Vampire entdecken die Enthaltsamkeit

Rollback in Transsylvanien

Von wegen Fortschritt! In der Vampir-Gesellschaft geht es heute zu wie einst im viktorianischen Zeitalter. Die »Twilight«-Saga predigt erotisch aufgeladene Enthaltsamkeit und ist bei Jugendlichen der absolute Renner.

Von all den Monstren, welche die Bürger erschufen, um sich lustvoll vor ihnen zu gruseln, ist der Vampir das wohl dauerhafteste. Ewig und unausrottbar, erwacht er jede Epoche aufs Neue zu seinem untoten Leben. Was ihn für immer jung hält, ist seine Fähigkeit, sich einzuverleiben, was an Lebenssaft in den Adern der Gesellschaft pulsiert. Als Geschöpf der Nacht ist er das Zwischenwesen, das Gegensätzliches vereint: den Outcast und den Herrscher, den Jüngling und den Greis, die spirituelle Bösartigkeit und die kreatürliche Unschuld, das Leben und den Tod. Der Vampir ist der geborene Kuppler.
Er beschwört seit seiner Erweckung im 19. Jahrhundert all das herauf, was illegitime Verbindungen stiftet: die weibliche Leidenschaft, die homosexuelle Erotik und das losgelassene Geld. In Gestalt des Vampirs konnte der brave Bürger ertragen, womit die Moderne ihm drohte; er durfte sich unpersönlicher Herrschsucht genauso hingeben wie einer Intimität, die unter die Haut geht – immer im beruhigenden Gefühl, dass der Spuk im hellen Licht des Tages ein Ende haben werde. Denn schließlich würden Van Helsing und Co., Männer mit Expertise, die Grenzen wieder befestigen und die gefährlichen Verlockungen zurück in jene Fremde bannen, in die sie gehören.

Und doch standen die Verteidiger von Vaterland und Frauentugend über kurz oder lang auf verlorenem Posten. Mit der Angst musste sich immer wieder auch die Lust einbekennen. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts wurde der Vampir wieder zu dem, was er in seinen Anfängen, bei Byron, Polidori, Le Fanu, einmal gewesen war – eine mindestens ambivalente Figur. Schon in den Christopher-Lee-Filmen der sechziger Jahre, die zunehmend zu Zähne-und-Titten-Streifen gerieten, ließen Mädchen ihre Fenster offen, um mit einem Biss dem prüden Elternhaus zu entkommen; zahlreiche Filme und Romane der Siebziger vollendeten, was das sexistische Spektakel nur angedeutet hatte: Vampire als Sympathieträger, als Patrone einer unbürgerlichen, subversiven und gar nicht selten antipatriarchalen Sinnlichkeit.
Gerade als solche waren sie freilich stets in Gefahr, vom Mainstream wieder eingefangen zu werden, wie etwa in Francis Ford Coppolas Dracula-Adaption, in welcher der mörderische Graf zum mustergültigen Ehemann degeneriert, der Jahrhunderte treu der Reinkarnation seiner verstorbenen Gattin harrt. Auch die populärsten Vampirgeschichten der achtziger und neunziger Jahre, Anne Rices ornamental überladene Epen rund um das »Interview mit einem Vampir«, servieren zwar die ultimativen sexuellen Kicks, vom sadomasochistischen Ritual bis zum Inzest, aber in der postmodernen Romantik erscheint die grell ausstaffierte Libertinage schon überdeutlich mit fatigue durchtränkt.
Mit dem Vampir, der an seiner eigenen Mons­trösität leidet, bot Rice die jüngste Variante des Untoten als Identifikationsfigur. Von ihr zehrt der Vampirboom der vergangenen Jahre: Als Übermensch mit Gewissensbissen, der vor lauter Zerknirschung lauter gute Taten begeht (und damit die Herzen der Frauen bezwingt), bevölkert er zahllose Fernsehserien wie »Moonlight«, »Blood Ties«, »Vampire Diaries« – und nicht zuletzt den größten Bucherfolg seit Harry Potter, Stephenie Meyers »Twilight«-Saga.

