»Caracas, embassy of hell«

Abertausende Rapper, Rastamänner und Dancehall-Sänger trällern Liedchen über Bandenkrieg und Ghettogewalt. Der venezolanische Rasta-Musiker Onechot wäre wohl nur einer von ihnen, wäre da nicht die Regierung von Hugo Chávez, die dem Sänger derzeit unfreiwillig zum internationalen Durchbruch verhilft. Onechot präsentierte Mitte August seinen Reggae-Song »Rotten Town« mit einem Musikvideo, in dem ein kleiner Junge beim Murmelspiel malerisch im Kugelhagel von Gangstern stirbt. Sein Blut fließt durch die Straßen, und am Ende haben alle von den Armen bis zu den Reichen Blut an den Händen. Da der Clip in Caracas spielt, kann man ihn jedoch nicht als überzogenen Ghetto-Kitsch abtun, denn die Chance, sich in der Hauptstadt Venezuelas eine Kugel zu fangen, ist tatsächlich hoch. »We have more death than Pakistan, Libanon, Kosovo, Vietnam and Afganistan«, singt Onechot, und das stimmt. Mit 96 Morden je 100 000 Einwohner gilt Caracas als zweitgefährlichste Stadt der Welt, in ganz Venezuela liegt die Rate bei 75 Morden pro 100 000 Einwohnern. Mörder müssen in Venezuela kaum fürchten, erwischt zu werden. Bei über 90 Prozent der Morde werden noch nicht einmal Verdächtigte verhaftet.
Da es die Regierung von Hugo Chávez weder schafft, den korrupten Polizeiapparat zu reformieren, der viele Mörder laufen lässt und selbst in Morde verwickelt ist, noch die Armut und damit eine wichtige Ursache der Kriminalität wirksam zu bekämpfen, hat sie beschlossen, dass wenigstens in den Medien Friede herschen soll. Nachdem die Zeitung El Nacional Mitte August ein Foto auf der Titelseite gedruckt hatte, das Mordopfer in einer Leichenhalle in Caracas zeigte, die kreuz und quer auf dem Boden gestapelt worden waren, hat die Regierung kurz darauf allen Printmedien verboten, Bilder zu drucken, die »gewalttätig, blutig, grotesk« sind. Sie gefährdeten »die psychische und moralische Unversehrtheit der Kinder«. Auch gegen Juan David Chacón alias Onechot wird nun ermittelt, weil sein Video »sensationslüsterne Bilder von Gewalt« zeige. Der Sänger und der Regisseur des Videos, Hernán Jabes, erklärten, der Clip sei kein politisches Statement, sondern zeige, »das wir alle verantwortlich sind, nicht nur die Regierung«. Dass heute selbst die kitschigste Sozialkritik eines apolitischen Reggae-Sängers in Venezuela zum Politikum, ja zum subversiven Hit werden kann, sagt einiges über den »Sozialismus des 21. Jahrhunderts«.