Ein Besuch beim Rodeo in Gunnison/Colorado

Yeeeeeeeeee-Haaaaw!

362 Tage im Jahr ist Gunnison ein ruhiges Universitätsstädtchen in den Rocky Mountains, im US-Bundesstaat Colorado. Die restlichen drei Tage sind »Cattlemen’s Days«. Ein Besuch bei dem Rodeo, das 11jährige Mädchen genauso mitreißt wie liberale Professoren für amerikanische Literatur und Männer, die zwölf Monate im Jahr im Auto leben.
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»Tonight«, röhrt es von der Sprecherkabine in die staubige Arena, »we send a message from Gunnison to the rest of the world: Don’t mess with the USA!«
Der Applaus von den Rängen hält sich in Grenzen. Doch den Ansager Andy Stewart feuert das nur an. Immerhin ist er ein Star in seiner Branche. So bekannt, dass er sogar einen eigenen Werbevertrag hat – der Aufnäher eines Genfood-Unternehmens prangt auf dem Rücken seines Jeanshemds. Immerhin hat er die Masse gestern mit derselben Show zum Kochen gebracht. Und morgen wird er es wieder tun. Also legt er nach: »Wenn hier Männer und Frauen sind, die in unseren Kriegen gekämpft haben, im Zweiten Weltkrieg oder in Korea, in Vietnam oder am Golf – erhebt euch und nehmt den Applaus der anderen entgegen!«
Tatsächlich stehen einige der vielleicht 1 500 Zuschauer auf. Beifall brandet auf. Die US-Hymne erklingt. Die Mehrheit auf den Tribünen singt mit, nicht wenige legen die rechte Hand aufs Herz. Während der letzten Töne wird ein Tor unter der Sprecherkabine aufgerissen. Ein Bulle mit einem Reiter auf dem Rücken bockt wild in die Arena. »It’s Shooooowtime!« röhrt Andy Stewart. Der heutige Tag der »Cattlemen’s Days« in Gunnison ist eröffnet.
Die Cattlemen’s Days sind das wichtigste gesellschaftliche Ereignis im Veranstaltungskalender von Gunnison, Colorado. Das kleine Städtchen, das sich auf 2 500 Metern Höhe in ein Hochtal der Rocky Mountains schmiegt, hat ansonsten wenig zu bieten. Gut, jeder dritte der 7 000 Einwohner studiert an der örtlichen Universität, und Wintersportfreunde, denen das nahe Aspen zu teuer oder zu überlaufen ist, finden sich gerne hier ein. Aber der Aufruhr, den die Cattlemen’s Days seit 1900 jedes Jahr für eine Woche im Juli nach Gunnison bringen, ist beispiellos.
Insgesamt dauern die Cattlemen’s Days über eine Woche. Es gibt Viehauktionen, Musik- und Kulturveranstaltungen, neben der Arena ist ein Jahrmarkt mit Schießbuden und einem Riesenrad für relativ kleine Riesen aufgebaut. Doch das alles wäre nichts ohne das dreitägige Rodeo, das den Höhepunkt und Abschluss bildet.

Rodeo ist die vielleicht amerikanischste aller Sportarten. In insgesamt sieben Disziplinen messen sich hier Sportler miteinander. Jede davon leitet sich unmittelbar aus der Arbeit auf den Farmen ab, Mustang- und Bullenreiten ebenso wie die Diszi­plinen, bei denen Tiere mit dem Lasso eingefangen werden. Alle Sportler tragen Cowboy-Kleidung. Jeder tritt für sich oder im Zweierteam an, jeder Vorgang ist nach höchstens einer halben Minute vorbei. Die Teilnehmer der Reitwettbewerbe müssen nur acht Sekunden im Sattel bleiben, bis die Jury ihre Wertung abgibt. Ein Wettkampftag beim Rodeo dauert so kaum länger als zwei Stunden, obwohl nicht selten mehr als 100 Sportler an den Start gehen. Keine Siegerehrungen unterbrechen den Ablauf. Showelemente werden nur eingestreut, wenn von einer Disziplin zur nächsten Umbauten notwendig sind, und beschränken sich häufig darauf, dass die Fahne eines Sponsors von einer Reiterin einmal durch das Rund der Arena getragen wird. Meistens machen das die Miss Rodeos, die in verschiedenen Altersklassen zu Beginn der Woche gewählt worden sind. Eine Veranstaltung, deren Höhepunkte schneller aufeinander folgen, ist kaum denkbar.
