Die politische Frühgeschichte des Fußballs

Krieg im Frieden

Seit zwei Wochen haben sich die Kneipen wieder in Fanlokale verwandelt: Die Bundesliga hat begonnen. Aus diesem Anlass unternimmt Bernd Reinink einen Streifzug durch die politische Frühgeschichte des Fußballs.

Die Idee, Auswahlmannschaften aus den besten Spielern eines Landes zu bilden und diese gegen­einander antreten zu lassen, hat dem Fußball früh zu großer Popularität verholfen. Schon neun Jahre nach der Aufstellung der ersten verbindlichen Regeln, die 1863 anlässlich der Gründung der englischen Football Association festgelegt worden waren, fand das erste Länderspiel statt: Am 30. November 1872 trennten sich Schottland und England in Glasgow 0:0. Als Ausdruck einer vermeintlich schottischen bzw. englischen Identität gewannen diese Länderspiele rasch an Bedeutung. Schon in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts reisten Zehntausende schottische Schlachtenbummler in Sonderzügen zu den Spielen um die britische Meisterschaft, ein Wettbewerb, der unter den vier bri­tischen Nationalverbänden England, Schottland, Wales und Irland (später Nordirland) ausgetragen wurde. Fußball und Nationalismus gingen – zum beiderseitigen Vorteil – eine Liaison ein, die bis auf den heutigen Tag besteht. »Der Sport zwingt zum steten Vergleichen mit dem Können anderer, und die Berührungen mit fremden Nationen mehren sich täglich. Da wird das Bewusstsein wach, deutsches Können zu vertreten, und der Krieg im Frieden wird zur besten Schule angewandten Vaterlandsstolzes«, heißt es programmatisch im deutschen »Fußball-Jahrbuch« von 1912. Die Auffassung, ein Fußballländerspiel komme einem »Krieg im Frieden« gleich, ist also keineswegs eine Erfindung der zeitgenössischen britischen Boulevardpresse. Fußball als Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln – das wurde im deutschen Kaiserreich nicht als Kritik, sondern als Auszeichnung verstanden.

Treue und Hygiene

Eine Werbeschrift für die Einführung des Fußballs in Deutschland von 1882 preist das Spiel folgendermaßen an: »Zwei Parteien von gewöhnlich je elf Kämpfern befinden sich im Kriegszustande. Es handelt sich darum, einen großen Lederball vermittels der Füße auf feindliches ­Gebiet und womöglich in das Heiligtum des Feindes, den durch die beiden Pfähle gekennzeich­neten ›Stand‹ zu bringen. Gelingt dies auf regelrechte Weise, so ist ein ›Stand‹ gewonnen, und die Anzahl der gewonnenen beziehungsweise verlorenen ›Stände‹ entscheidet über Sieg und Niederlage. Zum Verständnis der unten folgenden Regeln bemerken wir noch, dass jede Partei unter einem ›Kapitän‹ respektive Führer steht, der seine Kräfte über das Feld verteilt. In erste Linie, nahe dem zu erwartenden Ball, wird er einen oder zwei geschickte, ausdauernde und offensiv tüchtige Spieler stellen, dann wird das Gros seiner Armee folgen, er selbst sich in der Rückgarde derselben halten, um im Falle der Not wirksam einer drohenden Gefahr entgegenzutreten.« Von Beginn an hatten die deutschen Fußballpioniere, deren Sport von Nationalkonservativen zunächst als »undeutsch« und »Engländerei« abgelehnt wurde (als »deutsch« galt das Turnen), die gesellschaftliche Akzeptanz des Spiels dadurch zu erhöhen versucht, dass sie seinen Nutzen für das Militär und ihre eigene tadellose nationale Gesinnung herausstrichen. »Der Sport«, so dekretierte etwa der bedeutende Fußballfunktionär Carl Diem, der 1920 Mitbegründer der Deutschen Hochschule für Leibesübungen in Berlin war, »steht auf deutsch-vaterländischem Boden, wo sollte er auch sonst stehen! Was bei uns geleistet wird, ist gute deutsche Arbeit und bewusste deutsche Arbeit. Auch bei uns singt man deutsche Lieder und hält mit deutscher Treue zur Sache.«
Ganz in diesem Sinne war eines der vordringlichen Ziele des 1900 gegründeten Deutschen Fußball-Bundes (DFB) der Kampf gegen die Anglizismen. »Man will auf den deutschen Spielplätzen gut deutsche Kunstausdrücke einführen und jenes hässliche Kauderwelsch, das leider dort vielfach herrscht, gänzlich ausrotten«, erklärte der Zentralausschuss für Volks- und ­Jugendspiele die Absichten des Fußballverbandes. In enger Zusammenarbeit mit dem Deutschen Sprachverein wurden Regelbroschüren und »Verdeutschungstafeln« erstellt. Auch sonst schrieb sich der DFB die »Hygiene« auf seine Fahnen: Sein erster Vorsitzender war Prof. Dr. Ferdinand Hueppe, ein anerkannter Bakteriologe und Rassenhygieniker, der in seinen Schriften die »europäischen Edelvölker« den »asiatischen Herdenvölkern« gegenüberstellte und davor warnte, die »Rassemischung in unserem Volke« könne die »hohen Charaktereigenschaften des vorherrschenden arischen Teils« desselben derart in Mitleidenschaft ziehen, dass es eine »Beute minderwertiger Völker« werde. Es sollte aber nicht unterschlagen werden, dass in der Frühzeit des DFB unter den Aktiven und Vereinsfunktionären auch viele Juden waren, die im DFB weit besser gelitten waren als in den studentischen Burschenschaften oder in der Turnbewegung.
