Antiziganismus in Frankreich und Europa

Der Krieg gegen die Roma

Im Zuge seines »Kriegs gegen die Kriminalität« lässt Frankreichs Präsident Sarkozy weiterhin rumänische und bulgarische Roma aus Frankreich ausweisen. Wer sich nicht »freiwillig« abschieben lässt, verliert alles und sitzt auf der Straße.

An diesem Donnerstag ist in Frankreich Schulanfang. Dass die ersten Schultage im Pariser Vorort Choisy-le-Roi einen besonderen Touch haben, liegt nicht nur am Streik der Lehrer gegen die Rentenreform, sondern daran, dass hier seit Mitte August in einer Turnhalle, die normalerweise von rund 700 Grundschülern genutzt wird, 70 zuvor von der Polizei aus der Umgebung vertriebene Roma untergebracht sind. Unter ihnen sind 23 Kinder, eines wurde gerade erst geboren. Mehrere Grundschulen werden jetzt neue Schüler haben. Die von dem Parti Communiste (PCF) geführte Stadtverwaltung, die die Roma in der Turnhalle unterbrachte, hat beschlossen, für jene Romakinder, die schlecht Französisch sprechen, zunächst gesonderte Förderklassen einzurichten.
Die Rechnung dafür wird sie direkt an Bildungsminister und Regierungssprecher Luc Chatel schicken, wie der Bürgermeister von Choisy-le-Roi, Daniel Davisse (PCF), am Sonntagabend bei einer Unterstützungskundgebung für die Roma vor der Turnhalle erklärte. Dass die Schulkinder vor­übergehend keine Turnhalle haben werden und dass die ökonomisch schwache Stadt nun diese Menschen, die von der Polizei anderswo vertrieben wurden, kurzfristig aufnehmen musste, sorgte im Rathaus für Kummer. »Aber wir hatten keine Wahl, wir konnten diese Menschen nicht einfach sitzen lassen«, sagt der Bürgermeister im Einklang mit Vertretern des PCF und der örtlichen Sozialdemokraten, die dort mitregieren. Auch Angehörige von Menschenrechtsorganisationen, der als progressiv geltende und vom Vatikan geschasste Ex-Bischof Jacques Gaillot oder Vertreter der radikal linken Partei NPA nahmen an der Kundgebung teil.
An den Wänden der Turnhalle sind rund zwei Dutzend Matratzen aufgereiht. An der Stirnseite steht ein Tisch mit Tellern und Kochtöpfen, einige Leute essen Hühnchen. Kinder spielen in der Mitte Seilhüpfen. Carola ist eine der Frauen, die vorübergehend hier wohnen. Seit acht Jahren lebt sie in Frankreich, ständig im Großraum Paris. Wegen ihrer vier Kinder kann sie nicht erwerbstätig sein, »aber manchmal erhalten wir durch Betteln ein bisschen Geld«, erzählt sie. Ihr Mann arbeitet als Blumenverkäufer. Er kauft die Pflanzen bei Großhändlern ein und bietet sie auf Märkten zum Verkauf an. Andere Männer der Gruppe leben vom Musikmachen. Mit ihrem Mann und ihren vier Kindern schläft Carolas Familie im Kasten des Fußballtors in der Turnhalle, unter dem zwei Matratzen mit Decken aneinander liegen. »In meinem Wohnwagen war es besser, aber wir hatten keine Wahl.«
Im Morgengrauen des 12. August räumten Polizeikräfte das Wohnwagencamp, in dem die überwiegend aus Rumänien stammenden Roma außerhalb der Stadt lebten. Sie wurden vor die Wahl gestellt, entweder sofort die Ausreise nach Rumänien anzutreten, oder der Zerstörung ihres Hab und Guts zuzusehen und danach obdachlos auf der Straße zu sitzen. Da die Menschen sich weigerten, einer Ausreise zuzustimmen, wurden ihre Wohnwagen durch Bulldozer zerstört, ihre persönlichen Gegenstände wurden beschlagnahmt. »Als wir ankamen saßen die Betroffenen buchstäblich auf der Strasse, mit nichts«, erzählt Michel von der Solidaritätsvereinigung Rom Europe. »Ein Baby hatte 42 Grad Fieber, und wenn wir die Leute nicht rechtzeitig gefunden hätten, dann wäre es zu spät gewesen.« Die Unterstützergruppen, die politischen Parteien der links regierten Stadt und die Verwaltung beschlossen, die Menschen in der Turnhalle unterzubringen.