Das Rodeo hier in Gunnison hat nicht nur eine lange Tradition, sondern auch sportliche Bedeutung. Es gehört zu der Serie von Rodeos, mit denen die PRCA – die Professional Rodeo Cowboy Asso­ciation – ihre Finalisten für den großen Saisonhöhepunkt in Las Vegas ermittelt. Wer sich qualifizieren will, muss auf möglichst vielen Veranstaltungen wie den Cattlemen’s Days Punkte sammeln. Geld gib es natürlich auch zu verdienen. Knapp 50 000 Dollar werden in diesem Jahr an die Bestplatzierten der drei Tage ausgeschüttet.
Einen kurzen Fußweg von der Arena entfernt befindet sich das Hospitality Tent, der Backstage-Bereich des Rodeos. In diesem Zelt treffen sich täglich eine Stunde vor Veranstaltungsbeginn die Mitarbeiter und Helfer, um ihre Schichten einzuteilen. Jetzt, während des laufenden Wettkampfs, sind nur zwei Frauen da, die sich um das Buffet kümmern. Und Jim Swaim, Präsident der Cattle­men’s Days. Swaim ist ein stämmiger Mann von etwa 50 Jahren. Der Cowboyhut auf seinem Kopf wirkt irgendwie deplaziert. Reiten kann er auch nicht besonders gut. Der schwerste Moment seines Arbeitstages kommt immer dann, wenn Andy Stewart die Verantwortlichen des Rodeos vorstellt und Swaim in flottem Tempo in die Arena reiten muss. Gestern ist ihm dabei der Hut in den Dreck gefallen.

»Ich bin freiberuflicher Finanzplaner«, stellt er sich selbst vor. Im Gegensatz zu vielen anderen, die während der Cattlemen’s Days gerne auf Vorfahren verweisen, die Rancher oder Cowboys waren, gibt sich Swaim sachlicher.
»Vom Rodeo habe ich erst erfahren, als ich vor 14 Jahren nach Gunnison gezogen bin«, stellt er ohne Umschweife klar. Die sportlichen Leistungen interessieren ihn bis heute kaum.
»Die ökonomische Wirkung für die Region ist immens«, rechnet er stattdessen vor. »Wir haben hier 11 000 Besucher, die ungefähr fünf Millionen Dollar ausgeben. Die Leute kommen in die Arena, aber sie machen auch ihre Familientreffen hier.«
Swaim selbst verdient an den Cattlemen’s Days keinen Cent, sagt er.
»Diese Woche ist die wichtigste Einnahmequelle für Gunnison. Damit das so bleibt, müssen im Hintergrund ein paar Leute wie ich mitmachen. Für mich ist das hier Dienst an der Gemeinde.«
Draußen vor dem Zelt stromert Britt Jessop um die Pferdegatter. Jessop stammt aus einem Ort in der Nähe. Der blonde 27jährige, dessen Gesicht entfernte Ähnlichkeit mit einem Boskop-Apfel hat, ist bereits im siebten Jahr als Rodeo-Profi unterwegs. Seine Disziplin ist das Mustangreiten mit Sattel. Neulich hat er als 67. eines Wettbewerbs etwas mehr als 400 Dollar verdient – die beste Platzierung der vergangenen Wochen für ihn. Er liebt seinen Sport, obwohl er für einen unterklassigen Profi wie ihn ein hartes Geschäft ist.
»Fünf Monate bin ich im Sommer im Auto unterwegs. Und im Winter, wenn es keine Rodeos gibt, sieben Monate als Trucker.« Jessop setzt ein schiefes Lächeln auf. »Eigentlich kann man sagen, ich bin zwölf Monate im Jahr auf der Straße.«
Dass er seine Familie in Colorado Springs so gut wie niemals sieht, ist kein Problem für ihn. »Meine ganze Familie war immer im Rodeogeschäft. Schon seit drei Generationen.«
Allmählich beginnt Jessop wieder in Richtung des Pferdegatters zu blicken. Vor einer halben Stunde hat man ihm sein Pferd für den heutigen Abend zugelost, und er will versuchen, den Mustang zumindest einmal zu sehen.
