Minderjährige Häftlinge in der Türkei

Kinder hinter Gittern

Im Jahr 2006 begann die Türkei, hunderte Minderjähriger wegen politischer Vergehen für viele Jahre ins Gefängnis zu sperren. Dies verstieß gegen die UN-Kinderrechtskonvention. Auf internationalen Druck lenkte die türkische Regierung jetzt ein.

Seit dem frühen Morgen wartet Jahide Balaban. Nun ist es bald Mittag, und noch immer ruft kein Gerichtsdiener sie in den Saal. Die 34jährige Kurdin hockt auf einem Fenstersims im Justizgebäude der Provinzhauptstadt Diyarbakir, im Südosten der Türkei. Sie hat das traditionelle weiße Tuch um den Kopf gelegt, zwei ihrer Kinder laufen herum und zupfen umstehende Erwachsene am Ärmel. Es ist der 18. März, und eigentlich wartet Jahide nicht erst seit vier Stunden, sondern schon seit vier Monaten darauf, dass die türkischen Behörden ihrem 15jährigen Sohn Erkan den Prozess machen.
Am 6. Dezember 2009, einem Sonntag, war die Familie Balaban in Diyarbakir zu einer Demons­tration gegen die Haftbedingungen von Abdullah Öcalan gegangen. Aufgerufen hatten nicht nur legale kurdische Organisationen, sondern auch die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans PKK. Rund 15 000 Menschen gingen an diesem Tag auf die Straße. Als die Polizei dem Protestzug irgendwann den Weg versperrte, flogen Steine. Die Balabans, so berichtet die Mutter, verließen daraufhin die Demonstration, Erkan hingegen blieb, zusammen mit vielen anderen kurdischen Jugend­lichen. Die Polizei ging mit Wasserwerfern, Tränengas und scharfer Munition gegen die Demonstranten vor. Der 23jährige Aydin Erdem wurde durch eine Kugel getötet, zwei weitere Menschen wurden verletzt. 113 Personen wurden festgenommen, darunter 19 Minderjährige. Einer davon war Erkan Balaban. Die Polizisten nahmen ihn mit zur Wache. Sie beschuldigten ihn, Steine geworfen und Polizisten beleidigt zu haben.

Seitdem sitzt Erkan Balaban mit 23 anderen kurdischen Jugendlichen in der Großraumzelle 12 des Gefängnisses von Diyarbakir. Acht Jahre, so schätzte damals seine Anwältin Sakine Erdogan, könnte er dort bleiben – wenn er Glück hat.
Bis Anfang August war Balaban einer von insgesamt 68 minderjährigen politischen Gefangenen allein in Diyarbakir, unter ihnen zwei Mädchen. In der Türkei sollen derzeit über 600 Jugendliche zwischen 12 und 17 Jahren wegen politischer Vergehen in Gefängnissen sitzen. Mehr als 2 000 weitere Anklagen sind anhängig. Alle Betroffenen sollen gegen das türkische Anti-Terror-Gesetz (TMK) verstoßen haben.
Das Gesetz ist 2006 von der Nationalversammlung verschärft worden. Generäle, die national gesinnte Presse und kemalistische Politiker hatten zuvor massiv Stimmung für eine Änderung des TMK gemacht. Die Aufweichungen durch die EU-Anpassungsgesetze würden die Sicherheitskräfte zunehmend daran hindern, den Terrorismus im Land zu bekämpfen, argumentierten die Befürwörter einer Verschärfung. Das Parlament gab den Forderungen nach, und seither ist es in der Türkei möglich, Kinder ab 12 Jahren wegen Terrorismus vor Gericht zu stellen, Jugendliche ab 15 Jahren kommen sogar vor reguläre Erwachsenengerichte. Die Bestimmungen des TMK stellen nicht nur die Mitgliedschaft oder gar die Beteiligung an Anschlägen unter drakonische Strafen. Es genügt, sich an einer Demonstration zu beteiligen, die einer verbotenen Organisation politisch zugerechnet wird, oder für diese Parolen zu sprühen.