Seinen Durchbruch zum Massensport verdankte der Fußball in Deutschland freilich dem Ersten Weltkrieg. Unter den Bedingungen des Stellungskriegs avancierte er zur beliebtesten Freizeitbeschäftigung unter den Frontsoldaten. Da er der Hebung der Truppenmoral sowie der generellen Wehrkrafterhaltung dienlich schien, wurde Fußball von den Militärs kräftig gefördert; die Fußballleidenschaft ging soweit, dass, wie ein General missbilligend registrierte, das Spiel mit der Zeit »das militärische Leben bei einzelnen Truppen mehr beherrschte als der nüchterne Dienst mit der Waffe«. War Fußball bis 1914 vor allem ein Sport anglophiler, bürgerlicher Eliten (Akademiker, Kaufleute, Ingenieure, Oberschüler), fasste er im Weltkrieg in der Arbeiterklasse Fuß. In der Folge stieg die Zahl von Aktiven und Zuschauern nach dem Krieg sprunghaft an. Trotz der hohen Verluste an Menschenleben gerade in der Hauptzielgruppe der jungen Männer verfünffachte sich die Mitgliederzahl im DFB von 161 000 im Jahr 1913 auf 780 000 im Jahr 1921.
Ähnliches gilt auch für die anderen kriegführenden Mächte in Europa, etwa für Österreich-Ungarn, dessen Nachfolgestaaten in den zwanziger Jahren zu den allerersten Adressen des Weltfußballs zählten, nachdem zahllose Soldaten das Fußballspiel an der Front kennengelernt hatten. In Frankreich ließen die inneralliierten Duelle zwischen französischen und englischen Soldaten Fußball aus dem Schatten des ungleich populäreren Radsports treten. Auch in Russland stand Sport unter der Ägide des Militärs. Als 1912 eine russische Auswahl beim Olympischen Fußballturnier eine 0:16- Schlappe gegen die damals zweitklassige deutsche Elf erlitt, wurde der Spielverkehr mit anderen Nationen bis zum Ende der Zarenzeit eingestellt und ein ehema­liger General der Infanterie zum »Obersten Inspektor für die physische Erziehung der Bevölkerung im Russischen Reich« ernannt. Sport sollte die Russen physisch auf die Strapazen des Krieges vorbereiten und die Leistungsfähigkeit ihrer Armee heben. Die Sowjetbehörden knüpften nach der Oktoberrevolution nahtlos daran an und unterstellten während des Bürgerkriegs Vereine und Sportanlagen direkt dem Militär.

Modernität statt Krämergeist

Zum Fußball hatten die Bolschewiki ein ambivalentes Verhältnis. Der Sport als solcher war bei Parteifunktionären beliebt, er galt als modern und fortschrittlich und wurde (nachdem er vor der Revolution vor allem von Ausländern betrieben worden war, die in Russland geschäftliche Interessen verfolgten) zunehmend unter den einheimischen Arbeitern populär. Außerdem sollte er dazu beitragen, die Menschen in den rückständigen Regionen aus ihrer Lethargie zu reißen und mit den Errungenschaften der Moderne zu konfrontieren. Nicht überall war den sow­jetischen Behörden dabei Erfolg beschieden. Die Führer der Muslime nutzten die Einführung des Fußballs in den zentralasiatischen Republiken zu antikommunistischer Hetze. Mehr Glück als bei den Mullahs hatten die Fußballer beim Generalsekretär der KPdSU. Am »Tag des Sportlers« 1936 wurde vor dem Kreml ein grüner Filzteppich ausgelegt, um einen Schaukampf zwischen Spartaks erster Mannschaft und seiner Reserve auszutragen (die ursprünglich vorgesehenen Spieler von Dynamo wurden zurückgezogen, da der Geheimdienst, dem Dynamo unterstand, die Konsequenzen fürchtete, sollte der Ball versehentlich die Kremlmauer oder Stalins Kopf treffen). Davon ausgehend, dass Stalin noch nie ein Spiel gesehen hatte, verabredete man untereinander, ein wahres Spektakel unterschiedlicher Tore (nach Hackentricks, Elfmetern, Kopfbällen etc.) zu inszenieren; die erste Mannschaft sollte 4:3 gewinnen. Angeblich amüsierte sich Stalin so gut bei dem Spiel, dass es 43 Minuten statt der geplanten halben Stunde dauerte.
