Tourismus und Migration. Die Ausstellung »Transient Spaces« in Berlin

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Die Ausstellung »Transient Spaces. The Tou­rist Syndrome« in der NGBK und im Kunst­raum Kreuzberg beschäftigt sich mit Tourismus und Migration in der globalisierten Gesellschaft.

And now, Ladies and Gents: SO 36! A mix of Rive Gauche and the Bronx!« Mit diesen Worten begrüßte in den achtziger Jahren das Kreuzberger Unikum Pieter Schade Berlin-Besucher zu seinen alternativen Stadtführungen. Ein fast eingemauertes Stadtviertel mit besetzten Häusern, in denen Männer und Frauen lebten, die nicht zur Armee oder keine Kinder kriegen wollten, war eine Attraktion abseits des Mainstreams. Aber hier leben? Für die meisten Touristen war das eine abwegige Idee.
Als ich im vergangenen Jahr mit einigen Erwartungen an die Stadt zum ersten Mal New York besuchte, merkte ich, dass Berlin ganz anders wahrgenommen wird. »Du kommst aus … Berlin?!« Die Frage, die eigentlich als Kompliment an die deutsche Hauptstadt gemeint war, hörte ich von nun an täglich unzählige Male. Ist das wirklich wahr, man geht auf ein Sonic-Youth-Konzert in einen heruntergekommenen Park in Brooklyn, man kauft in Plattenläden im East Village ein, in denen die Stars selbst verkehren, und alles, was diesen Menschen einfällt, ist Berlin? Die Stadt an der Spree, so viel steht fest, ist nicht mehr die Bronx, und wenn doch, dann eine ziemlich angesagte Version davon. Berlin ist the place to be für alle, die ihren Schreibtisch sonstwo haben könnten, oder besser noch: die gar keinen Schreibtisch brauchen.
»Berlin ist heute ein Magnet für Künstler und Kreative geworden, die hierher ziehen, und für Touristen, die aus der ganzen Welt in Scharen in die Stadt strömen«, so die Kuratorinnen Marina Sorbello und Antje Weitzel. Vor zwei Jahren haben die beiden Frauen das Kunst- und Kulturprojekt »Transient Spaces. The Tourist Syndrome« ins Leben gerufen, das zeitgenössische Mobilität – also Tourismus und Migration – und ihre Schnittstellen verhandelt. Seitdem wurden Workshops, Seminare und Ausstellungen in Italien, Litauen und Rumänien veranstaltet. Berlin ist die letzte Etappe des Projekts und bewusst als solche gewählt. »Berlin ist und war vielleicht schon immer eine Grenzstadt, ein Ort der Ein- und Auswanderung. Doch während andere Länder mit dem EU-Grenzsystem und seinen negativen Auswirkungen auf die eigenen Außengrenzen konfrontiert sind, hat Berlin davon enorm profitiert. Seit der deutschen Wiedervereinigung profiliert sich die Stadt als Mekka für den Dienstleistungs- und Kreativsektor. Steigende Besucherzahlen bringen Berlin jährlich Millionen. Die Tourismusindustrie ist die wichtigste Einkommensquelle überhaupt«, so Sorbello und Weitzel.
Wer diese Aussagen überprüfen will, muss eigentlich nur vor die Haustür treten. Die Kreuzberger Oranienstraße, wo sich die Neue Gesellschaft für Bildende Kunst (NGBK) befindet, ist das Sinnbild für diese neue Internationalisierung, die sich an Orten wie der Kneipe Lucia, den urbanen Prinzessinnengärten oder dem Co-Working-Space Betahaus konkretisiert. »Man hört hier nur noch Englisch oder Spanisch«, kommentieren Freunde und Bekannte die Entwicklung gern abfällig, um im nächsten Satz über die steigenden Mieten zu lamentieren, die Amerikaner und Spanier ganz selbstverständlich hinblättern würden. Kritik an der Gentrifizierung trifft sich hier mit Provinzialität – als ob man nicht selbst irgendwann aus Süddeutschland eingewandert wäre. Und ganz nebenbei vermieten dieselben Leute ein WG-Zimmer überteuert an einen ausländischen Künstler, Musiker oder Webdesigner oder machen eine Kneipe, ein Hostel oder einen Laden auf, der sich nur durch kaufkräftige Touristen am Leben erhält.