»Die Polizisten haben Erkan ein Foto aus der Zeitung gezeigt«, berichtet Jahide. Das Bild zeige ihn am Tag der Demo, die Hände in den Hosentaschen. »Trotzdem sagen sie, er hat Steine geworfen.« Bei seiner Vernehmung durften die Eltern nicht dabei sein. Immerhin dürfen sie ihn einmal in der Woche für 40 Minuten im Gefängnis besuchen. Die Polizei sei bei den Besuchen in einem großen Raum mit mehreren Familien anwesend. »Geschenke, Essen oder Kleidung dürfen wir nicht mitbringen, nur Geld ist erlaubt«, sagt Jahide. Die Familie ist arm, der Vater ernährt die sieben Kinder im Alter vom drei bis 17 Jahren durch seinen Job als Taxifahrer. Auch er musste eine dreijährige Haftstrafe verbüßen, wegen Schmuggelei. »Das war aber nicht so unerträglich, wie einen Sohn im Gefängnis zu haben.« Sie spare sich vom wenigen Geld der Familie wöchentlich umgerechnet 15 Euro für Zigaretten ab, damit Erkan im Gefängnis »wenigstens genug zu rauchen hat«.
Wäre die Familie nicht so arm, wäre Jahide Balaban an diesem Tag wahrscheinlich zu Hause und würde das Mittagessen kochen. Einer von Erkans Freunden, der am 6. Dezember ebenfalls verhaftet wurde, kam frei, angeblich weil die Familie umgerechnet rund 200 Euro Bestechungsgeld an die Polizei gezahlt hat. Die Balabans konnten sich das nicht leisten.
Schließlich ruft man Jahide doch noch in den Gerichtssaal. Begleiter und Beobachter dürfen nicht mit hinein. Obwohl Erkan Balaban gemäß dem TMK vor Gericht wie ein Erwachsener behandelt werden muss, benutzt man den in der UN-Kinderrechtskonvention festgeschriebenen Grundsatz der Nichtöffentlichkeit im Jugendstrafrecht. Schon nach wenigen Minuten kommt ­Jahide wieder heraus. Das Gericht hat die Verhandlung ohne Begründung vertagt. In zwei Monaten, am 13. Mai, will es nun über den Fall beraten.

Selcuk Mizrakli mag Berlin. Da war er gerade im Urlaub, seine Tochter soll dort studieren, Medizin, wie er sagt. Nächste Woche will er in die Schweiz, mit seiner Familie Ski laufen. Am Tag nach der vertagten Verhandlung gegen Erkan Balaban sitzt der Präsident der Ärztekammer von Diyarbakir in seinem Büro auf einer cremefar­benen Ledercouch, ein Gehilfe bringt Tee in kleinen Gläsern.
Er kennt den Fall gut. Denn seit immer mehr Kinder und Jugendliche wegen politischer Vergehen für lange Zeit hinter Gittern verschwinden, kämpft der kurdische Chirurg gegen die türkische Justiz. »Hier in der Stadt sitzt ein 14jähriges Mädchen namens Beriwan Sayaca im Gefängnis. Letzten Monat soll sie Steine auf Polizisten geworfen haben, aber ohne dass jemand verletzt wurde. Sie soll dort bleiben, bis sie 27 ist«, sagt Mizrakli. »Sie weint jede Nacht, sie kann nicht schlafen.«
Im April 2009 stellte Mizrakli eine Kommission aus Kinderpsychologen, Pädagogen und Ärzten, Vertretern des örtlichen Jugendamtes von Diyarbakir und der Anwaltskammer zusammen und besuchte das Gefängnis. Die Kommission verfasste einen schriftlichen Bericht über die Zustände dort und übergab ihn dem Parlament in Ankara. Passiert sei daraufhin absolut gar nichts, sagt Mizrakli. Der Chef der rechtsextremen Milliyetçi Hareket Partisi (MHP), Devlet Bahçeli, habe ihnen gesagt, »wer heute Steine wirft, der nimmt morgen Waffen gegen unsere Soldaten in die Hand«.