Reserviert standen die Kommunisten aber zunächst dem Fußball als Wettkampfspiel und Zuschauersport gegenüber: In dieser Form begünstige er Habgier und Krämergeist, dränge die Massen in eine passive Zuschauerrolle und befördere nationalen Chauvinismus. Darin befanden sie sich im Einklang mit der Arbeitersport­bewegung, die 1925 (in Frankfurt) und 1931 (in Wien) eigene Olympiaden durchführte, bei denen auf Nationalsymbole verzichtet wurde und das Gewinnen in den Hintergrund treten sollte. Man sollte sich allerdings hüten, insbesondere die deutsche Arbeitersportbewegung, die den Fußball lange Zeit mit ähnlich spießig-reaktionären Argumenten wie die Turnerschaft als bürgerliche Entartung abgelehnt hatte (was ein bezeichnendes Licht auf die wertkonservative Ausrichtung und doktrinäre Starre der deutschen Arbeiterbewegung insgesamt wirft), in ihrer Fortschrittlichkeit zu überschätzen: Auch bei den Arbeiterolympiaden traten Ländervertretungen gegeneinander an. 1932 richtete man sogar eine erste Europameisterschaft aus, bei der der deutsche Arbeitersport durch den sozi­aldemokratischen Flügel, den Arbeiter Turn- und Sportbund (ATSB), vertreten wurde, und die Polemik der Arbeiterpresse gegen das Berufsspielertum unterschied sich nur in Nuancen von der Amateurismusideologie des rechtskonservativen DFB. Kommunistische Sportler waren seit 1928 aus dem ATSB ausgeschlossen worden. Sie gründeten 1929 einen eigenen Verband, die Kampfgemeinschaft für Rote Sporteinheit (KG). Insgesamt waren fast 130 000 Fußballer im ATSB und 30 000 in der KG aktiv.
Im Zuge der Stalinisierung wurde in der UdSSR der Wettkampfcharakter des Fußballs schon bald nicht mehr in Frage gestellt; im Gegenteil, schien er doch bestens geeignet, der Bevölkerung die Sorgen eines eher trostlosen sozialistischen Alltags zu vertreiben und die Leistungsfähigkeit des »neuen Menschen« zu demonstrieren. Mannschaftssportarten wie Fußball wurden nun nach Kräften gefördert. Wichtige Spiele wurden auf politische Feiertage gelegt, die Behörden und Institutionen von Staat und Partei (Polizei, Geheimdienst, Parteijugend, Gewerkschaften) übernahmen die Schirmherrschaft über die Clubs, deren Spieler (offiziell Amateure) unter professionellen Bedingungen trainieren konnten. Dabei scheuten hochrangige Funktionäre vor direkten Interventionen nicht zurück: Als 1938 Spartak Moskau Lawrenti Berijas Lieblingsmannschaft Dynamo Tiflis im Halbfinale des sowjetischen Pokals nach einem umstrittenen Tor aus dem Wettbewerb beförderte, ordnete das ZK der KPdSU eine Wiederholung des Spiels an, obwohl Spartak in der Zwischenzeit das Finale gewonnen hatte. So kam es zu dem einmaligen Vorgang, dass ein Halbfinale nach dem bereits gespielten Endspiel ausgetragen wurde. Wieder behielt Spartak die Oberhand. Diesen neuerlichen Affront sollten die Spieler büßen – Berija, der vor Wut seinen Stuhl von der Tribüne geschleudert haben soll, versuchte umgehend, Spartaks beste Akteure, die vier Brüder Starostin, vor Gericht zu stellen. Jedoch weigerte sich Außenminister Molotow, dessen Tochter mit den Starostins befreundet war, den Haftbefehl zu unterschreiben. Berija musste seine Rache aufschieben. Unter dem Vorwand, sie hätten versucht, den sowjetischen Sport mit »bourgeoiser Moral« zu verderben, wurden die Brüder 1942 festgenommen und zu zehn Jahren Zwangsarbeitslager verurteilt. Erst nach Stalins und Berijas Tod 1953 wurden sie rehabilitiert.