Dass diese reformierten Vampire meist etwas unsagbar Deprimierendes ausstrahlen, liegt freilich am allerwenigsten an der Last der Jahre, die auf ihren Schultern ruht. Es ist vielmehr die ungeheure Mühe, die es sie kostet, verrucht zu sein. Glatt und smart und durchtrainiert sind sie weniger den Abgründen des gesellschaftlichen Unbewussten entsprungen als dem Fitnessstudio von nebenan: Dass man es hier mit Wesen aus einer fremden Welt zu tun habe, muss dem Zuschauer immer wieder eingebimst werden, weil man es sonst nicht glauben würde.
Der Protagonist von »Moonlight« etwa, ein vampirischer Privatdetektiv mit dem holden Namen Mick St. John, ringt fortwährend mit dem Schicksal, das ihn verdammt hat und von seiner menschlichen Angebeteten Beth trennt. Die Serie sucht die gesamten 16 Folgen verzweifelt nach dem plausiblen Grund, warum. Denn St. John besitzt die gattungstypischen Superkräfte wie Stärke, geschärfte Sinne und Charme, ohne sich mit den üblichen Nachteilen herumplagen zu müssen: Am Tag geht er nicht in Flammen auf, sondern hat höchstens ein erhöhtes Sonnenstichrisiko, und wenn ihn der Durst überkommt, holt er sich halt eine Blutkonserve aus dem Kühlschrank. Warum er Beth nicht einfach genauso upgraded, bleibt das einzig Geheimnisvolle an ihm.
Wenn sie schließlich in der letzten Folge einander in die Arme sinken, wirkt es weniger wie Erfüllung denn wie Erschöpfung: Als wäre ihnen einfach nichts mehr eingefallen, was den Fluss zwischen ihnen tief und ihre Liebe bedeutend machen könnte. Es sagt viel aus über den Stand der Heterosexualität, dass das, was das Wort eben auch verheißt, Verlangen nach dem, was anders wäre, nicht einmal mehr zwischen Tag- und Nachtwesen aufzuscheinen vermag.

Etwas komplizierter liegt der Fall in Meyers vierbändiger Teenager-Romanze »Twilight«. Edward Cullen, der übernatürlich süße Vampirboy, hat ja immerhin wirklich das Problem, dass er seine menschliche Liebste, Bella Swan, etwas zu sehr zum Anbeißen findet. Der betörende Duft ihres Blutes trifft genau seinen Geschmack und stellt – wenigstens am Anfang der Reihe – seine mühsam erworbene Disziplin auf die Probe. Edward gehört nämlich zu einem der seltenen »Vegetarier«-Clans, die sich aus ethischen Gründen mit dem Blut wilder Tiere begnügen (und selbst das, ganz ökologisch korrekt, nur von Überschusspopulationen). Doch das Verlangen nach dem Original lauert weiter in ihnen wie bei einem Drogensüchtigen auf Entzug.
Selbstbeherrschung ist somit das Schlüsselwort. Sie erlaubt es paradoxerweise der Protagonistin wie den Leserinnen das zu tun, was sonst den Jungs vorbehalten ist: sich unverstellt der Begierde hinzugeben und lüstern in der Vorstellung eines makellosen Körpers zu schwelgen. Bella kann darauf vertrauen, dass Edward sich schon im Griff und die Lust keine Konsequenzen haben wird. So ist sie es, die vorangeht, und er bremst, damit sie nichts Unbedachtes tun. »Ich bin stärker, als ich dachte«, verkündet er zufrieden nach einem abrupt beendeten Kuss, worauf sie antwortet, sie wünschte, sie könne das auch von sich behaupten.
Der Preis, den diese Affirmation weiblicher Geilheit verlangt, ist deren Reduktion auf ewige Vorlust. Meyers Schreibstil, mit seinen endlosen Schilderungen von »alabastergleicher Haut« und Körpern wie »Adonisstatuen«, vereint schwüle Erotik mit kaum zu überbietender Prüderie. Das Bitch Magazine prägte dafür den Begriff des abstinence porn. Als es nach fast 1 700 Seiten und, natürlich, einer Traumhochzeit endlich zur Sache geht, schweigt der Text sich einfach aus – wir erfahren nur, wie selig Bella »danach« ist. Kurz darauf bekommt sie auch ihren zweiten sehnlichsten Wunsch erfüllt, nämlich zu werden wie Edward: Um ihr halbvampirisches Kind gesund zur Welt zu bringen, darf sie ihre Menschlichkeit opfern. No bite until marriage – bis du es nicht aus Lust willst, sondern aus mütterlichem Instinkt.