Es wäre sehr spannend gewesen, in einem interdisziplinär angelegten Projekt wie »The Tourist Syndrome« diesen Trends nachzuspüren. Was bedeutet Berlin heute? Welche Bezugspunkte haben die neu Zugezogenen in der Stadt? Wollen sie bleiben, oder ist Berlin nur eine Etappe auf ihrer langen Reise, die sich Leben nennt? Und was ist überhaupt »ein Berliner«?
Leider werden diese Aspekte in der Ausstellung fast gar nicht beleuchtet. Es geht um die transnationale Gruppe der Tuareg, die Fluchtwege von Nordafrika nach Europa organisiert, um Bootsflüchtlinge, die auf der italienischen Insel Lampedusa gestrandet sind, und um internationale Besatzungen auf Kreuzfahrtschiffen. Manche Arbeiten sind klug durchdacht und auch ästhetisch sehr gelungen, etwa die Video-Installation »The best journey of my life« von Gerda Heck und Carsten Does, in der Migranten von ihren Flucht- und Reiseerfahrungen berichten und so gar nicht als passive Opfer erscheinen. »Poltur« heißt die Arbeit von Daniel Gontz, der Reisen veranstaltet, bei denen man selbst eine Zeitlang eine Rolle übernehmen darf, zum Beispiel die eines rumänischen Politikers »garantiert ohne Verantwortung«. Diese Arbeit bringt den Besucher zum Lachen, das dann aber im Hals stecken bleibt. Mit Berlin beschäftigt sich die Ausstellung nur ganz am Rande, was die Kuratorinnen bedauern. »In unserer offenen Ausschreibung haben wir uns gewünscht, dass viele Künstler zu Berlin arbeiten, weil einige der Teilnehmer hier leben. Aber da kam nichts. Alle scheinen vor der Beschäftigung mit Berlin und ihrer eigenen Migrationserfahrung zurückzuschrecken. Dabei hätte man alle Fragen der Ausstellung auch hier verhandeln können«, meint Antje Weitzel.
Warum aber ist das so? Gerade die Künstler, die von Residence zu Residence ziehen und oft über Jahre hinweg keinen festen Wohnsitz haben, müssten doch wissen, wie es sich anfühlt – dieses Dazwischen, diese Durchreise, diese Nicht-Orte, diese Transient Spaces. Sie sind es ja oft, die man auf der Straße trifft und heimlich denkt: »Ach nee, nicht schon wieder ein Tourist!« Und dabei sind sie doch die neuen Migranten, zumindest sind sie keine Kurzurlauber mehr.
Anders als die Themen sexuelle Orientierung, Traumata aus der Kindheit und vergangene Liebesbeziehungen scheint das Thema Migration und Tourismus eines zu sein, das Künstler selten auf sich selbst beziehen. Viel besser kann man da ästhetisch und politisch korrekt Kartografien der Flüchtlingsrouten an den europäischen Außengrenzen an die Wand malen oder im Mittelformat ein abgewracktes litauisches Dorf fotografieren, aus dem alle Bewohner unter sechzig bereits nach Irland gezogen sind, um dort Geld zu verdienen. Themen, die zwar spannend sind, aber auch schon oft verhandelt wurden. Themen, die mit dem eigenen Leben kaum etwas zu tun haben.
Eine Ausnahme macht der mexikanische Künstler Plino Avila Marquez. Er, der seit Jahren zwischen Lateinamerika und Europa pendelt, hat seine Boardingpässe aus den vergangenen Jahren beschriftet und zum Kunstobjekt erklärt. Eingerahmt hängen sie fast ein bisschen versteckt an der Wand in der Ausstellung. Die Schriftstücke tragen oftmals das Kürzel »Berlin SXF«, was für den Flughafen Berlin Schönefeld steht. Es ist jener Flughafen, den die Billigfluglinien Ryan Air und Easy Jet ansteuern und der für viele tausend Menschen täglich das Tor in die hippe Bronx Berlin bedeutet, für einen Urlaub oder einen unbestimmten längeren Zeitraum. Für einen Raum, der sich zwischen Tourismus und Migration befindet. Hier sollte man beim nächsten Projekt mit der Ideensuche beginnen.

Transient Spaces. The Tourist Syndrome. 28. August bis 10. Oktober
Filmprogramm am 4. und 5. September im Ballhaus Naunynstraße
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