Fußball hatte in der multiethnischen Sowjetunion auch die Funktion, einen gesamtsowje­tischen Patriotismus zu festigen. Dies gelang nicht durchgängig; gerade im Rahmen der Spiele von Moskauer Mannschaften bei Ararat Eriwan, Dynamo Tiflis oder Dynamo Kiew kam es im Stadion immer wieder zu nationalistischen Sprechchören. Das Phänomen, dass sich selbstethnisierte Gruppen, die sich von der eigentlichen Nationalmannschaft nicht repräsentiert fühlen, bestimmte Vereinsmannschaften zum Vorbild erheben, lässt sich auch anderswo beob­achten: in der k.u.k. Monarchie bei den Spielen zwischen Slavia Prag und den Wiener Vereinen, im ehemaligen Jugoslawien bei denen zwischen Dinamo Zagreb und den Belgrader Vereinen Roter Stern und Partizan sowie im heutigen Spanien bei den Spielen des FC Barcelona oder Athletic Bilbao gegen Real Madrid.
Von diesen Ausnahmen abgesehen, sind die bedeutendsten Träger einer Kollektividentität im Fußball, die den Individuen im nationalen Vergesellschaftungsprozess als scheinbar alternativlos aufgezwungen wird, natürlich die Nationalmannschaften. Zwischen Dortmund und Schalke, Tottenham und Arsenal, Benfica und Sporting, Boca und River kann man sich entscheiden, gegen »seine« Nationalmannschaft nicht. Wer etwa als Deutscher bei einer Weltmeisterschaft in einer Kneipe zu erkennen gibt, der DFB-Auswahl die Niederlage zu wünschen, wird auf Unverständnis stoßen, nicht nur bei den anwesenden Deutschen, sondern auch bei den anwesenden Dänen, Engländern, Argentiniern und Portugiesen. Die eigene Fußballnationalmannschaft gilt als einer der wichtigsten Beweise für die Existenz einer Nation, ganz im Sinne eines Ausspruchs des ehemaligen österreichischen Bundeskanzlers Bruno Kreisky: »Wir haben eine Nationalbank, und wir haben eine Nationalmannschaft – also sind wir eine Nation.« Nicht zufällig gehört heutzutage der Beitritt zur Fifa zu den ersten Gründungsakten souveräner Staaten.

Fußball als Freizeitkultur

Die zunehmende Akzeptanz des Fußballs, der nach dem Ersten Weltkrieg neben dem Kino zu einem der wichtigsten Elemente der modernen Freizeitkultur wurde, führte in Verbindung mit dem sich ausweitenden Länderspielverkehr dazu, dass sich seit den zwanziger Jahren in Europa und Südamerika Regierungen und Verbände Gedanken um die Wettbewerbsfähigkeit des eigenen Fußballs machten und die Infrastruktur des Fußballs gezielt stärkten, etwa durch den Neubau von Stadien oder die Einführung des Berufsspielertums. Fußballsiege in Länderspielen wurden nun zum Sinnbild nationaler Stärke, Niederlagen zum Zeichen von Schwäche. Noch schlimmer als zu verlieren ist allerdings, die Ehre der Nation durch schlechtes Benehmen auf und neben dem Platz zu beschmutzen, wie seit der WM 2010 auch die Franzosen wissen. Sich vor dem Ausland keine Blöße zu geben, war jedenfalls das Ansinnen des brasilianischen Staatspräsidenten Epitácio Pessoa, der 1919, als Brasilien mit dem überragenden Farbigen Artur Friedenreich seine erste Copa América gewann, verfügte, dass künftig nur noch weiße Spieler das Land bei Südamerika-Meisterschaften vertreten dürften, selbst wenn das die Siegchancen reduzieren würde. Im Selbstverständnis der Herrschenden war Brasilien das weißeste und zivilisierteste Land des Subkontinents, weshalb Pessoa befürchtete, ein farbiger Repräsentant könne Schande über das Land bringen. Als 1923 mit Vasco da Gama erstmals eine fast ausschließlich aus Nichtweißen bestehende Mannschaft die Meisterschaft von Rio gewonnen hatte, bildeten die etablierten Clubs in Rio einen Amateurverband, der nicht nur jegliche Form von Profifußball untersagte, sondern auch die Teilnahme von Spielern, die in minderbezahlten Berufen, etwa als Fahrer oder Kellner, tätig waren. Im übrigen versuchte man die Aufnahme schwarzer Spieler durch die Regelung zu verhindern, dass alle Spieler vor dem Spiel eigenhändig den Spielberichtsbogen zu unterschreiben hatten, womit Schwarze und Farbige – fast ausnahmslos Analphabeten – praktisch ausgeschlossen waren.