Denn nach Rumänien zurück möchte niemand von ihnen. »Auf keinen Fall!« sagt Carola. »In Rumänien gibt es gar nichts für Roma: keine Schule, keine Arbeit, keine Wohnung – und wenn ich mit einem kranken Kind ins Krankenhaus gehe, dann wird es nicht behandelt.« – »Frankreich ist besser«, meinen die Turnhallenbewohner, »schwierig, aber besser.« Was erwarten sie von ihrem künftigen Leben? »Eine Arbeit, eine Wohnung – so, wie die Franzosen leben.« – »Schule für die Kinder, eine bessere Zukunft.« Im Gegensatz zum Klischee der Zigeunerfamilie sind die 70 Roma keine so genannte »Sippe«. »Nein nein, wir sind nicht miteinander verwandt«, meint Carola, »wir haben uns hier in Frankreich getroffen.« Aber bisher bot ihnen das Leben in der Gruppe besseren Schutz.
»Es gibt eine klare Verschärfung der Regierungspolitik«, meint Bürgermeister Daniel Davisse. »Als Nicolas Sarkozy 2002 Innenminister wurde, bestand seine erste Amtshandlung darin, ein Camp von Roma hier in Choisy-le-Roi medienwirksam räumen zu lassen«, sagt er. Nur habe es sich damals um 200 bis 300 Menschen gehandelt. »Aber damals wurden die Leute wenigstens nicht einfach auf die Straße geworfen, sondern ihnen wurden Plätze in Notunterkünften gegeben.«
Seit Nicolas Sarkozy am 28. Juli einen Gipfel im Elyséepalast abhielt, um auf Zusammenstöße zwischen französischen »Landfahrern« und Gendarmen im zentralfranzösischen Saint-Aignan zu reagieren, und seit er zwei Tage später in Grenoble einen »nationalen Krieg gegen die Kriminalität« ausrief, sind die Roma wieder besonders im Visier. Allein im August wurden über 800 von ihnen nach Rumänien und Bulgarien ausgewiesen. Der von der Regierung hergestellte, das Stereotyp vom kriminellen Zigeuner reproduzierende Zusammenhang zwischen Roma-Migranten und Kriminalität lässt sich durch nichts belegen. Das rumänische Innenministerium erklärt, kein ein­ziger der jetzt nach Rumänien Ausgewiesenen sei zuvor bei der französischen oder der rumänischen Polizei als straffällig vermerkt gewesen. Sogar der Rechtsextreme Jean-Marie Le Pen befand am Sonntag, dass man hier auf Schwächeren herumtrampele. Zwar findet der Rassist, dass die Roma aus Südosteuropa keinen Platz in Frankreich hätten, und beklagt die europäischen Freizügigkeitsregeln als Ursache des »Problems«. Dennoch spöttelte selbst er über die Regierungspolitik, sie könne sich nur an leichten Gegnern beweisen: »Die Roma schießen nicht auf Polizisten, und sie zetteln auch keine Unruhen an, wenn sie abgeschoben werden sollen.« Le Pen ging es vornehmlich darum, andere Gruppen von Einwanderern oder Franzosen mit Migrationshintergrund zu diffamieren, doch ist es bezeichnend, dass selbst er die Roma für ungefährlich hält.

