Victor, Hobby-Vampir im Gespräch über die Berliner Vampir-Szene

»Wir treffen uns am Wohnzimmertisch«

Victor aus Berlin ist 34 Jahre alt, schreibt seit Jahren an seiner Doktorarbeit und bezeichnet sich selbst als Anarchokommunist. An den Wochenenden spielt er in einem Rollenspiel einen Vampir.

Sind Sie ein Vampir?
Ja und nein. Ich bin ein Rollenspieler, der einen Vampir spielt.
Sie trinken also kein Blut?
Nein, ich trinke kein Blut. Aber mein vampire character macht das.
Das ist alles recht verwirrend. Vielleicht sollten Sie erklären, was ein Rollenspiel und was Ihr »Vampir-Charakter« ist.
Ich spiele zusammen mit mehren Freunden ein Erzählspiel für Erwachsene. In diesem Spiel übernehme ich die Rolle eines Vampirs. Am einfachsten ist das mit einer Romanfigur zu vergleichen, die ich mir ausgedacht habe und deren Handlungen ich in einer fiktiven Welt bestimme. Computer- bzw. Onlinerollenspiele wie zum Beispiel »World of Warcraft« funktionieren auch grob nach diesem Konzept. Nur haben wir viel erzählerische Freiheiten dabei.
Verkleiden Sie sich beim Spielen?
Es gibt verschiedene Formen von Rollenspielen. Eine Fraktion verkleidet sich tatsächlich dabei, das sind die Live-Action-Rollenspieler, kurz Larps. Man kann sich das als ein improvisiertes Theaterspiel vorstellen. Je nach Rolle und Setting trägt man entsprechende Kostüme. Am beliebtesten und bekanntesten sind »High Fantasy«-Szenarien à la »Herr der Ringe«. Da toben dann die Spieler in Ritterrüstungen, Zauberhut, Ork-Masken und mit Polsterschwertern durch den Wald. Oft dauern solche Spiele ein ganzes Wochenende. Es gibt auch die Vampir-Larps, bei denen man sich dann als Vampir verkleidet …
Wenn man bei solchen Live-Action-Rollenspielen einen Vampir spielt, beißt man dann die Mitspieler und trinkt ihr Blut?
Natürlich nicht! Es gibt ganz klare Regeln, zu diesen Regeln gehört, dass man seine Mitspieler nicht berühren darf. Der Fokus der meisten Vampir-Spieler liegt auch nicht so auf Action, sondern auf dem Charakterspiel. Aber ich gehöre sowieso nicht zur Larp-Fraktion. Ich spiele lieber »Paper and Pen«-Erzählspiele. Dabei verkleiden wir uns nicht. Wir treffen uns als kleine Spielgruppe mit vier Personen am Wohnzimmertisch. Zum Spielen braucht man eigentlich nur Papier und Stift, ein paar Würfel und viel Phantasie.
Das ist ja alles wirklich faszinierend. Aber ich habe meiner Redaktion ein Interview mit einem Vampir zugesagt. Könnte ich vielleicht das Interview mit Ihrem Vampir-Charakter führen?
Das wäre ja so, als ob Sie Harrison Ford bitten, Ihnen ein Interview als Indiana Jones zu geben.
Und wenn wir das ganze im Spiel mache, wir also spielen würden, dass ich ein neugieriger Journalist wäre, der ihren Vampir befragt? Sie wissen schon, so wie in dem bekannten Film mit Tom Cruise.
Theoretisch wäre das natürlich möglich. Allerdings würde mein Vampir nicht mit Ihnen reden.
Warum nicht?
In »Vampire: Requiem« – das ist das Spiel, das wir spielen – gibt es unter den Vampiren ein eisernes Gesetz, das »die Maskerade« genannt wird. Die Tradition der Maskerade verbietet den Vampiren, sich Menschen zu offenbaren. Die Vampire wollen nämlich nicht, dass die Menschen von ihnen wissen. Raubtiere wollen ja auch nicht, dass ihre Beute weiß, dass sie in der Nähe sind. So ist es einfacher für die Kinder der Nacht. Zum anderen fürchten sie die Rache und die Wut der Sterblichen. Wer die Maskerade bricht, auf den wird vom Prinzen die Blutjagd ausgerufen, alle Vampire der Domäne dürfen und müssen den Verräter erschlagen. Es ist sozusagen das Kapitalverbrechen der Vampirgesellschaft.
Wer ist der Prinz?