Auch für die Deutschen ging es nach dem Ersten Weltkrieg weniger um Siege als darum, überhaupt Länderspiele austragen zu können. Gemäß dem Motto »Ein Krieg ist kein Fußballmatch, nach dessen Beendigung man sich die Hände schüttelt«, weigerten sich die alliierten Sieger nämlich zunächst, die Sportbeziehungen zu dem Land, das man für den Ausbruch des Kriegs verantwortlich machte, einfach fortzuführen. Sie versuchten, Deutschland sportpolitisch zu isolieren. Als die Schweiz 1920 den Länderspielboykott gegen den DFB brach, drohten Großbritannien, Frankreich und Belgien mit einem Boykott gegen den Schweizer Fußballverband (SFV). Nachdem dieser sich aber davon nicht hatte beeindrucken lassen, beantragte die Football Association den Ausschluss Deutschlands aus der Fifa. Der Antrag wurde jedoch abgelehnt, und so trat Großbritannien, immerhin Mutterland des Fußballs, seinerseits aus dem Weltverband aus. Allerdings wurde Deutschland die Teilnahme an den Olympischen Spielen 1920 in Antwerpen und 1924 in Paris untersagt. Zwei bzw. sechs Jahre, nachdem große Teile Flanderns und Nordfrankreichs von der kaiserlichen Armee verwüstet worden waren, erschien es niemandem zumutbar, die deutsche Fahne auf dem Grote Markt der 1914 bombardierten Stadt oder unter dem Eiffelturm gehisst zu sehen. Seit Mitte der zwanziger Jahre fanden dann aber – infolge der zwischenzeitlichen außenpolitischen Entspannung – wieder Spiele deutscher gegen französische und britische Teams statt, die großes Interesse in der Öffentlichkeit hervorriefen.
Politisch vorgeblich neutral, stand die Verbandsspitze des DFB auch in den zwanziger Jahren zu großen Teilen stramm rechts. Die heim­lichen Präferenzen lassen sich daran veranschaulichen, dass der Verband durch großformatige Werbeanzeigen die rechtsradikalen Freikorps unterstützte, die zum offenen Terror gegen die radikale Linke eingesetzt wurden (in den Folgemonaten der Niederschlagung des Spartakusaufstands 1919 wurden Tausende von revolutionären Arbeitern ermordet) und die in den nach den Bestimmungen des Versailler Vertrags abgetretenen ehemaligen Reichsgebieten im Osten ihr Unwesen trieben. Die berüchtigte Marinebrigade Ehrhardt spielte gegen DFB-Vereine, Schalke 04 bestritt sein erstes Nachkriegsmatch gegen das Freikorps Hacketau, das gegen Erhebungen und Streiks von Bergleuten in Bocholt, Münster und Düsseldorf eingesetzte und an zahlreichen Fememorden beteiligte Freikorps Oberland trainierte auf dem Sportplatz des TSV 1860 in München. Da die Reichswehr nach den Bestimmungen des Versailler Vertrags auf 100 000 Soldaten beschränkt war, kam dem Sport eine besondere Funktion zu: Er sollte nicht nur die Frontsoldaten ins zivile Leben eingliedern, sondern auch die Wehrfähigkeit der jungen Männer gewährleisten, die nun nicht mehr in den Genuss der Segnungen einer allgemeinen Wehrpflicht kamen. Innerhalb der im DFB organisierten Vereine allerdings herrschte weitgehend die Auffassung vom Fußball als unpolitischem Freizeitvergnügen vor.
Nach dem Erfolg der olympischen Fußballturniere von 1924 und 1928 beschloss die Fifa bei ihrer Sitzung in Amsterdam 1928, ein Weltturnier in Eigenregie auszurichten – um zwei Jahre versetzt und ebenfalls im Vier-Jahres-Rhythmus. Die Suche nach einem Gastgeber für die erste Austragung gestaltete sich schwierig. Zwölf Monate vor Beginn des Turniers war immer noch kein Ausrichter gefunden. Beim Vergabekongress in Barcelona am 18. Mai 1929 fiel die Wahl dann auf Uruguay, das wegen seiner politischen und ökonomischen Stabilität als »Schweiz Südamerikas« bekannt war, sich durch zwei überlegen herausgespielte Goldmedaillen bei den vorigen beiden olympischen Fußballturnieren in Europa einen Namen gemacht hatte und 1930 die Hundertjahrfeier seiner Unabhängigkeit beging. Während in Montevideo das hypermoderne Centenario-Stadion für 100 000 Zuschauer im Rekordtempo aus dem Boden gestampft wurde, erschien den Europäern indes die zweiwöchige Anreise mit dem Schiff zu lang. Zwei Monate vor dem Turnier lag noch immer keine einzige Anmeldung aus Europa vor. Besonders erbost waren die Uruguayer über die Absage der Niederlande: Noch beim olympischen Turnier in Amsterdam hatten gerade die beiden Vertreter Südamerikas, Uruguay und Argentinien, als Publikumsmagneten den Veranstaltern die Kassen gefüllt. Eine aufgebrachte Menschenmenge zog vor die niederländische Botschaft, verbrannte niederländische Fahnen und skandierte Schmährufe gegen die Königin. Fifa-Präsident Jules Rimet gelang es schließlich, die totale Blamage des Weltverbands abzuwenden und Frankreich, Jugoslawien, Belgien und Rumänien zur Teilnahme zu bewegen. Im Falle Rumä­niens half König Carol II. nach, der die WM-Teilnahme seines Landes zur Chefsache erklärte. Der deutschsprachige König war extrem sportbegeistert. Eine seiner ersten Amtshandlungen soll der Erlass einer Amnestie für alle suspendierten Fußballer gewesen sein. Seine Majestät ließ es sich nicht nehmen, den rumänischen WM-Kader persönlich zu nominieren und dafür zu sorgen, dass die Spieler von ihren Arbeitgebern für die Zeit der WM freigestellt wurden.