Sarkozys Politik auf Kosten der Roma hat zu heftigen Protesten geführt. Auch wenn sein Innenminister Brice Hortefeux am vorvergangenen Wochenende noch gegenüber Le Monde höhnte, nur ein ganz »kleines Milieu von Politaktivisten und Medienleuten«, ja nur die »Linke der Milliardäre« protestiere gegen die Ausweisungen, so hat die Opposition gegen die Diskriminierung der Roma doch längst überraschend breite Kreise gezogen. Am Montag erklärte sogar Frankreichs Außenminister Bernard Kouchner, er sei von Zweifeln geplagt und habe aus diesem Grund »vorübergehend an Rücktritt gedacht«. Im Anschluss habe er den Gedanken jedoch verworfen, denn »das hätte den Roma auch nichts genützt«. In mehreren Städten wie in Nantes und Lille weigerten sich unterdessen die Gerichte, Zwangsräumungen von Roma für rechtskonform zu erklären. Denn um EU-Bürger auszuweisen – sofern sie nicht unter erheblichem Druck gesetzt werden, 300 Euro Rückkehrprämie annehmen und »freiwillig« ausreisen –, benötigt der Staat einen Rechtsgrund. Ihn liefert häufig die »Gefährdung der öffentlichen Ordnung«, etwa illegales Campieren. Allein die Tatsache, dass Roma weit außerhalb der Stadt ihre Baracken oder Wohnwagen ohne Genehmigung aufschlugen, sei aber kein triftiger Rechtsgrund, urteilten etwa Ende vergangener Woche Richter im nordfranzösischen Lille.
Die Bürgermeisterin von Lille und Parteivorsitzende des Parti Socialiste (PS), Martine Aubry, begrüßte das Urteil ausdrücklich. In ihrer Rede, die sie am Sonntag zum Abschluss der »Sommerakademie« ihrer Partei in La Rochelle hielt, sprach sie von »Sammelflügen der Schande«. »Im Frankreich von Voltaire, von Victor Hugo und Émile Zola gilt: Wenn man die Rechte einiger Menschen verletzt, sind die Rechte aller bedroht.« Doch während Aubry sich in Pathos übt, betont ihre Rivalin Ségolène Royal das legitime »Sicherheits­bedürfnis« der Franzosen. Die Partei ist in der Frage gespalten, wie sie auf Sarkozys populistische Sicherheitsoffensive reagieren soll. Nach einer Umfrage, die am Donnerstag voriger Woche die liberale Boulevardzeitung Le Parisien publizierte, befürworten immerhin 48 Prozent der Befragten die Roma-Abschiebungen, 42 Prozent lehnen sie ab. Das konservative Blatt Le Figaro stellte am Freitag eine eigene Befragung vor. Nach dieser stimmten angeblich gar zwei Drittel den Abschiebungen der Roma zu. Die Umfrage des Figaro ist jedoch methodisch heftig umstritten. Unter anderem wurden in der Fragestellung Roma, also EU-Bürger, mit »illegalen« Migranten und Straffälligen wild durcheinander geworfen.
Ob sich Ségolène Royals Opportunismus gegenüber Sarkozys »Krieg gegen die Kriminalität« auszahlt, ist nicht sicher. Denn während die offe­ne Opposition gegen die diskriminierenden Ausweisungen bislang bei weitem nicht so stark war, solange die Ausweisungen von Roma eher unspektakulär und ohne Sarkozys Kriegsgeschrei über die Bühne gingen, scheint es Aubrys neuer Oppositionskurs immerhin geschafft zu haben, die öffentliche Meinung über Sarkozys Politik gegen Roma und Migranten zu polarisieren. Seit die Abschiebungen von Roma in den vergangenen Wochen kontrovers debattiert wurden, ist die Zahl der erklärten Gegner dieser Politik schlagartig gestiegen.
Nicht zuletzt opponieren auch international viele Stimmen gegen die französische Abschiebepolitik – etwa die rumänische und die bulgarische Regierung, der Europa-Rat und die EU-Kommission, die Frankreich an die für Bürger der Union geltenden Freizügigkeitsregeln erinnert. Ähnlich äußerte sich am Samstag der tschechische Außenminister Karel Schwarzenberg: »Die Weise, in der Sarkozy rumänische Bürger abschiebt, steht im Widerspruch zum Geist und zu den Regeln der Europäischen Union.« Bei manchen der Protagonisten in Südosteuropa schimmert jedoch auch durch, dass man die Roma lieber nicht im eigenen Land, sondern bei den europäischen Nachbarn weiß. Ende vergangener Woche erklärte ein führender Politiker der Regierungspartei UMP in Frankreich, Éric Raoult, es sei ihm »lieber, wenn die Roma nach Spanien oder Italien gehen«, als dass sie nach Frankreich kämen. Diesen Gedanken hegen die französischen Konservativen schon lange, hatte doch ein französischer Kommunalpolitiker in Lothringen 2009 die Roma explizit mit Atommüll verglichen und über die nötige »Lastenteilung« unter den Kommunen gesprochen.