Zum 30. Jahrestag des Todes von Olaf Ritzmann in Hamburg

Polizisten auf der Jagd

Protest kann tödlich sein: Vor 30 Jahren starb Olaf Ritzmann im Zuge eines brutalen Polizeieinsatzes während einer Demonstration im Hamburger Schanzenviertel.

Im hippen Hamburger Schanzenviertel erinnert nichts an Olaf Ritzmann. Gegenüber dem S-Bahnhof gibt es Kinderkleidung zu Preisen, wie sie in den Boutiquen hier üblich sind. Neben den Geschäften findet man in den Straßen zahlreiche schicke Cafés, Clubs und Bars. Unter der S-Bahnbrücke kleben Plakate für Konzerte aller Art. An diesem Ort löste sich am 25. August 1980 eine Demonstration gegen Franz Josef Strauß auf. Auf einer Wahlkampfveranstaltung der CDU war der Politiker zuvor in der Hamburger Ernst-Merck-Halle aufgetreten.

Strauß, ehemaliger Nationalsozialistischer Führungsoffizier, Atom-, Verteidigungs- und Finanzminister und damaliger bayerischer Ministerpräsident, war für radikale Linke die Personifikation des Fortwesens des Nationalsozialismus in der Bundesrepublik. Die Antipathie verdankte sich auch markigen Sprüchen wie etwa: »Was wir hier in diesem Land brauchen, sind mutige Bürger, die die roten Ratten dorthin jagen, wo sie hingehören – in ihre Löcher.«
An der Demonstration gegen Strauß nahmen etwa 20 000 Menschen teil. Es gab zwei Demonstrationsbündnisse, den politischen Richtungen der damaligen Linken entsprechend. Den Jusos und der DKP galt Strauß als eine Gefahr von Rechts, die sich mithilfe von SPD und FDP abwehren ließe: »Strauß stoppen – auch mit dem Wahlschein.« In der radikalen Linken war der Kommunistische Bund (KB) einflussreich, der von »einer schrittweisen Faschisierung von Staat und Gesellschaft« ausging, die von der wirtschaftlichen und politischen Führung Deutschlands betrieben werde – einschließlich der SPD.
Während Jusos und DKP sich auf symbolischen Protest fernab der Halle beschränken wollten, plante die radikale Linke, die Wahlveranstaltung zu stören. Als ein großer Teil des gemeinsamen Demonstrationszugs zum Auftrittsort von Strauß abbiegen wollte, versperrten ihm mehrere Ordnerketten der Jusos, der SDAJ und der DKP den Weg, die aber abgedrängt wurden. An einer Polizeisperre gab es jedoch kein Vorbeikommen. Nun begann, was sich bis in den späten Abend hinein wiederholte: Die Polizei jagte die mehreren tausend Demonstrantinnen und Demonstranten durch die Straßen. Die Gejagten setzten sich mit Steinwürfen zur Wehr.

Das Aufgebot von 3 500 Polizisten und Bundesgrenzschützern sollte auf Anweisung des Hamburger Innensenators Werner Staak (SPD) »eine Neuauflage der Bremer Krawalle« (Jungle World 18/10) verhindern. Das Vorgehen der Polizei zielte auf Einschüchterung. Bevor die Einheiten losstürmten, schlugen sie mit den Schlagstöcken auf ihre Schilde. Beate Schwartau erinnert sich: »Die Anti-Strauß-Demonstration war meine erste grausame Demoerfahrung. Ich war 16 Jahre jung, nicht größer als 1,50 Meter und wog vermutlich nicht mehr als 39 Kilogramm. Die Polizisten waren unglaublich gewaltbereit. Sie schlugen mit ihren Schlagstöcken wahllos auf die Demonstrantinnen und Demonstranten ein.«
Um 21.15 Uhr wurde die Demonstration am ­S-Bahnhof Sternschanze offiziell beendet. Viele Teilnehmer blieben noch auf dem Bahnhofsvorplatz stehen, andere gingen in die Bahnhofshalle oder die Treppe hinauf zum S-Bahnsteig. Kurz darauf fuhren Mannschaftswagen vor, Polizisten in voller Montur sprangen heraus. Ein Teil von ihnen stürmte in den Bahnhof und riegelte diesen ab, ein anderer demolierte ein neben dem Bahnhof stehendes, mit einem roten Kreuz gekennzeichnetes Auto. Vom Bahnsteig aus begannen Demonstranten, Steine auf die Polizisten zu werfen. »Ein dritter Trupp der Polizei formierte sich keilförmig. Dieser Trupp begann nach verschiedenen Aussagen wie wahnsinnig auf die Schilder zu schlagen und stürmte dann plötzlich in die Bahnhofshalle hinein. Auf den ersten Metern setzten sie die Schildertrommelei fort, um dann die Knüppel zu schwingen. Auf die flüchtenden Menschen wurde wahllos eingedroschen«, schrieb der »Ermittlungsausschuss zur Untersuchung der Vorfälle am 25.8.80« später.
Polizisten ließen Hunde ohne Maulkorb auf Demonstranten los und warfen Tränengasgranaten in den Bahnhof. Zahlreiche Menschen flüchteten auf die Gleise. Die Polizei unterbrach den S- und Fernbahnverkehr nicht, die Züge fuhren weiter. »Dann knallte es, und ein Typ flog den Abstand von zwei Schienen durch die Luft«, schilderte ein Zeuge dem Ermittlungsausschuss den Vorfall.

Eine aus Altona einfahrende S-Bahn hatte Olaf Ritzmann erfasst. Er erlangte das Bewusstsein nicht wieder. Wenige Tage später wurde er für tot erklärt. »Am 29.8.80 starb Olaf Ritzmann. Er war 16 Jahre alt. Er war ein Kollege von uns, er lernte Tischler. Wir trauern um ihn«, schrieb der Schülerrat der Gewerbeschule G6 für Maler und Tischler. Zu dem Vorwurf, Olaf Ritzmann sei nicht vor der Polizei geflohen, sondern habe sie von der Brücke aus mit Steinen beworfen, äußerte sich der Schülerrat: »Sollte Olaf zu den Steinewerfern gehört haben, spielt sicher auch seine persönliche Geschichte eine Rolle: Aufgewachsen im Erziehungsheim und kaputt gemacht von einer Gesellschaft, deren Unmenschlichkeit sich eben nicht nur in einem unverhältnismäßigen Polizeieinsatz widerspiegelt. Es gab sicher genug Gründe für seine Wut und Aggression.«
Trotz allem erklärte Innensenator Werner Staak den Polizeieinsatz zu einem vollen Erfolg, da es in Hamburg »kein zweites Bremen gegeben« habe. Im April 1983 stellte die Hamburger Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren im Zusammenhang mit dem Tod von Olaf Ritzmann ein, das nach der Anzeige des Ermittlungsausschusses eingeleitet worden war. Der Ausschuss hatte über 100 Zeugenaussagen gesammelt. Die Behörden kamen jedoch nach fast dreijährigen Ermittlungen zu dem Ergebnis, dass ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Polizeieinsatz im Bahnhofsgebäude und Olaf Ritzmanns Tod nicht bestanden habe: »Die gegen Polizeibeamte in diesem Zusammenhang erhobenen Vorwürfe sind unbegründet, zumindest aber nicht nachweisbar.«