Womit der Vampir lockt, ist daher gerade nicht das Ineinander von Begierde und Gefahr, sondern deren Entmischung – die so vollendet eben nur übermenschlicher Kraft gelingt. Bella, und mit ihr die Leser, werden davon dispensiert, ihre Phantasien auch in der Wirklichkeit zu verwirklichen; denn das, weiß die fromme Mormonin Meyer, endete ja eh nur in den Fängen eines männlichen Raubtiers. Wenn sich dieses Raubtier aber zu ­zügeln versteht, hat es Besseres zu bieten als Ekstase: eine Liebe, die so innig ist, dass sie körperlos bleiben kann; die keinen physischen und auch keinen anderen Austausch braucht, um sich zu entfalten, weil sie, ganz und gar schicksalshaft, vom ersten Blick und ersten Duft an unverrückbar feststeht. Selbstüberschreitung kennt »Twilight« nur in der regressivsten Form, als Selbstüberwindung für den Mann, als Selbstaufgabe für die Frau.
Das betrifft nicht nur die Verantwortung fürs ­eigene Begehren. Edward hat Bella ganz und gar in der Hand, und das im wortwörtlichen Sinne. Er weiß genau, wann er für sie entscheiden muss – und sie dafür auch mal festhalten oder mit sanfter Gewalt fortführen darf. Fortführen jedoch nicht in die Fremde, »through countries not hitherto much frequented by travellers«, wie sie der literarische Ahnherr aller Vampire, Byrons Augustus Darvell, einmal versprach. Edward ist, mit seinen 90 Jahren, nicht nur sexuell so jungfräulich wie Bella, sondern hat überhaupt merkwürdig wenig von der Welt gesehen. Statt in die Ferne zieht es Edward und Bella bloß zum schmucken Einfamilienhaus der Cullens. In bester Cityrandlage, umgeben von De­signermöbeln und teuren Autos, können sich Edward und seine vampirischen Adoptiveltern und -geschwister gegen die Welt abdichten – am besten für alle Ewigkeit.
Das genau ist es, was auch Bella will, wenn sie ihren alleinerziehenden Vater und ihre flatterhafte Mutter leichten Herzens verlässt, um unsterblich zu werden. Ihre Sehnsucht nach dem Untod ist nicht bloß eine Chiffre für la petite mort, den Orgasmus, sondern viel umfassender. »Er war eine Statue der Vollkommenheit, gemeißelt aus einem unbekannten Stein, der glatt wie Marmor war und glänzend wie ein Kristall«, beschreibt sie Edwards Anblick. Das verführerischste Geheimnis des Vampirs ist seine Erotik des Anorganischen. Was durch Anne Rices Welten, etwa in Gestalt von Claudia, dem alterlosen Kind, noch als ultimativer Horror spukte, die Last unendlicher, still­gestellter Gegenwart, wird in »Twilight« zur ultimativen Verheißung. Nichts fürchtet Bella mehr als das Alter; die Spuren, die Geschichte im Körper hinterlässt. Schönheitschirurgie wäre da noch zu viel undomestizierte Individualität.
Statt aristokratischer luxe, calme et volupté (Luxus, Frieden und Wollust) ein adretter Upper-Class-Boy, statt Befreiung zur Sinnlichkeit Mortifikation des Leibes, und dazu family values für die Ewigkeit: So lautet das wahre Grauen vampirischen Daseins in einer Gesellschaft ohne Zukunft.