Wie bei allen Weltmeisterschaften später auch, hing der Gesamterfolg des Turniers nicht zuletzt vom Abschneiden der Gastgeber ab, und wie bei vielen späteren Austragungen wurde hier von den Schiedsrichtern kräftig nachgeholfen. Unrühmlicher Höhepunkt war das Tor zum 3:1 von Uruguay im Halbfinale gegen Jugoslawien, das Anerkennung fand, obwohl der Ball zuvor klar im Toraus gewesen und von einem hinter dem Tor stehenden Polizisten zurück ins Spielfeld gekickt worden war.
Nachdem die beiden Favoriten Uruguay und Argentinien das Endspiel erreicht hatten, brach in Buenos Aires und Montevideo nahezu Hysterie aus. Kurz nach dem Halbfinale waren bereits alle Fähren über den Rio de la Plata ausgebucht, trotzdem belagerten Zehntausende Fans die Büros der Fährgesellschaften, um ihr Team im Finale zu begleiten. »Argentina sí, Uruguay no – victoria o muerte«, lautete ihr Schlachtruf. Am Finaltag blieben die meisten Büros und Firmen geschlossen. Die Abgeordnetenkammer vertagte ihre Sitzung, da sich die meisten Mitglieder in Montevideo befanden oder vor irgendeinem Radio hockten. Vor den Büros der Zeitungen waren Lautsprecher aufgestellt, vor denen sich über 50 000 Menschen versammelten, um die Radioreportage zu verfolgen. Die aufgeheizte Stimmung in Montevideo selbst lässt sich damit illustrieren, dass rund um das Stadion Soldaten mit Bajonetten postiert waren. Nach dem 4:2-Sieg der Uruguayer herrschte in Montevideo überschäumende Begeisterung, während in Buenos Aires ein frustierter Mob das uruguayische Konsulat mit Steinen bewarf. Die Menge löste sich erst auf, nachdem die Polizei mehrere Schüsse abgegeben hatte. Auch wenn die europäische Presse das Ereignis von oben herab kommentierte, hatte sich die Idee eines Weltturniers damit durchgesetzt.

Mussolinis Foulspiel

Obwohl die erste WM aufgrund der geringen Zahl an Teilnehmern aus Europa noch kein voller Erfolg war, erkannte das faschistische Italien das propagandistische Potential eines solchen Spektakels und scheute keine Mühen, das nachfolgende auszurichten. »Die WM soll den faschistischen Sport mit seinen hohen Idealen glorifizieren und beweisen, dass die faschistische Ideologie für die Reife des Menschen unumgänglich ist und letztlich alles auf die Inspiration des Duce zurückzuführen ist«, verkündete Giorgio Vaccaro, Präsident des italienischen Fußballverbands. Bei dem entscheidenden Fifa-Kongress im Mai 1932 in Stockholm präsentierten die Italiener eine derart überzeugende Bewerbung, dass der letzte verbliebene Konkurrent, Schweden, schon vor der Abstimmung seine Kandidatur zurückzog. Sie versprachen nicht nur eine perfekte Organisation, den kompletten Neubau von acht hochmodernen Fußballstadien in acht Städten, sondern auch die Übernahme sämtlicher Kosten. Sollte das Turnier wider Erwarten mit einem Minus abschließen, werde der italienische Staat das Defizit ausgleichen. In Analogie zum Ausbau der Autobahnen in Deutschland wurde die WM der hohen Staatsverschuldung zum Trotz zur Modernisierung der Infrastruktur genutzt und das Eisenbahnnetz erneuert, was sich wenige Jahre später dann bei den Truppentransporten bezahlt machen sollte. In Turin, Florenz, Triest und Neapel wurden neue Stadien errichtet, das Stadio Nazionale del PNF in Rom sowie das San Siro in Mailand komplett umgebaut und die Stadien in Bologna und Genua umfassend modernisiert. Die Errichtung monumentaler Stadien, die Macht und Größe der Nation repräsentieren, ist geradezu ein Kennzeichen autoritärer Herrschaft: Was für Mussolini das Stadion in Rom war, sollte für Hitler das Olympiastadion in Berlin, für Franco das Bernabéu-Stadion in Madrid und für Salazar das Estádio da Luz in Lissabon werden. Das mit 150 000 Sitzplätzen derzeit weltweit größte Stadion steht übrigens in Nordkorea: das Stadion Erster Mai in Pjöngjang.
