Janet Korman im Gespräch über ihren Vater, der vor KZ-Toren zu »I will survive« tanzte

»Meine Familie hat immer Tanzpartys gegeben«

Die australische Künstlerin Janet Korman filmte ihren Vater, den Holocaust-Überlebenden Adam Kohn, wie er mit seinen Enkelinnen und Enkeln zu Gloria Gaynors Megahit »I will survive« vor dem Tor des Vernichtungslagers Auschwitz und vor anderen Konzentrationslagern tanzt. Das Video »Dancing Auschwitz« wurde im ­Internet millionenfach abgerufen und löste teils große Empörung, teils auch Begeisterung aus.

Wie kamen Sie auf die Idee, ein Tanzvideo vor ehemaligen Konzentrationslagern zu drehen?
Mein Mentor an der Universität in Melbourne wusste, dass mich mein jüdischer Hintergrund und damit auch Fragen nach »jüdischer Identität« und die Schwierigkeiten, die man hat, wenn man jüdisch ist, sehr beschäftigen, und er brachte mich auf die Idee, zusammen mit meinen Kindern in Europa und vor allem in Polen die Orte zu besuchen, wo meine Eltern aufgewachsen sind und wo sie während des Krieges überall waren. Auf die Idee, dort zu tanzen, kam ich, weil ich sehr gerne tanze und meine Familie immer Tanzpartys gegeben hat. Es gibt ja zahlreiche Videos im Internet, auf denen Menschen, die auf Weltreise sind, vor berühmten Orten tanzen, und da fragte ich mich, wozu man eigentlich in ­Auschwitz tanzen könnte. Tanzen hat etwas mit der Freude am Leben zu tun, und ich suchte nach Songs, in denen es ums Überleben ging. So kam ich auf Gloria Gaynors »I will survive«.
War es einfach, Ihre Familie und insbesondere Ihren Vater zu überzeugen, zu diesem Song in Auschwitz zu tanzen, wo er selbst interniert war?
Es ging erstmal noch nicht ums Tanzen, sondern nur um diese gemeinsame Reise, deren Vorbereitung schon sehr kompliziert war, denn wir alle waren an verschiedenen Orten in verschiedenen Ländern. Als es dann ums Tanzen ging, habe ich allen verschiedene solcher Videos im Internet gezeigt, auf denen Menschen vor besonderen Plätzen tanzen, und dann habe ich mit allen über die Idee geredet, vor Auschwitz zu tanzen. Mein Vater hat meine Idee sofort verstanden. Aber ob wir dann wirklich gemeinsam vor Auschwitz tanzen würden, das war lange nicht klar. Letztlich hat es funktioniert, und wir haben das gemacht.
Fiel es Ihnen und Ihrer Famile nicht schwer, dort zu tanzen?
Das war natürlich sehr schwierig, wir versuchten dann zu tanzen, wenn nicht so viele Touristen da waren, ich musste meinen Laptop mit der Musik irgendwo platzieren, das fühlte sich sehr, sehr merkwürdig an. Das schwierigste war, meinen Kindern zu sagen: »In drei Minuten tanzen wir.« Einige von ihnen waren, nachdem wir diese Orte besucht haben, sehr bedrückt, und es war schwer, aus so einer Stimmung heraus umzuschalten und zu tanzen.
Ihre Mutter, die wie Ihr Vater Auschwitz überlebt hat, ist nicht mitgekommen. Sie sagten, für sie wäre es zu hart gewesen, wieder an diesen Ort zu fahren.