Mizrakli glaubt, dass man Kinder nicht aus politischen Gründen verurteilen dürfe. »Kinder sind Kinder, man kann sie nicht behandeln wie Erwachsene«, sagt Mizrakli. »Das muss aufhören, sie sollen mit ihren Familien leben können.« Das Vorgehen der Justiz sei ein »riesiges psychisches Problem für die Jugendlichen« und ein »riesiges soziales und politisches Problem für die Kurden«.
In dem Gefängnis gebe es »keine Sozialpädagogen, keine Jugendpsychologen und keine Lehrer. Niemand unterrichtet die Kinder«, sagt Mizrakli. Es handele sich nicht um ein spezielles Jugendgefängnis, dort seien auch erwachsene Sträflinge untergebracht. Die Minderjährigen hätten lediglich einen separaten Trakt. Die Jungen verteilen sich auf drei Hafträume mit 15 bis 24 Insassen. Sie werden auch von den minderjährigen Gefangenen ferngehalten, die nicht wegen politischer Straftaten einsitzen. Mizrakli zufolge dürfen sie zwei bis drei Stunden am Tag auf den offenen Hof. Es gebe zwar Fernsehen, ärztliche Versorgung erreiche die Gefangenen aber oft nur mit starker Verzögerung. Die jungen Häftlinge würden sich mit »Handarbeit« beschäftigen, einmal am Tag dürfen sie für eine kurze Zeit auf den Hof. »Das ist für Kinder und Jugendliche überhaupt nicht geeignet. Da gibt es kaum Platz zum spielen, keine Sportmöglichkeiten oder Musikinstrumente.« Die Betten seien, ebenso wie die Kleidung der jungen Gefangenen, nicht sauber. Oft werde ihnen verboten, ihre Familien zu sehen.
Mizrakli kennt den Fall eines Jungen, der bei einem Besuch seines Vaters diesem das in der Türkei als PKK-Symbol verbotene Victory-Zeichen gezeigt habe. Daraufhin erließ die Gefängnisleitung eine dreimonatige Besuchssperre. Unter solchen Bedingungen müsse die Inhaftierung »als psychische Misshandlung gelten«, sagt Mizrakli.
»Die müssen die Jugendlichen entlassen, die wegen politischer Vergehen einsitzen, und ihnen ein Rehabilitationsprogramm mit psychosozialer Hilfe und einer nachholenden Schulausbildung anbieten«.
Auch der Menschenrechtsverein IHD berichtet davon, dass seltener körperliche Folter gegen Minderjährige im Gefängnis angewandt werde, psychische Misshandlung hingegen zunehme. So würden Kinder nachts geweckt, zum Verhör gebracht, sexuell gedemütigt oder beschimpft.
Mizrakli erklärt die zunehmende Repression gegen Minderjährige mit der geänderten politischen Strategie der Kurden. »Seit etwa vier Jahren hat die kurdische Zivilgesellschaft Druck auf die Guerilla ausgeübt, damit diese ihre bewaffneten Aktionen einstellt. In dieser Zeit wurden die Aktivitäten des legalen, politischen Arms der Bewegung intensiviert.« Das habe sich in dem Wahl­erfolg der inzwischen verbotenen DTP bei den Kommunalwahlen 2009 niedergeschlagen. Um dieser zivilen Konsolidierung der kurdischen Politik entgegenzuwirken, wolle die Regierung Kinder und Jugendliche durch drakonische Strafen davon abschrecken, sich in kurdischen Strukturen zu politisieren.
Für den Vorsitzenden der Anwaltskammer von Diyarbakir, Emin Aktar, machen sich »Richter zum Werkzeug des Staates«, wenn sie das TMK gegen Minderjährige anwenden. Dies sei ein Verstoß gegen die von der Türkei im Jahr 1995 ratifizierte UN-Kinderrechtskonvention. Aktar plant deswegen eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strasbourg. Das dauere aber sechs Jahre, weil zuerst alle internen Instrumente ausgeschöpft werden müssten. Ein jetzt 15 Jahre alter Gefangener habe davon kaum etwas. »Wenn der Prozess in Strasbourg vorbei ist, ist er 22«, sagt Aktar.