Das Turnier, an dem nun mit Ausnahme der britischen alle wichtigen europäischen Verbände teilnahmen, avancierte zu der erwartbaren Propagandashow: Mussolini besuchte alle Spiele in Rom und ließ es sich, von der Menge begeistert gefeiert, nicht nehmen, seine Eintrittskarte bei jedem Spiel selbst zu bezahlen. Abgesehen von den Partien des Gastgebers blieben viele Stadien allerdings leer, unter anderem weil die Eintrittspreise so hoch waren, dass die Tifosi, die italienischen Fuballfans, die nicht zufällig gerade leitende Posten im Staat innehatten, sie sich kaum leisten konnten. Die heutige Ultra-Szene hätte allerdings dennoch an der WM viel Freude gehabt, da sie die Mutter aller Choreos hätte bewundern können. Die deutschen Schlachtenbummler unter den 8 000 Zuschauer des Erstrundenmatchs gegen Belgien erschienen nämlich mit roten und weißen Mützen und wurden dann so gesetzt, dass der ganze Block ein Hakenkreuz bildete. Aufgrund der politischen Spannungen zwischen dem Deutschen Reich und Italien 1934 in Hinblick auf einen möglichen Anschluss Österreichs war die Reaktion des italienischen Publikums auf die deutsche Mannschaft allerdings eher frostig. Mehrheitlich unterstützte es den Gegner.
Aus sportlicher Sicht war das Turnier überschattet von den miserablen Leistungen der Schiedsrichter, die ganz offenkundig von höherer Stelle den Auftrag erhalten hatten, den Gastgeber zum Titel zu eskortieren. Schon im Viertelfinale Italien-Spanien erkannte der belgische Schiedsrichter ein reguläres Tor der Spanier nicht an. Außerdem hätte er mehrere Italiener wegen derben Foulspiels vom Platz stellen müssen – die Spanier beklagten am Ende sieben Verletzte. Dank der Glanztaten von Spaniens Startorhüter Ricardo Zamora endete das Spiel trotz aller Bevorzugung des Gastgebers nur 1:1 nach Verlängerung. Im Wiederholungsspiel, das Italien 1:0 gewann, zeigte der Schiedsrichter gleichfalls ein skandalöses Verhalten: Das Siegtor von Giuseppe Meazza war irregulär, zwei spanische Treffer wurden aus unerfindlichen Gründen nicht anerkannt, und das ganze Spiel über konnten die Italiener treten, wen immer sie treten wollten, ohne dafür gemaßregelt zu werden. Vor dem Finale gegen die Tschechoslowakei in Rom unterhielt sich Mussolini minutenlang mit Schiedsrichter Ivan Eklind. Als er abpfiff, hatte Italien wie von Zauberhand gewonnen. Auf Weisung des Duce durfte die siegreiche Elf danach nie mehr in dieser Formation zusammenspielen; es war Mussolinis Wunsch, dass sie als »ewig unbesiegt« in die Geschichte eingehen sollte.

Schießen für Deutschland

Es verrät einiges über die politischen Vorlieben der Führungsgremien von IOC und Fifa, dass mit Ausnahme der WM 1938 in Frankreich zwischen 1934 und 1942 fast alle großen Sportveranstaltungen an rechtsextreme Diktaturen vergeben wurden bzw. worden wären: die WM 1934 an Italien, die Olympischen Spiele 1936 nach Berlin, die Olympischen Spiele 1940 nach Tokio respektive Helsinki und die WM 1942 – wäre nicht der Krieg dazwischen gekommen – aller Voraussicht nach an Deutschland. Auch wenn Hitler sich anders als Mussolini, der auch Vereinsspiele besuchte, nicht für Fußball interessierte (er bevorzugte Motorsport und war stolzes langjähriges ADAC-Mitglied), waren sich die Nazis der Bedeutung der prestigeträchtigsten Sportart bewusst und nutzten gerade internationale Begegnungen geschickt für ihre Zwecke. »Der Führer will hierauf unter keinen Umständen verzichten, weil der internationale Sportverkehr am schnellsten und nachhaltigsten in der Lage ist, den politischen Brunnenvergiftern und Hetzaposteln das Handwerk zu legen«, betonte Reichssportführer Hans von Tschammer und Osten 1937 in einer Rede.