Die Vampire im Spiel bilden eine geschlossene Geheimgesellschaft, die von einer absolutistischen Feudalstruktur bestimmt wird. Die jüngeren werden von den älteren und mächtigeren Vampiren gnadenlos unterjocht. An der Spitze einer Domäne, also einer Stadt, stehen der Prinz und sein »Rat der Erstgeborenen«. Er ist üblicherweise einer der ältesten und mächtigsten Vampire der Stadt. Der Prinz regelt die Streitigkeiten der verschieden Clans, teilt Jagdgebiet zu und wacht über die Einhaltung der Traditionen. Kurzum, er ist der jeweilige Despot. Berlin hat übrigens sogar gleich zwei davon …
Berlin?!
Wir spielen in unserer Welt, deren Bild wie durch einen dunklen Spiegel verzerrt wird. Alles wird einen Hauch düsterer dargestellt. Zum Beispiel ist die Kirche viel mächtiger und noch reaktionärer als in der Wirklichkeit. In Berlin hat sich die Teilung natürlich auch auf die Vampirgesellschaft ausgewirkt. Mitten durch die Stadt des preußischen Vampir-Prinzen wurde die Mauer gebaut. Während er auf der Ostseite der Mauer residierte, schuf sich sein ambitioniertes Kind in Westberlin seine eigene Domäne. Mit dem Fall der Mauer standen sich dann plötzlich zwei Prinzen mit ihren untoten Hofstaaten gegenüber. Seitdem tobt ein kalter Krieg um die Herrschaft über die Stadt.
Was macht man als Vampir den ganzen Tag?
Vampire sind nachtaktiv und schlafen am Tag, weil sie bekanntlich allergisch auf Sonnenlicht reagieren. Sobald die Sonne untergegangen ist, gehen sie auf die Jagd oder kümmern sich um ihre Geschäfte. Viel Zeit und Energie kosten auch die politischen Intrigen der Vampire untereinander. Zumeist geht es dabei um Jagdgebiet, Geld, Ghule und Prestige. Oder man versucht, sich beim jeweiligen Prinzen einzuschleimen, um etwas von seiner Macht abzubekommen oder zumindest nicht seinen Zorn.
Was sind denn Ghule?
Ghule sind Sklaven. In der Vampir-Gesellschaft gibt es die Leibeigenschaft. Wenn ein Mensch etwas Vampirblut trinkt, dann bekommt er besondere, übernatürliche Fähigkeiten. Wenn er genug trinkt, wird er zum Ghul. Der bekannteste Ghul der Literatur ist die Romanfigur Renfield aus »Dracula« von Bram Stoker. Ghule altern nicht, so lange sie regelmäßig mit Vampirblut versorgt werden. Sie sind unglaublich kräftig, brauchen keinen Schlaf und sind sehr loyal. Das Blut schafft eine tiefe emotionale Beziehung zum untoten Sklavenhalter, die es Ghulen unmöglich macht zu rebellieren.
So wie ich das jetzt verstanden habe, bilden die Vampire in dem Spiel eine feudale Parallelgesellschaft mit Leibeigenschaft. Sind Ohnmacht und Abhängigkeit auch Motive des Spiels?
Vampire sind Monster, die sich gut tarnen können. Sie können freundlich, charmant und sogar gütig sein. Doch letztlich geht es ihnen immer nur um Blut und Macht. Ihre Verhältnisse zu Menschen oder anderen Vampiren sind immer ausbeuterisch. Mit der Zeit können sie auch nur noch sehr schwer emotionale Bindungen eingehen. Ein Hauptthema des Spiels ist die Angst des einzelnen, zumeist jungen Vampirs, so zu werden, wie die anderen es schon sind. Es geht um den Entschluss, um die eigene Menschlichkeit zu kämpfen. Eine Konsequenz daraus ist dann die Rebellion gegen die Gesellschaft der Untoten.
Die Vorstellung einer geheimen Verschwörung von Blutsaugern, die die Menschen manipulieren, zeigt deutliche Parallelen zu antisemitischen Denkfiguren.
Ja, das stimmt. Auch die Emo-Punk-Revolte kann ein Einfallstor für reaktionäre Ideen bieten. Aber ehrlich gesagt, kenne ich wirklich keinen Rollenspieler, der so dumm ist, das Spiel für eine Gesellschaftstheorie zu halten. Bestenfalls sind Vampirspieler vielleicht etwas mehr für Macht- und Herrschaftsverhältnisse und das Erkennen von absurden Verschwörungstheorien sensibilisiert.