Bei den Reitwettbewerben werden nämlich nicht nur die Zeit im Sattel und die Leistung des Reiters bewertet. Die Hälfte der Punkte vergibt die Jury für das Zusammenspiel von Pferd und Cowboy. Weil sie keinen bekannten Namen haben, werden Männer wie Jessop dabei oft schlechter bewertet als die Stars. »Damit muss man leben«, meint er, wieder schief lächelnd. »Ist eben so ähnlich wie beim Eiskunstlaufen.«
Zum Abschied zählt er uns noch die Verletzungen auf, die er auf der Tour in den letzten Jahren erlitten hat: »Armbruch. Beinbruch. Und die Narbe im Gesicht ist von einem Bullenhorn. Da bin ich nicht schnell genug hinter das Gatter gekommen, nachdem der mich abgeworfen hatte.«

»Ford hat seinen neuen Geländewagen mit beheizbarer Kofferraumklappe ausgestattet. Weißt Du warum?« Andy Stewart hat mittlerweile einen Gesprächspartner gefunden. Larry, der Clown, sitzt auf einem Coors-Light-Fass in der Arena und hat ein Funkmikrofon am bunten Revers. »No, Sir«, gibt Larry zu. – »Damit man sich die Hände nicht abfriert, wenn man schieben muss.«
Wieder hält sich die Reaktion der Zuschauer in Grenzen. Aber Dodge ist einer der Hauptsponsoren der Veranstaltung. Wrangler Jeans, Wells Fargo und Chamberland Orthopedics sind einige andere Namen auf den Werbebanden. Keine Cowboy-Bandscheibe hält ewig den Belastungen durch Bullen und Mustangs statt.
Gerade hat mit dem Tie Down Roping die nächste Disziplin begonnen. Durch das Südtor werden junge Stiere in die Arena getrieben. Cowboys setzen ihnen zu Pferd nach. Binnen Sekunden bringen sie die Tiere mit ihren Lassos zu Fall. Die Regeln erlauben allerdings nur einen einzigen Wurf. Geht der fehl, läuft der Jungstier durch die ganze Arena und steht irgendwann etwas desorientiert vor dem Nordtor. Der Mann, der sie dort entgegennimmt und ins Gatter führt, hat sonnenverbrannte Haut, ein lustiges Lachen und heißt Mark Todd. Wenn Todd nicht gerade Jungstiere einparkt, arbeitet er als Professor für ame­rikanische Literatur an der Universität der Stadt. Schriftsteller ist er auch; bislang hat er zwei Romane und mehrere Lyrikbände veröffentlicht, und für die Verfilmung seines ersten Drehbuchs versucht gerade ein Produzent Geld aufzutreiben.
Unter den ungefähr 30 Leuten, die beim Rodeo unentgeltlich arbeiten, ist Mark als »North Arena Director« einer der wichtigsten. »Ich sorge hier nicht nur für das Einsammeln der Tiere«, erläutert er. »Hier am Nordtor werden auch die Autos der Sponsoren reingelassen, die Fahnenträgerinnen reiten von hier ein – all die Dinge, die der Zuschauer erst dann bemerkt, wenn sie schon längst in der Arena sind.« In den 51 Wochen zwischen den Rodeos ist Mark im Komitee der Cattle­men’s Days mit Verwaltungsarbeiten beschäftigt.
Wie schätzt ein Intellektueller wie er eigentlich den nationalistischen Bombast ein, der sein Rodeo begleitet? Todd wartet, bis der letzte Jungstier in die Arena getrieben wurde. Dann schiebt er seinen Hut in den Nacken.
»Der Rodeosport ist eine traditionell amerikanische Sache. Die Sache mit den Veteranen, die markigen Sprüche – ich muss ehrlich sagen, das hinterfrage ich nicht, sondern akzeptiere es als Teil der Show.« Plötzlich lacht auch Todd dieses Lachen, das bei einer Rodeoveranstaltung scheinbar allgegenwärtig ist.
»Erlaubt mir als Lyriker ein Oxymoron: Ich bin ein gottloser Redneck. Und wenn die Hymne gespielt wird, dann singe ich nicht mit, sondern starre in Ruhe hübsche Frauen an.«

»Hey!« Ein mahnender Klaps landet in Todds Nacken. Seine Frau Kym steht hinter ihm. Gerade eben ist sie mit einem Pick-up aus der Arena gekommen, wo sie mit zwei Kollegen Fässer für das Barrel Race aufgestellt hat. Das ist die einzige Frauen-Disziplin im Rodeo. So schnell wie möglich müssen die Reiterinnen drei Fässer auf ihren Pferden umkreisen. Berühren sie ein Fass, gibt es Strafsekunden. Kym ist für diese Disziplin verantwortlich, weil sie selbst eine Barrelreiterin war.
