahr zum chinesischen Frühlingsfest im Februar. Nach offiziellen Angaben suchten im vorigen Jahr 145 Millionen Wanderarbeiter in den Städten ihr Glück. Ein Drittel der jungen Männer und Frauen, die in Weltmarktfabriken, auf Baustellen und in Haushalten schuften, sind unverheiratet und fern der sozialen Kontrolle durch Eltern oder Dorfgemeinde. In wissenschaftlichen Publikationen wird häufig eine Statistik des Gesundheitsministeriums zitiert, der zufolge 80 Prozent der Wanderarbeiter in den Städten »sexhungrig« seien. Diese Männer würden Prostituierte besuchen oder Pornografie konsumieren und damit die soziale Stabilität gefährden.
Zhang Yuejin, ein Kader der Staatssicherheit, behauptet, dass Wanderarbeiter über 50 Prozent aller Vergewaltigungsverbrechen in Beijing und Hangzhou begingen. Bei Frauen bestehe hingegen eher die Gefahr, dass sie den materiellen Versuchungen der Stadt erliegen und als Prostituierte arbeiten oder sich als »zweite Frau« von einem verheirateten Mann aushalten lassen, meint der Soziologe Zou Xinshu. Prostitution ist in China zwar offiziell verboten, aber weit verbreitet. Die meisten Geschäftsleute und Kader, die sich eine »zweite Frau« leisten können, entscheiden sich jedoch für gebildete städtische Frauen, um ihr Ansehen im Freundeskreis zu steigern.

In den staatlichen Belehrungen für Jugendliche und Wanderarbeiter wird behauptet, dass ein Laster zum anderen führe. Der Weg vom Besuch eines illegalen Internet-Cafés zur Drogenabhängigkeit oder HIV-Infektion sei nicht weit. In Handbüchern, die Gewerkschaften und staatliche Behörden an die neuen Stadtbewohner verteilen, wird zwar über Aids und den Gebrauch von Kondomen aufgeklärt. Es wird jedoch moralisiert, um vor- und außerehelichen Sex zu verhindern. »Lasst die Finger von Drogen, verhindert sexuelles Chaos und HIV« lautet zum Beispiel eine Kapitelüberschrift in einem Ratgeber. Stattdessen raten die Autoren zu »gesunden« Hobbys, man solle spazieren gehen und ausreichend schlafen. Diese Ratschläge sind zynisch, wenn man bedenkt, dass die meisten Fabrikarbeiter in den Wohnheimen einer strengen Kontrolle unterworfen werden und kaum Freizeit haben.
Bis in die neunziger Jahre wurden die Wanderarbeiter von der akademischen Forschung in China in erster Linie als Bedrohung der urbanen Stabilität wahrgenommen und auch für die steigende Kriminalität verantwortlich gemacht. Seit 2006 hat die Regierung einen neuen Ton angeschlagen und die Verbesserung der Arbeitsbedingungen, der Weiterbildung und der Gesundheitsversorgung zum Staatsziel klärt. Wanderarbeiter können auch Mitglied der offiziellen Gewerkschaft werden.
Allerdings ist der Blick des Staates und seiner Wissenschaftler auf die ländliche Bevölkerung immer noch sehr paternalistisch. Die Regierung will die niedrige »Qualität« (suzhi) der Bauern und Wanderarbeiter erhöhen und sie zu »zivilisierten« Mitgliedern der Gesellschaft machen. »Zi­vilisieren« ist in China kein negativ belegter Begriff, da kein Zusammenhang zwischen der chinesischen Kolonialgeschichte und der Wahrnehmung der eigenen Bevölkerung hergestellt wird. Als Maßstab der »Qualität« (Ausbildung, Manieren und Verhaltensweise) gelten städtische Normen. So werden auch die Unternehmer und Hausbesitzer dazu angehalten, die »Qualität« ihrer Untergebenen zu verbessern.

Das ist eine Umkehrung der kulturrevolutionären Ideologie der Mao-Ära, als die Städter von den »armen und unteren Mittelbauern« lernen sollten. Der Begriff der »Qualität« spielt eine zen­trale Rolle, wenn heute die Hierarchie zwischen den Klassen sowie zwischen geistiger und körperlicher Arbeit abgesteckt. Infantilisierend werden die Wanderarbeiter in der Presse auch als »kleine arbeitende Schwestern und Brüder« bezeichnet.
In den meisten Soaps des Staatsfernsehens CCTV, in denen es um häusliches Dienstpersonal geht, stehen die Sorgen der städtischen Mittelschicht im Vordergrund: »Warum ist es nur so schwer, eine gute Haushälterin zu finden?« In Taiwan, wo viele Haushälterinnen von Agenturen aus den Philippinen rekrutiert werden, findet man in der Presse mehr reißerische Nachrichten über flirtende Maids, die den Ehemann der Familie verführen, als über sexuelle Übergriffe des Arbeitgebers. Die Agenturen schärfen den jungen Frauen ein, sich nicht zu schminken und keine aufreizende Kleidung bei der Arbeit zu tragen. Auch auf dem chinesischen Festland veröffentlichen die Medien Nachrichten über sexu­elle Übergriffe und Vergewaltigungen nur, wenn es sich um besonders spektakuläre Fälle handelt. Die Handbücher raten den Frauen, sich von »schlechten Kollegen« fernzuhalten und den Frauenverband aufzusuchen, wenn sie belästigt werden. Der »sexhungrige Chef« ist aber im Gegensatz zum »sexhungrigen Wanderarbeiter« kein häufiges Thema in der wissenschaftlichen Literatur.

In China hat in den vergangenen 20 Jahren eine sexuelle Revolution stattgefunden. Vor- und ­außereheliche sowie gleichgeschlechtliche Sexualität wurden entkriminalisiert. Bereits im Zuge der Ein-Kind-Politik waren Sex und Fortpflanzung getrennt worden. Selbst auf der Website der Volkszeitung, dem offiziellen Organ der KPCh, dürfen Bilderreihen mit leichtbekleideten Frauen nicht fehlen.
Dennoch scheint es eine Angst vor der Sexualität der mobilen Bevölkerung zu geben, die weder unter der Kontrolle ihrer Familien noch des Staates steht. Zwischen 2000 und 2009 ist nach offiziellen Angaben die Stadtbevölkerung von 460 auf 620 Millionen Menschen angewachsen. Chinesische Wissenschaftler beklagen, dass Maßnahmen zur Durchsetzung der Ein-Kind-Politik bei den Wanderarbeitern häufig wirkungslos blieben.
Die Beschreibung des proletarischen Sexualverhaltens in der Literatur erinnert an europä­ische Diskurse des 19. Jahrhunderts über »gefährliche Klassen«. Auch in der US-amerikanischen Sozio­logie wurden noch nach dem Zweiten Weltkrieg die ländlichen Migranten aus dem Süden für den Zerfall der Familien in den schwarzen Wohnvierteln des Nordens verantwortlich gemacht. Michel Foucault zufolge nahm das Bürgertum das Proletariat nicht nur in politischer, sondern auch in sexueller Hinsicht als gefährliche Klasse wahr. Auch in China ist es kein Zufall, dass just in dem historischen Moment, da die Wanderarbeiter beginnen, für ein selbstbestimmteres Leben zu kämpfen, Diskussionen über ihre gefährliche Sexualität entbrennen.