Mein Vater ist in Lodz augewachsen in einer jüdisch geprägten Umgebung, während meine Mutter nicht zusammen mit anderen Juden aufwuchs. Sie ging nicht in eine jüdische Schule und fühlte sich als Jüdin in ihrer Umgebung immer unwohler. Die anderen Kinder sagten etwa zu ihren Freunden, dass man eine Jüdin nicht mögen darf, und als der Krieg ausbrach, haben die Nachbarn sie und ihre Familie an die Deutschen verraten. Das war ein großer Schock für sie, sie war damals erst 14 Jahre alt. Sie hat in Auschwitz ihre Mutter verloren, die dort im Alter von 36 Jahren getötet wurde. Für meine Mutter wäre die Reise dorthin sehr belastend gewesen. Mein Vater scheint damit etwas weniger emotional umzugehen, ich weiß nicht, warum. In einem anderen Video, das wir auf der Reise gemacht haben, stehen wir in einem der Viehwaggons, die für die Deporationen genutzt wurden, mein Vater steckt den Kopf aus dem Fenster, und er schauspielert, er ruft Dinge aus dem Wagen, als spiele er die Deportation nach, und manchmal lacht er. »Wie kannst du darüber lachen«, fragt dann eines der Kinder, und er sagt: »Wenn mir hier vor 60 Jahren jemand gesagt hätte, in 60 Jahren kommst du hier mit deinen Enkelkindern her, ich hätte gesagt: Was redest du?« Und darüber lacht er.
Hat Ihrer Mutter das Video gefallen?
Ja. Es gab ja viele Leute, die das Video sehr empört hat, viele Holocaust-Überlebende fanden es geschmacklos. Also wollte ich von ihr wissen, was sie dazu sagt, und sie sagt: »Wir kamen aus der Asche – und jetzt tanzen wir.«
Wenn man das Wort »Holocaust-Überlebender« hört, denkt man an Trauma, an traumati­sierte Kinder und an das angeblich verbreitete Schuldgefühl derer, die überlebt haben, während so viele andere sterben mussten. Wie gingen Ihre Eltern mit dieser Vergangenheit um?
Bis ich etwa 18 Jahre alt war, haben wir darüber nicht wirklich gesprochen. Meine Eltern lebten nach dem Krieg vier Jahre in München, mein Vater studierte danach Architektur in Vietnam, floh dann vor dem Bürgerkrieg, und schließlich kamen meine Eltern nach Australien. Bei der Ankunft waren sie beide Anfang 20 und hatten nur ein paar Münzen und einen Koffer, und sie hatten meine damals vier Jahre alte Schwester dabei. Sie haben jahrelang nur gearbeitet. Das Einzige, was sie nach meiner Erinnerung außerhalb der Arbeit gemacht haben, war, Tanzpartys zu geben. Als ich älter wurde und meine Eltern ihr Leben etwas langsamer führten, kamen die alten Geschichten hoch. Insbesondere für meine Mutter war es sehr hart, darüber zu reden. Mir wurde mehr und mehr klar, was das alles bedeutet. Dann fragte ich mich, ob ich auch traumatisiert bin, was woher kommt und so weiter. Mir wurde dann mehr bewusst, was es bedeutet, jüdisch zu sein und mit Vorurteilen konfrontiert zu werden, und dann fragt man sich irgendwann: Was würde ich denn von Juden denken, wenn ich nicht selber Jüdin wäre? Und wo verläuft diese Grenze zwischen den »Monstern« und den »Heiligen«? Vorher hatte ich mich nicht als Überlebende aus der zweiten Generation gesehen, aber dann merkte ich, dass ich durch die Geschichte meiner Eltern auf jeden Fall geprägt bin.
Ihr Video versucht, den Begriff des »Überlebenden«, der vor allem mit Trauma verbunden wird, mit der Freude, am Leben zu sein, zu füllen. Funktioniert das?
Ich denke, ja. In »Dancing Auschwitz« blicken wir erst nach unten, am Anfang tanzen wir nur ganz verhalten, wir zeigen unseren Respekt vor den Toten. Vor dem Tanzen wollte mein Vater das Kaddisch beten, ein jüdisches Totengebet, das man aber nur sprechen kann, wenn zehn Juden zusammen für die Toten beten, und wir waren nicht genug. Er traf dann einen Rabbi aus Amerika, und zusammen haben sie das Totengebet gesprochen, meinen Vater hat das sehr bewegt. Und danach wollten wir das Überleben feiern. Feiern, dass sie überlebt haben, Kinder bekommen haben und die wieder Kinder bekommen haben, und dass das Leben weitergeht, trotz der schrecklichen Vergangenheit.