»Aber nicht professionell«, wehrt die hübsche Frau mit den langen blonden Haaren ab. »Nur in der Highschool, und danach noch ein bisschen auf dem Minnesota State Circuit«.
Kym Todd ist seit 1996 im Organisationskomitee, als zweite Frau in der Geschichte der Cattle­men’s Days, Die erste war nur ein Jahr zuvor eingestiegen, nach 95 Jahren. »Aber die hat sich nur um die Miss Rodeo-Wahlen gekümmert«, sagt sie. »Und ich dachte, dass es nicht schlecht wäre, auch eine Frau für den Sport zu haben.«
Im Keller ihres Hauses hat Kym Todd ein eigenes Grafik-Büro, von dem aus sie nicht nur für diverse Reiseveranstalter arbeitet, sondern auch die Werbung des Rodeos gestaltet. Auch sie fühlt sich von den nationalistischen Tönen nicht gestört.
»Ansonsten kann ich mit diesem Patriotismus-Kram nichts anfangen«, jetzt zeigt auch sie das Rodeo-Lächeln, »aber für drei Tage im Jahr verwandle ich mich scheinbar in einen Redneck.«
Als PR-Frau der Veranstaltung ist sie auch mit den Protesten gegen den Rodeo-Sport konfrontiert. »Wir sind permanenten Angriffen von Tierschutzorganisationen ausgesetzt«, gibt sie zu. »Aber eigentlich verstehe ich das nicht. Die Tiere sind so wertvoll, die werden von ihren Besitzern nicht gequält. Wenn nicht aus Menschlichkeit, dann zumindest aus wirtschaftlichen Gründen.«
»Naja«, schaltet sich Mark ein. »Bei den Lassosachen kann ich es nachvollziehen. Wenn die Jungtiere von den Beinen gerissen werden, dann sieht das schon manchmal brutal aus.«
Kym nickt. Wirklich überzeugt wirken beide nicht, dass jemand ernsthaft etwas gegen ihren Sport haben kann.
Direkt neben ihnen bringt ein Mädchen ihr Pferd zum Stehen. »Junior Miss Rodeo« steht auf der Schärpe geschrieben, die sie über einem strahlend blauen Hemd trägt. Madleen Caplen ist elf Jahre alt und war eine der Reiterinnen, die zwischen den Disziplinen die Sponsorenfahnen durch die Arena getragen haben. Jetzt ist auch für sie Feierabend. Sie nimmt den Hut vom Kopf uns schüttelt blonde Locken.
»Guten Abend!« sagt sie auf Deutsch, als sie uns sprechen hört. Da ihre Urgroßeltern aus Deutschland stammen, kann sie ein paar Floskeln. Auch alles andere, was sie sagt, klingt auswendig gelernt. Ja, sie reitet seit ihrem dritten Lebensjahr. Nein, vom Pferd gefallen ist sie noch nie. Ja, Fotografin möchte sie gerne werden. Als Madleen sagt, ihre kleine Schwester zeige ihr, dass sie stolz auf sie sei, indem sie ihr an den Haaren ziehe, greift die Miss-Betreuerin sanft nach ihrer Schulter und zieht sie weg. Madleen hat morgen viel zu tun. Eine der anderen Misses hat sich heute den Fuß gebrochen, da muss die Junior Miss morgen doppelt so viele Fahnen tragen.
Dann ist das Rodeo für heute zu Ende. Auf dem Weg nach draußen sehen wir noch einmal Britt Jessop. 7,8 Sekunden ist er im Sattel seines Mustangs geblieben. 0,2 Sekunden zu kurz, um in die Wertung und damit an einen Teil des Preisgeldes zu kommen. Jetzt packt er den Koffer in seinen Wagen. »Morgen sitze ich wieder im Sattel. Zwei Autostunden von hier. Da läuft es bestimmt besser.«
Dann setzt er sich hinter das Steuer. Als er Gas gibt, sehen wir zum letzten Mal für heute das Rodeo-Lächeln.