Freundschaftsländerspiele dienten dazu, der Welt Normalität vorzugaukeln. Auf Siege kam es dabei nicht unbedingt an. Mit Blick auf das skeptische Ausland stand ein vorbildliches Auftreten, das das Bild eines kultivierten, friedliebenden Landes transportieren sollte, im Vordergrund. Die Spiele gegen die ehemaligen (und künftigen) Kriegsgegner Frankreich 1933 sowie die Partien gegen England 1935 und 1938 bedeuteten jeweils große Propagandacoups: Im besten Einklang mit der Appeasement-Politik ihrer Regierung zeigte die englische Elf 1938 dem Berliner Publikum beschämenderweise sogar den Hitlergruß. Die reibungslose Durchführung der Olympischen Spiele 1936 sowie ihre Außenwirkung hatte für die Nazis eine solche Bedeutung, dass sie sogar das Tempo in der weiteren Verschärfung von Judenverfolgung und Aufrüstung drosselten: »Nach der Olympiade werden wir rabiat. Dann wird geschossen. Und 2jährige Dienstpflicht eingeführt«, notierte Goebbels am 8. August 1936 in sein Tagebuch. Zuvor hatte er die Parole ausgegeben, Deutschland müsse sich bei der Olympiade von seiner besten Seite zeigen: »In den nächsten Wochen müssen wir charmanter sein als die Pariser, gemütlicher als die Wiener, liebenswürdiger als die Römer, weltmännischer als die Londoner und praktischer als die New Yorker.« Antisemitische Äußerungen in der Presse wurden für die Dauer der Spiele untersagt, Schilder mit der Aufschrift »Juden unerwünscht« entfernt.
Und tatsächlich avancierten die Olympischen Spiele zu einem frühen Sommermärchen, mit dem Deutschen Reich als glänzendem Gastgeber und strahlendem Sieger der Nationenwertung. Einzig das Fußballturnier trübte das Bild. Ausgerechnet bei dem zweiten Fußballspiel, das Hitler überhaupt in seinem Leben besucht haben soll, verlor die deutsche Auswahl gegen den krassen Außenseiter Norwegen mit 0:2. Erbost über die unerwartete Niederlage verließ Hitler das Stadion noch vor Spielende und fauchte angeblich Goebbels an, warum er ihn nicht zum Ruderwettbewerb mitgenommen habe, wo es deutsche Goldmedaillen en masse zu feiern gab. Das WM-Turnier 1938 in Frankreich endete ebenfalls mit einer Pleite. Die auf Befehl von Tschammer und Ostens im Verhältnis 6:5 bzw. 5:6 aus »Altreich« und »Ostmark« gebildete Auswahl Großdeutschlands harmonierte in keiner Weise miteinander und schied in der Vorrunde kläglich gegen die Auswahl der Schweiz aus, die vom Pariser Publikum frenetisch unterstützt wurde.
Mit Kriegsbeginn rückte Fußball in den Hintergrund. Dennoch wurden weiterhin Länderspiele ausgetragen. Jetzt zählten aus der Sicht der Nazis nur Siege: Sie sollten der Bevölkerung den Alltag versüßen und den Verbündeten die Überlegenheit der Herrenrasse demonstrieren. Wieder mussten sie erfahren, dass sich Siege im Fußball nicht am Reißbrett planen lassen. Nach der 2:3-Niederlage der Nationalmannschaft gegen Schweden im September 1942 ordnete Goebbels die Einstellung des Länderspielbetriebs zum Jahresende an. »100 000 sind deprimiert aus dem Stadion weggegangen. Den Leuten liegt der Gewinn dieses Fußballspiels mehr am Herzen als die Einnahme irgendeiner Stadt im Osten«, begründete sein Staatsekretär Lother den Schritt. Vom Ringen um den Endsieg sollte nun nichts mehr ablenken. Schon von Kriegsbeginn an waren prominente Spieler an die Front geschickt worden; die propagandistische Botschaft, niemand genieße mehr irgendwelche Privilegien, jeder sei unabhängig von der sozialen Stellung ein »Soldat des Führers«, ließ sich mit berühmten Fußballern besonders gut veranschaulichen.
Mussolini indessen verfolgte immer noch ein anderes Konzept: Er dachte keinen Augenblick daran, aus Fußballern Soldaten zu machen. Gleich nach Italiens Kriegseintritt am 10. Juni 1940 versicherte er, die Spieler seien »auf dem Rasen nützlicher als im Heer«. Während des Zweiten Weltkriegs wurden die Meisterschaften in Italien denn auch nie unterbrochen, bis die deutschen Besatzer und die Alliierten kamen.

Quellen:
Christiane Eisenberg (Hg.): Fußball, soccer, calcio. ­München 1997
Arthur Heinrich: Der deutsche Fußballbund. Köln 2000
Birgit Schönau: Calcio. Die Italiener und ihr Fußball. Köln 2005