Erinnert an das Fehmarn-Festival 1970

Als Love and Peace in Flammen aufgingen

Vor 40 Jahren wurden auf dem Fehmarn-Festival die Sechziger zu Grabe getragen.
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Fehmarn ist Deutschlands geruhsame Sonneninsel. Am ersten September-Wochenende 1970 aber war das touristische Ostsee-Eiland ein schicksalhafter Schauplatz der Rock-Geschichte. Denn die drei Tage des »Love And Peace«-Festivals auf Fehmarn erzählen in verdichteter Form von einer Zeitenwende: vom euphorischen Pop der späten Sechziger zum heftigen Rock der Siebziger, von der idealisierten Versöhnung zum propagierten Konflikt. Im Feuerschein abgefackelter Wohncontainer versank am Fuße des Leuchtturms Flügge das Wassermann-Zeitalter buchstäblich im Schlamm. Dass Jimi Hendrix, der größte musikalische Held der drei Jahre, die dem »Summer Of Love« 1967 gefolgt waren, ausgerechnet hier seinen allerletzten großen Auftritt absolvierte, gab dem Desaster im Nachhinein ein nahezu endzeitliches Flair.
So überlieferten es auch die Zeitzeugen, die die Hendrix-Legende gern als die eines heiligen Toren der Rockmusik erzählen. »Und dann geschah das Wunder von Fehmarn: Jimi Hendrix bestieg die Bühne – und nach zweieinhalb ­Tagen Sturm und Dauerregen brach die Sonne durch die schwarze Wolkenwand«, erinnerte sich beispielsweise Festivalbesucher Karl-Heinz Körner auf Spiegel Online. Übergroß bleibt Hendrix, der zwölf Tage nach dem Gig auf der Ostsee-Insel an einer Überdosis Rotwein und Schlaftabletten starb, auch in allen anderen Erzählungen und Dokumentationen über das Festival. Der Gitarrenhexer wurde zum nachträglichen Sinnbild für die plötzlich verlorene Unschuld des Blumenkind-Zeitalters.
Bei der Suche nach den Ursachen für einen derartigen popkulturellen Gezeitenwechsel kommt früher oder später das Stichwort Kommerzialisierung auf. Diese aber war bestimmt nicht die Ursache für den nasskalten Reinfall auf Fehmarn. Anders als in Woodstock hatten die Veranstalter Helmut Ferdinand (damals 33, Ingenieur), Christian Berthold (damals 28, Gastwirt) und Tim Sievers (damals 30, VWL-Student) den Hippie-Hype nicht unter-, sondern überschätzt: Denn obwohl Beate Uhse einen Vorschuss von 200 000 Mark gab und ihre deutschlandweit damals 20 Sexshops als Vorverkaufsstellen zur Verfügung stellte, und obwohl zehn Busse von Kiel aus gestartet waren, um im ganzen nördlichen Europa Plakate aufzuhängen, Autoaufkleber zu verteilen und eine Festivalzeitung zu verkaufen, waren im August 1970 gerade erst 10 000 Tickets für das Festival weg­gegangen.
Zu wenig, um international bekannte Bands wie Ten Years After und Procol Harum davon zu überzeugen, dass ihre Gagen sicher wären; sie sagten kurzfristig ab, ebenso wie Taste, Cactus und Colosseum. Der namhafte britisch-deutsche Blues-Gitarrist Alexis Korner hatte als Festival-Moderator deshalb von Anfang an die undankbare Aufgabe, die Besucher über schier endlose Pausen hinweg zu trösten, Ausfälle zu erklären und dem eher auf zeitgenös­sischen Mainstream-Rock abonnierten Publikum diverse, als Lückenbüßer engagierte deutsche Underground-Bands als gleichwertigen Ersatz zu verkaufen.
Das Auditorium erwachte jedoch immer nur dann aus seiner Lethargie, wenn es doch noch Helden der zurückliegenden Epoche zu hören gab. Canned Heat holten die Leute aus ihren Schlafsäcken und Kleinwagen, ebenso wie die Band des Cream-Schlagzeugers, Ginger Baker’s Airforce. Wie anders klangen im Gegensatz dazu die avantgardistischen Elektronik-Pioniere Kluster, deren damalige LP »Klopfzeichen« bis heute als akustisches Wagnis gilt, oder gar ­Peter Brötzmann, dessen Repertoire die übergroße Mehrzahl der Fehmarn-Besucher besonders nervte. Warum, kann man gut auf dem Brötzmann-Album »Machine Gun« (1968) hören, das diesen Namen durchaus zurecht trägt und als eines der forderndsten Alben der deutschen Jazz-Geschichte gelten kann.
Dennoch ging das Festival am Freitag und Samstag trotz der Ausfälle populärer Bands einigermaßen glatt über die Bühne. Die Leute war­teten in durchnässten Schlafsäcken auf Jimi Hendrix und ertrugen dafür nicht nur das schlechte Wetter, sondern auch die Schikanen der Hamburger Hell’s Angels, die sich in Gangster-Manier selbst zum Ordnungsdienst des Festivals aufgeschwungen hatten. Der Gitarren-Heros erschien schließlich tatsächlich am Sonntag gegen ­Mittag, spielte erwartungsgerecht seine Hits wie »Hey Joe«, »Purple Haze« und »Voodoo Chile« und entschwand mit seiner Entourage sofort, nachdem das letzte Riff verhallt war. Ihm gleich taten es 75 Prozent der Festivalbesucher, zumindest versuchten sie es; denn es war nicht leicht, zu den Autos zu kommen und dann mit ihnen von der Insel.
Das sich rasch leerende, morastige Gelände, auf dem Teile der Bühne und die Latrinen-Häuschen bereits in der Nacht zuvor verfeuert worden waren, wirkte wie eine Horror-Karikatur auf das propagierte Hippie-Idyll. Auf der Bühne begann derweil tatsächlich das neue Jahrzehnt: Floh de Cologne brachten deutschsprachigen Prolet-Kult im Rock-Gewand auf die Bühne, Embryo und Limbus 4 setzten auf lange, multi-instrumentelle Improvisationen, die nichts mehr mit bisher bekanntem Pop, nichts mehr mit Blues oder den Beatles zu tun hatten. Als schließlich gegen Abend die Roten Steine, später bekannt als Ton Steine Scherben, vor gerade noch 4 000 Zuhörern ihre zornbebenden Texte herausschrien zu Rock, der in Sachen Härte den amerikanischen Vorbildern Stooges oder MC5 nicht nachstand, eskalierte die Situation. Die Veranstalter hatten sich mit der mageren Kasse abgesetzt, ohne ausstehende Löhne und Gagen zu zahlen, die Container für Management und Musiker brannten lichterloh, und die Scherben spielten dazu »Macht kaputt, was Euch ­kaputt macht«.
Ein Generationenwechsel war vollzogen: Viele von denen, die nach Jimi Hendrix das Festival verließen, demonstrierten damit deutlich ihr Desinteresse an den musikalischen Entwicklungen, die die nächsten Jahre bringen sollten. Heute dürften sie wahrscheinlich zu der Sorte 60jähriger zählen, die stur Bob Dylan, Janis Joplin und Jimi Hendrix als letzte Worte der Popgeschichte ansehen. Für die anderen, die Minderheit, die blieb, bis es brannte, begann dagegen ein radikales, wirres, dunkles und schrill klingendes Musik-Jahrzehnt: die siebziger Jahre.