Das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (Unicef) entsandte 2009 ein Spezialistenteam in die Osttürkei, das einen »Field Report on Children Deemed to be Terrorist offenders« verfasste. Der Bericht kam zu dem Ergebnis, dass die »In­terventionen« des türkischen Staats nach Demons­trationen »eine Gefahr« für die Kinder darstellen. Die Paragraphen 9 und 13 des TMK müssten gestrichen werden. Die Unicef formulierte über 45 »Handlungsempfehlungen« für die türkische Regierung, um der Verletzung von Kinderrechten zu begegnen.
Am Morgen des 13. Mai ging Jahide Balaban in Diyarbakir erneut zum Justizpalast und wartete wieder vergebens auf die Verhandlung gegen ihren Sohn. Das Gericht vertagte sich erneut.
Vier Wochen später legte Amnesty International einen Bericht unter dem Titel »Unfaire Gerichtsverfahren unter dem Antiterror-Gesetz in der Türkei« vor. Darin wirft Amnesty der türkischen Polizei vor, »exzessive, übermäßige Gewalt« gegen Demonstrantinnen und Demonstranten anzuwenden. Kinder hätten »durchgängig und konsistent« von Misshandlungen durch die Po­lizei berichtet. Ihnen sei für 24 Stunden der Kontakt zu einem Anwalt verwehrt worden, sie würden mit »ungenügenden Beweisen« bis zu ein Jahr in Erwachsenenanstalten in U-Haft gesteckt. Zudem würden Schutzmaßnahmen für Kinder in Strafverfahren wie die Erstellung psychologischer Berichte über die Schuldfähigkeit eines Kindes nicht angewandt. Schließlich würden sie mittels einer »unbestimmten und extrem breiten Definition von Terrorismus im türkischen Recht« zu langjährigen Haftstrafen verurteilt.
Langsam griffen ausländische Medien das Problem auf. »Es gab irgendwann Druck von außen«, sagt Amke Dietert, die Türkei-Koordinatorin von Amnesty International. Die internationale Öffentlichkeit sei allmählich darauf aufmerksam geworden, dass ein europäischer Staat »auf diversen Ebenen doppelt und dreifach Kinderrechte verletzt«.
Türkische Abgeordnete, darunter auch Mitglieder der Regierungspartei AKP, hätten inzwischen erkannt, dass die bisherige Praxis nicht aufrecht zu erhalten sei. Im Juli setzte die Nationalversammlung einen Änderungsantrag für das TMK auf die Tagesordnung. »Gerade noch vor der Sommerpause«, so Dietert, sei vor drei Wochen der entsprechende Beschluss gefallen. »Jetzt müssen auch Jugendliche von 15 bis 18 vor Jugendgerichte gestellt werden.« Zudem seien einige weitere Bestimmungen des TMK gelockert oder abgeschafft worden. Die meisten wegen Terror-Vergehen in U-Haft sitzenden Jugendlichen wurden vorerst entlassen, weil sie nunmehr geringere Strafen zu erwarten haben.
»Das ist ein positiver Schritt«, sagt Dietert. Doch in Ordnung sei die Lage keineswegs. Zwar würden die Strafen niedriger ausfallen, und bei Jugendgerichten würden die Verfahren »schon ganz anders ablaufen«. Doch die Umsetzung des Gesetzes könnte schon allein daran scheitern, dass es vor allem in den kurdischen Provinzen kaum Jugendgerichte gebe. Vor allem aber habe sich am »Grundproblem der Rechtsprechung« nichts geändert: »Zu sagen, dass jemand wegen einer Teilnahme an einer Demonstration bestraft werden kann wie ein Mitglied einer Terrororganisation, ist ein Unding. Und diese Möglichkeit besteht weiter, ebenso wie die völlig instabile Konstruktion der Anklagen.«
Für Erkan Balaban immerhin war der Unterschied in der Gesetzgebung spürbar. Anfang August durfte er das Gefängnis von Diyarbakir nach neun Monaten verlassen. Nun wartet er in Freiheit auf die Eröffnung seines Verfahrens.