Aber tanzen Sie da nicht auf den Gräbern all der Toten, die nicht das Glück hatten zu überleben?
Das haben uns viele Menschen vorgeworfen, insbesondere aus der jüdischen Gemeinde in Melbourne, in der es viele Holocaust-Überlebende gibt. Ich kann es verstehen und muss es akzeptieren. Es tut mir leid, diese Menschen verletzt zu haben, aber ich denke, dass dieses Video die Erinnerung an das Geschehene wachhält und zum Nachdenken anregt, auch weil es so kontrovers ist. Ich würde mir in Auschwitz ja nicht die Kleider vom Leib reisen und einfach nur tanzen, um zu tanzen. Aber das ist ein Tanz gewesen für die kommenden Generationen, egal ob jüdisch oder nicht, ein Tanz, der das, was passiert ist, in Erinnerung halten soll, der dabei aber in die Zukunft gerichtet ist und die Freude am Leben betont.
Ihnen wurde auch vorgeworfen, Sie beabsichtigten mit der Provokation nur, Ihre Bekanntheit als Künstlerin zu steigern und Ihre Karriere voranzubringen. Haben Sie erwartet, dass das Video so provokativ und damit so erfolgreich sein würde?
Nein, überhaupt nicht. Ich war mir lange nicht klar, ob ich es auf Youtube stellen solle oder nicht, ich habe es im November 2009 gemacht und erst im Januar 2010 online gestellt, obwohl mir meine Mentoren und Kollegen davon abrieten, da ich damit mein Kunstwerk zu billig verkaufen würde. Aber um Geld ging es mir nicht, man kann mit Videokunst ohnehin nicht viel verdienen. Mir war es wichtiger, dass es Leute sehen können. Ich dachte aber nicht, dass es so viele Menschen ansehen würden, auch wenn Künstler natürlich immer ihr Werk möglichst vielen Menschen zeigen wollen. Ich habe es immer gehasst, Selbstvermarktung zu betreiben und mich um Public Relations zu kümmern, auch wenn man das als Künstler machen muss, wenn man davon leben will. Durch dieses Video habe ich jetzt jede Menge Public Relations am Hals, aber um Ruhm ging es mir nicht.
Warum haben Sie ausgerechnet in Auschwitz getanzt? Israel oder andere Orte jüdischen Lebens sind doch viel eher ein Triumph über die Vernichtungspläne der Nazis. Wären das nicht geeignetere Orte zum Feiern als die Konzentrationslager, die für die Vernichtung stehen?
Natürlich könnte man das in Israel tun, ich dachte auch, ich könnte mit meiner Familie oder mit noch mehr Leuten vor der Klagemauer tanzen, aber für mich steht in Israel der Konflikt im Vordergrund und die ungelöste Frage, wie Juden und Palästinenser friedlich zusammenleben können. Ich habe in Auschwitz die Möglichkeit genutzt, etwas zu machen, das mit der Geschichte meiner Familie zu tun hat und darüber hinaus viele interessante Aspekte hat, aber ich bin nicht nach Auschwitz gefahren, weil ich dachte, dass sei der ideale Drehort für einen Tanzfilm.
Deutsche Neonazis verlinkten Ihr Video und kommentierten, sie würden auch nach Au­schwitz fahren, um dort auf den Gräbern zu tanzen. Andere kommentierten, das Video zeige, dass Auschwitz ja harmlos gewesen sei. Haben Sie viele antisemitische Reaktionen auf ihr Video bekommen?
Jetzt ist das Video aufgrund von Urheberrechtsfragen zum hinterlegten Song leider nicht mehr auf Youtube verfügbar, und man kann auch die vielen Kommentare dort nicht mehr nachlesen. Am Anfang kamen Tausende antisemitische Kommentare. Viele Nazi-Seiten auf der ganzen Welt haben das Video verlinkt und kommentiert, ich habe diese Kommentare dann per E-Mail bekommen, etwa »Stirb, Jude«.